Plötzliche, zuckende Bewegungen, Grimassen, Ausrufe, zwanghaft wiederholte Worte oder Laute: Solche unwillkürlichen und nicht kontrollierbaren Ticks sind typisch für Menschen mit dem Tourette-Syndrom. Zwar fallen Stärke und Häufigkeit der Ticks sehr unterschiedlich aus, nach Schätzungen von Neurowissenschaftlern tritt das Syndrom aber vermutlich bei bis zu einem von hundert Menschen auft. Meist manifestieren sich die Ticks schon in der Kindheit und bleiben oft lebenslang. Eine Heilung gibt es bisher jedoch nicht – auch, weil die Ursachen und Mechanismen dieser Erkrankung bisher im Dunklen liegen. Vermutet wird, dass bei den Betroffenen eine Störung in den Basalganglien vorliegt – der Hirnregion, die unter anderem an der Kontrolle der Bewegungen beteiligt ist. „In der Klinik habe ich immer wieder die Frustration erlebt, unter der Patienten und Angehörige leiden, weil wir diese Krankheit bisher so wenig verstehen und unsere Behandlungsmöglichkeiten so begrenzt sind“, sagt Matthew State von der University of California in San Francisco. Zwar vermuten Forscher schon seit längerem, dass das Tourette Syndrom eine genetische Basis hat. Welche Gene beteiligt sind, ist allerdings nach wie vor unbekannt.
Um dies zu ändern, haben State und seine Kollegen eine groß angelegte Fahndung nach Genveränderungen bei Tourette-Patienten durchgeführt. Für ihre Studie analysierten sie das Erbgut von insgesamt 484 Kindern mit Tourette und das ihrer gesunden Eltern. Ziel war es dabei, nach sogenannte De Novo-Genvarianten zu suchen: Genveränderungen, die spontan im Erbgut der Kinder entstanden sind und möglicherweise für die Tourette-Störungen verantwortlich sein könnten. „Wir untersuchen gezielt De-Novo-Varianten, weil diese zwar selten sind, aber meist viel extremere Folgen haben als vererbte Mutationen“, erklärt Erstautor Jeremy Willsey von der University of California in San Francisco. „Sie können uns wertvolle Informationen über die Ursachen dieser Erkrankung liefern.“
Vier Risikogene – bisher
Die Forscher wurden fündig: Bei den Kindern mit Tourette Syndrom stießen sie auf rund 400 auffällige Genveränderungen. Nähere Analysen ergaben, dass ein Großteil dieser De-Novo-Varianten die Funktion von vier Genen beeinflusste. „In diesen vier Risikogenen haben wir zahlreiche De-Novo-Varianten bei nicht miteinander verwandten Probanden gefunden“, berichten die Wissenschaftler. Eines dieser Gene, WWC1 genannt, ist entscheidend an der Gehirnentwicklung, dem Gedächtnis und der Reaktion des Gehirns auf das Hormon Östrogen beteiligt. Wird seine Funktion gestört, liegt das Risiko bei rund 90 Prozent, dass der Betroffene ein Tourette Syndrom entwickelt, wie Willsey und seine Kollegen erklären. Bei den anderen drei Genen beziffern sie das Risiko auf immerhin noch 70 Prozent. Auch diese Gene sind an der Hirnentwicklung beteiligt. Die Forscher schätzen, dass rund zwölf Prozent aller Tourette-Fälle auf Genveränderungen in diesen und möglicherweise noch weiteren Genen zurückgehen könnten.
„Dies ist das erste Mal, dass wir für das Tourette Syndrom eindeutig eine genetische Ursache belegen können“, konstatiert Koautor Jay Tischfield von der Rutgers University. „Damit ähnelt es anderen neuropsychiatrischen Erkrankungen wie dem Autismus, die ebenfalls nicht nur auf ein einziges Gen als Ursache zurückgehen.“ Auch wenn die Ursachen damit eher komplex sind, sehen die Wissenschaftler in der Entdeckung der vier Risikogene einen wichtigen Fortschritt im Verständnis der Erkrankung, aber auch bei der Suche nach einem Heilmittel: „Wir sind zuversichtlich, dass diese neuen Informationen uns zu den genetischen und neurologischen Signalwegen führen werden, die diese Krankheit verursachen“, so Tischfield. „Dieses Wissen wiederum ermöglicht die Entwicklung effektiverer Therapien.“ Noch steht die Suche nach Ursachen und besseren Behandlungen ganz am Anfang. Doch für viele Patienten und ihre Angehörigen sei schon dieser Anfang ein wichtiger, Hoffnung machender Schritt, so die Forscher.