Spinnenseide ist gemessen an ihrer Dicke fester als Stahl und dennoch hoch flexibel. Sie hält problemlos das Gewicht der Spinne und ihrer Beute, lässt sich mit Klebsekret ausstatten und sogar mit chemischen Waffen gegen Insekten oder Pilze. Auch gegen Bakterienbefall scheinen die Netze der Webspinnen weitgehend gefeit. Diese einzigartige Merkmalskombination macht Spinnseide zu einem auch für den Menschen attraktiven Material: Es könnte als Nahtmaterial in der Chirurgie dienen und auch als Beschichtung für Implantate. Denn wie Studien zeigen, provozieren Spinnseidenproteine nicht die Abwehrreaktion des Immunsystems und verringern zudem das Entzündungsrisiko. Doch herauszufinden, wie die Spinnen ihr maßgeschneidertes Allzweckmaterial produzieren und dieses im Labor nachzuvollziehen, ist nicht ganz einfach. Bisher war es Forschern erst gelungen, die Baupläne von gut einer Handvoll Spinnseidenproteine zu entschlüsseln. Das aber reicht bei weitem nicht aus, um alle gewünschten Seidenvarianten nachzubauen.
Überraschungen im Spinnengenom
Jetzt jedoch ist es Benjamin Voight von der University of Pennsylvania in Philadelphia und seinen Kollegen gelungen, erstmals das komplette Erbgut einer Webspinne zu entschlüsseln – und dies gleich bei der Meisterin unter den Webspinnen, der Goldenen Seidenspinne (Nephila clavipes). Sie produziert große Netze, deren Fäden sie je nach benötigter Funktion maßgeschneidert anpassen kann. Dafür nutzt sie 28 verschiedene Spinnseidenproteine – sogenannte Spidroine – und damit alle bisher überhaupt bei Webspinnen bekannten. Wie die Forscher berichten, umfasst das Genom der Seidenspinne rund 3,45 Millionen Basenpaare, von denen sie gut 94 Prozent nun sequenziert haben. Auf Basis ihrer Modelle und zusätzlicher RNA-Analysen schätzen sie, dass die Seidenspinne rund 14.000 proteinkodierende Gene besitzt. Unter diesen fahndeten die Forscher gezielt nach den Bauplänen für die Spinnseidenproteine.
Sie wurden fündig: Unter den Genen identifizierten die Wissenschaftler 28 Spidroin-Gene, darunter einige, die in keine der bisher bekannte sieben Klassen von Spinnseidenproteinen zu passen scheinen, wie sie berichten. Zudem entdeckten sie mindestens 400 kurze Sequenzen, die in diesen Genen wiederholt und jeweils mit kleineren Variationen auftreten. Voight und seine Kollegen vermuten, dass es sich um Bauplanteile handelt, die dem jeweiligen Spinnseidenprotein bestimmte Eigenschaften verleihen. Einige machen die Seide klebrig, andere verleihen ihr besonders Festigkeit oder Flexibilität. Diese Genmotive scheinen zudem modular organisiert zu sein: Sie sind in den verschiedenen Genen zu größeren Einheiten, sogenannten Cassetten und Ensembles kombiniert, wie die Forscher berichten. Sie stellten zu ihrer Überraschung auch fest, dass die verschiedenen Spinndrüsen der Spinne keineswegs auf die Produktion nur bestimmter Fädentypen spezialisiert sind, wie man es bisher angenommen hatte.
Informationen fürs Nachmachen
„Wir haben so viele Überraschungen entdeckt: Neue Seidengene, DNA-Sequenzen, die den Proteinen Stärke, Festigkeit, Zähigkeit, Dehnbarkeit und andere Eigenschaften verleihen und sogar ein Spinnseidenprotein, das nicht in den Spinndrüsen, sondern in den Giftdrüsen der Spinnen produziert wird“, berichtet Voight. „Die Spinnseidenproduktion ist demnach noch weitaus komplexer als wir es erwartet haben.“ Neben den Bauplänen für die Spinnseidenproteine entdeckten die Forscher auch 649 Gene, die wahrscheinlich an der Umwandlung der flüssigen Spinnseide in den festen Faden beteiligt sind. Dieser entscheidende Prozess gehört zu den Schritten der Seidenproduktion, die Ingenieure im Labor bisher nur in Ansätzen nachbilden konnten. Die neuen Informationen und genetischen Baupläne aus dem Erbgut der Goldenen Seidenspinne könnten die Erforschung und Erzeugung neuer Materialien auf Basis der Spinnseide nun entscheidend vorantreiben. „All diese Information hilft uns bei unseren Versuchen, die außergewöhnlichen Eigenschaften der Spinnseide in menschengemachte Materialien zu übertragen“, sagt Voight.