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Chips statt Mäuse

Allgemein

Chips statt Mäuse
Neue Forschungsmethoden in der Toxikologie versprechen, das Leiden von Millionen von Versuchstieren zu beenden.

„Mice lie“ (Mäuse lügen), seufzen Wissenschaftler, wenn sich Ergebnisse aus Versuchen mit den Nagern mal wieder nicht auf Menschen übertragen lassen. Erst im Januar dieses Jahres berichteten US-amerikanische Forscher, dass sich Erkenntnisse über Entzündungen, die an Mäusen gewonnen wurden, „eher selten“ beim Menschen bestätigen. Doch nicht nur Grundlagenforscher sind frustriert. Auch Toxikologen – Experten für die Giftigkeit von Substanzen – misstrauen der Vorhersagekraft von Tierexperimenten.

Zu viel Vertrauen in Tierversuche war auch die Ursache der bislang schlimmsten Medikamenten-Katastrophe: Contergan. Experimente mit Ratten und Mäusen hatten für einen nahezu nebenwirkungsfreien Stoff gesprochen. Daraufhin kam Contergan 1957 als rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel auf den Markt, empfohlen ausdrücklich auch für Schwangere.

Doch rund 10 000 Kinder weltweit kamen mit missgebildeten Gliedmaßen und Schäden an inneren Organen auf die Welt. Später stellte man fest, dass der Contergan-Wirkstoff Thalidomid außer bei Menschen nur bei wenigen Kaninchenrassen und Affen das ungeborene Leben schädigt. Mit Ratten und Mäusen konnte die Gefahr also gar nicht erkannt werden.

Nach der Contergan-Katastrophe mussten die Hersteller eines neuen Medikaments auch schwangere Tiere und ihren Nachwuchs in die Versuchsreihen aufnehmen. Damit war die jahrzehntelange Fahrtrichtung vorgegeben: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Toxikologie führten zu zusätzlichen Tierversuchen. Für den renommierten Toxikologen Horst Spielmann war das eine Sackgasse: „ Dieser Ansatz führte zu einem Test-System, das langatmig und teuer ist und viele Tiere verbraucht.“

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Superaspirin löst Herzinfarkt aus

Die intensiveren Prüfungen vor der Zulassung konnten neue Vorfälle nicht einmal verhindern. Ein großer Skandal war 2004 der Rückruf des Medikaments Vioxx. Das vermeintliche „Superaspirin“ gegen Schmerzen und Rheuma löste bei vielen Menschen mit einer speziellen genetischen Veranlagung Herzinfarkte und Schlaganfälle aus. „Bis heute werden die individuellen Unterschiede der Gene in den Studien vor der Zulassung eines Medikaments kaum berücksichtigt“, sagt Uwe Marx, der an der TU Berlin Ersatzmethoden zu Tierversuchen erforscht.

Die amerikanische Gesundheitsbehörde National Institutes of Health bezifferte 2012 die Fehlschläge. Demnach haben sich mehr als ein Drittel der vielversprechenden Arzneimittel-Kandidaten bei Prüfungen an Menschen als unbrauchbar oder sogar als gefährlich erwiesen – trotz erfolgreich verlaufener Vorstudien an Tieren. Selbst bei Tests an Menschen können – wie im Fall Vioxx – gravierende Risiken verborgen bleiben. Eine kanadische Studie zeigte auf, dass bei einem Viertel der von 1995 bis 2010 zugelassenen Wirkstoffe im Nachhinein schwere Sicherheitsbedenken auftraten.

Neue Medikamente sind also nicht unbedingt sicherer. Hauptgrund: Viele der toxikologischen Methoden, mit denen das abgeschätzt wird, haben sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Unsichere Vorhersagen, das Leid der Tiere und enorme Kosten – für Spielmann Grund genug, ein Ende zu fordern. Spätestens 2050 sollen laut dem Toxikologen und Tierschützer keine Tiere mehr leiden müssen, um zu prüfen, ob ein Stoff giftig ist.

Spielmann leitet seit drei Jahren für die Europäische Kommission das Programm AXLR8 – ausgesprochen wie das englische Wort „accelerate“ (beschleunigen). Dabei geht es um die raschere Umsetzung neuer Methoden zur besseren Risikoabschätzung. „Auf meine Initiative hin hat das deutsche Forschungsministerium ein neues Förderprogramm auf den Weg gebracht, das dem Ansatz von AXLR8 entspricht“, berichtet Spielmann, der seit wenigen Monaten Landestierschutzbeauftragter von Berlin ist. Beim Kontakt mit schädlichen Substanzen aktivieren Zellen bestimmte Soffwechselwege. AXLR8 fördert Projekte, die solche Prozesse untersuchen. „Das Ziel ist, die toxische Wirkung von Chemikalien mithilfe von Zellkulturen auf molekularer Ebene aufzudecken.“

Nach Amerika sei nun endlich auch Europa aufgewacht, sagt Spielmann. In den Vereinigten Staaten gilt eine Toxikologie ohne Tierversuche als Frage von nationalem Interesse. Margaret Hamburg, Kommissions-Mitglied der US-Arzneimittelbehörde FDA, betont in einem Leitartikel der Zeitschrift Science: „Die FDA arbeitet daran, Tierversuche eines Tages durch eine Kombination von In-silico- und In-vitro-Ansätzen zu ersetzen.“ Das heißt: Computermodelle und Zellkulturen sollen die neuen Versuchskaninchen sein.

Kein tierleid für Kosmetika

Einen Meilenstein haben Tierversuchs-gegner bereits erreicht: Seit 11. März 2013 ist in der Europäischen Union der Verkauf von Kosmetika verboten, die an Tieren getestet wurden. Nun schlägt die Stunde der künstlichen Hautmodelle. Zur Entwicklung der „ künstlichen menschlichen Haut“ hat auch der 71- jährige Spielmann beigetragen. Der vielfach ausgezeichnete Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin entwickelte etliche molekularbiologische und computergestützte Methoden, die Verträglichkeitsprüfungen an menschlichen Zellen ermöglichen. Zum Beispiel zeigt sein Phototoxizitätstest, der völlig ohne Tierversuche auskommt, ob Substanzen unter Lichteinwirkung schädlich werden. Inzwischen ist dieser Test in Europa, den USA und Japan in der Arzneimittelprüfung zwingend vorgeschrieben.

Eine seiner Forschungsarbeiten liegt Spielmann besonders am Herzen: „Ich bin stolz darauf, dass ich vor etwa 25 Jahren die Idee hatte, mit embryonalen Stammzellen der Maus einen Test auf embryotoxische Eigenschaften zu entwickeln, für den man keine schwangeren Tiere braucht.“ Spielmanns Pionierarbeit führte mit dazu, dass sich die Zahl der Tierversuche in der Toxikologie seit 1989 in Deutschland halbiert hat (siehe Kasten S. 32).

Viele Wege könnten in eine Zukunft ohne Tierversuche münden. Auch Joachim Wegener arbeitet an innovativen Zellkultur-Tests. Der Regensburger Professor für Analytische Chemie, Chemo- und Biosensorik tüftelt gemeinsam mit Kollegen der Hochschule Jena an einem scheckkartengroßen Zellkultur-Chip, in dem winzige Flüssigkeitsmengen durch Kanäle fließen. Der derzeitige Prototyp ist von Hautzellen besiedelt.

Gifttest mit Zellen auf Gold

Das Prinzip des sogenannten Mikrofluidic-Chip ist einfach: Wirkt die Flüssigkeit toxisch, ziehen sich die Zellen zusammen. „ Weil die Zellen auf einem hauchdünnen Goldfilm wachsen, kann ein winziger Strom durch den Chip fließen“, erklärt Wegener. Elektroden messen diesen Stromfluss und erfassen dadurch sofort kleinste Änderungen der Form – auch durch Gifte geschrumpfte Zellen. Die Methode ist weit empfindlicher als die Beobachtung mit dem Mikroskop.

Und die Forscher konnten die Aussagekraft des Chips noch verbessern: Sie pflanzten einen fluoreszierenden Marker in die Zellen ein. Mithilfe von Gentechnik wurde ein Quallen-Gen so platziert, dass bei Stress ein grün leuchtendes Protein entsteht. Durch Messen der Leuchtstärke lässt sich ermitteln, in welchem Ausmaß ein Gift den Zellen zusetzt. Der Test bringt einige Vorteile: „Die Zellen merken von der Messung nichts. Er ist nicht invasiv und wir können über Stunden, Tage oder Wochen beobachten.“

Das ist wichtig, denn manche Gifte wirken sofort, andere schleichend. Bei den derzeit üblichen Kultur-Tests muss man die Zellen nach sechs Stunden, zwölf Stunden, einem oder drei Tagen töten und untersuchen. „Bei solchen Untersuchungen benötigt man parallel an die 20 Petrischalen“, beschreibt der Chemiker die aufwendige Prozedur. Und weil gleich drei Kanäle den Chip durchziehen, können drei Substanzen gleichzeitig überprüft werden. Der Zeitgewinn und die mögliche Automatisierung machen den Mikrofluidic-Chip zu einem aussichtsreichen Kandidaten für eine breite Anwendung. Zusammen mit Partnern aus der Industrie entwickeln die Wissenschaftler zurzeit einen Prototyp, der alle Schritte des Tests selbstständig durchführt, einschließlich der automatisierten Datenanalyse.

Bislang haben die Forscher um Joachim Wegener nur Pflanzenextrakte und Kosmetika, die häufig zu Hautirritationen führen, per Mikrofluidic-Chip überprüft. Doch der Chip könnte auch mit anderen Zellarten bestückt werden, um die Wirkung von Chemikalien beispielsweise auf Leber-, Nieren- oder Herzzellen zu testen. Der Test sei „ganz leicht adaptierbar“, betont Wegener.

erschaffung des mikromenschen

Allerdings können Tests an Zellkulturen nicht klären, wie ein ganzer Organismus reagiert. Mitunter werden Substanzen erst im Körper zu Giften verstoffwechselt – etwa Methanol, das in der Leber zu giftigem Formaldehyd wird. Andererseits zerstört die Leber viele schädliche Stoffe, bevor sie Unheil anrichten können. Daher kam Uwe Marx und seinen Mitstreitern die kühne Idee, „ Menschen auf einem Chip“ zu bauen (Grafik S. 29). Indem sie verschiedene Organgewebe miteinander kombinieren, wollen sie einen „Mikromenschen“ erschaffen – um den Faktor 100 000 kleiner als ein echter Mensch.

„Vor drei Jahren sagten viele, ihr seid ja total verrückt“, erinnert sich Marx. Doch der Mediziner hielt an der Vision des „ Multi-Organ-Chip“ fest – und gewann schließlich Geldgeber. In der Firma TissUse und an der TU Berlin konstruierte Marx einen ersten Prototyp mit zwei Organen. Auf einem Areal, das so groß ist wie der Chip eines Smartphones, gelang es dem Team, 28 Tage lang ein Duo aus Haut- und Leberzellen am Leben zu erhalten. Das war im Februar dieses Jahres der erste Beweis, dass ein Chip mit Zellen verschiedener Organe möglich ist. Es gelang, den Zufluss von Nährstoffen und den Abtransport von Abfallstoffen so zu steuern, dass sich ein dynamisches Gleichgewicht einstellte. Diese sogenannte Organhomöostase lässt die Zellen über lange Zeit wachsen und gedeihen, im Gegensatz zu statischen Kulturen ohne Zu- und Abfluss, in denen etwa Hautzellen schon nach wenigen Tagen absterben.

Langlebigkeit ist bei Zellkulturen ein enorm wichtiger Faktor: Stoffe wie Asbest oder Dioxin sind auch durch die permanente Zufuhr geringster Mengen schädlich. Bei der Prüfung, ob eine Substanz chronisch giftig ist, müssen Versuchstiere deshalb manchmal ein ganzes Jahr lang unter Beobachtung stehen. „Und da wir die Tierversuche unbedingt ersetzen wollen, müssen wir mindestens so gut sein“, betont Marx.

WETTRENNEN UM DEN BESTEN CHIP

Die Deutschen sind Vorreiter bei der Entwicklung von Multi-Organ-Chips. Doch die Amerikaner sind ihnen dicht auf den Fersen. Im vergangenen Jahr startete in den USA das Forschungsprogramm „Human Body On A Chip“ (Mensch auf einem Chip). In den nächsten fünf Jahren stellt die US-Regierung dafür mehr als 70 Millionen US-Dollar bereit.

Die Wissenschaftler wollen eine Plattform konstruieren, auf der bis zu zehn verschiedene Zell-Module menschliche Organe und Systeme nachahmen: Lunge, Herz, Immunsystem, Leber, Niere, Magen-Darmtrakt, Fortpflanzungsorgane, Blutkreislauf, Nervensystem und Haut. „Ein Wettlauf zwischen der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology hat begonnen“, berichtet Marx. Auch das US-Verteidigungsministerium beteiligt sich. Der „Mensch auf einem Chip“ gilt als eine Frage von nationalem und militärischem Interesse.

Auch die deutschen Arbeitsgruppen planen einen Chip mit zehn bis elf Miniorganen – die seien nötig, um einen Menschen darzustellen, sagt Marx. Aktuell arbeite man daran, dass echte Blutgefäße den Gewebe-Chip durchziehen. Pionierarbeit leistet hier Heike Walles vom Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik. Der Wissenschaftlerin ist es bereits gelungen, ein Gerüst mit Endothelzellen zu besiedeln. Solche Zellen bilden die innere Wandschicht in Blutgefäßen. „Nun müssen noch Kapillaren in die Gewebe hineinsprießen“, nennt Marx den nächsten Schritt. So könnte statt Nährmedium in Zukunft Blut fließen.

SIMULIERTE LEBER

Einen Blutkreislauf einzubauen steht auch im Fokus der Entwicklungsarbeit der Stuttgarter Firma Insilico Biotechnology. Allerdings arbeiten die Wissenschaftler dort nicht an Chips mit Zellen, sondern an Computermodellen, die Organe simulieren. Bei der Leber ist ihnen das bereits gelungen. Die virtuelle Leber kann Geschlecht, Alter, Gewicht und genetisch bedingte – und damit individuell verschiedene Abbauwege für Gifte – nachahmen. Auf diese Weise lassen sich für verschiedene Patientengruppen individuelle Aussagen über zeit- und dosisabhängige Wirkungen gewinnen. Mittelfristig plant die Firma ein virtuelles „ Ganzkörpermodell“: ein modulares System, bei dem die Leber von Herz und Niere ergänzt wird.

SELtENE NEBENWIRKUNG ERKENNEN

Der Mensch auf einem Zellkulturchip oder als Computermodell erlaubt also, die Wirkung von Substanzen auf bestimmte Patienten ganz gezielt zu untersuchen. „Man kann einen einzelnen Menschen, einen Kranken oder eine Schwangere simulieren“, erklärt Marx. Insbesondere können die neuen Risiko-Analysen die Bandbreite der menschlichen Gen-Variationen einbeziehen. Dadurch könnte man auch seltene Nebenwirkungen – wie im Falle Vioxx – schon vor der Markteinführung eines neuen Medikaments erkennen.

Und die winzigen Organ-Kulturen auf Chips haben einen weiteren Vorteil gegenüber Versuchen an Tieren: „Wir sehen sofort, wenn etwas schiefläuft, denn mit einem Lichtmikroskop kommt man direkt an jedes Mini-Organ heran“, betont Marx. Das weckt die Hoffnung, dass auch in der Grundlagenforschung das Tier als Modell-Organismus mehr und mehr verschwindet. a

Diplom-Biologin und Wissenschaftsjournalistin ULRIKE ROLL findet, gerade Biologen sollten Lobbyisten für Tiere sein.

von Ulrike Roll

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