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„Ich essen Eis“

Allgemein

„Ich essen Eis“
Sprachförderung für Migrantenkinder gehört zum guten Ton. Doch sie trägt oft dazu bei, dass Wortschatz und Grammatik nicht optimal gelernt werden.

Die PISA-Studie von 2000 war ein Schock. Im internationalen Bildungsvergleich befand sich Deutschland nur im unteren Mittelfeld. Besonders miserabel schnitten Schüler aus eingewanderten Familien und mit niedrigem Sozialstatus ab. Ein schlechtes Zeugnis für einen Exportweltmeister. Das konnten Bildungspolitiker nicht auf sich sitzen lassen. Mehr und mehr Kindertagesstätten und Schulen boten in der Folge Sprachförderung an.

Sie sei inzwischen zum Volkssport geworden, sagt Rosemarie Tracy, Linguistin an der Universität Mannheim. „Es gibt niemanden, der nicht fördert, irgendwie und oft auch sehr liebevoll. Aber die meisten wissen nicht, was sie tun“, kritisiert sie. Mit einem Crashkurs sei es nicht getan. Wer Deutsch als Zweitsprache unterrichtet, muss über den natürlichen Erwerb des Deutschen bei mehrsprachigen Kindern Bescheid wissen. Sonst behalten die Kinder falsche grammatische Strukturen bei und ihr Wortschatz bleibt dürftig.

2010 berichtete beispielsweise Elke Montanari, Professorin für Deutsch als Zweitsprache an der Universität Hildesheim, dass die meisten von 17 Kindern nach einer unspezifischen Sprachförderung von zehn Monaten die Artikel „der“, „die“ und „das“ weiterhin nicht richtig zuordnen konnten.

In deutschen Kindertagesstätten ist es Alltag, dass „die Erzieherinnen in einfachen Sätzen sprechen, etwa ‚Alle die Schuhe anziehen‘, damit die Kinder sie besser verstehen“, weiß Sprachwissenschaftlerin Gisella Ferraresi von der Universität Bamberg. Eine fatale Verknappung: „Kinder lernen intuitiv und induktiv am besten, wenn ihnen die Vielfalt der Sprache angeboten wird“, sagt Tracy.

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Sie hat deshalb das Konzept „Sprache macht stark“ entwickelt, das den Kindern einen großen Wortschatz und eine reiche Grammatik zumutet und sie so quasi einem „Sprachbad“ unterzieht. Seit 2008 fördern über 80 Tagesstätten ihre Migrantenkinder in kleinen Gruppen nach diesem Modell. Statt „Schuhe anziehen“ sagen die Erzieherinnen: „Bitte alle mal die Schuhe anziehen. Ahmed, ziehst du sie dir auch an. Ich habe meine doch auch schon angezogen“, erläutert Tracy.

Der Clou dabei: Das Verb „anziehen“ taucht mal zu Beginn und mal am Ende des Satzes auf, und das Auslassen und Verweisen auf das Nomen „Schuhe“, wie es in der gesprochenen Sprache üblich ist, bekommt das Kind ebenfalls zu hören.

Eine zweite Gruppe um Linguistin Erika Kaltenbacher von der Universität Heidelberg propagiert dagegen eine „regulierte Sprachdusche“. Seit 2008 haben über 500 Kinder vor allem im südwestdeutschen Raum ihr Förderprogramm „Deutsch für den Schulstart“ durchlaufen. Die Erzieher dosieren im Spiel die Grammatik gezielt so, dass der natürliche Lernprozess unterstützt wird.

Deutsch wird anders gelernt

Lange war kaum bekannt, wie Migrantenkinder Deutsch lernen. Kaltenbachers Team hat daher in den letzten Jahren die Sprache Dutzender ausländischer Kinder analysiert. Die wichtigste Erkenntnis: Sie erwerben das Deutsche anders als Einheimische, und war abhängig von ihrem Alter und ihrer Muttersprache. Deutsche Kinder konstruieren Sätze zunächst in der Reihenfolge Objekt – Verb. Ein Beispiel ist „Eis essen“ oder „Ich Eis essen“ statt „Ich esse ein Eis“. „Aber ein Kind, das bis zum fünften Lebensjahr mit Russisch aufgewachsen ist“, weiß Kaltenbachers Kollege Giulio Pagonis, „sagt ‚ich essen Eis‘, weil in seiner Muttersprache das Verb vor dem Objekt kommt.“

Das Verb kann im Deutschen aber auch am Ende des Satzes auftauchen, nämlich in Kombination mit Hilfsverben oder in der Vergangenheitsform. Das zu lernen, fällt russischen Kindern schwer. Im Programm „Deutsch für den Schulstart“ bekommen sie vor allem Sätze zu hören, in denen das Verb am Schluss auftaucht, etwa „Papa, ich möchte endlich mein Eis essen“.

Doch zuvor müssen die Erzieherinnen erkennen, wo ein Kind im Deutschen steht. Sie müssen wissen, dass russische und auch türkische Kinder zunächst nur einen Artikel gebrauchen und beispielsweise sagen: „Die“ Mama wäscht „die“ Auto. Danach verwenden sie den männlichen Artikel und stellen ihn dem Subjekt voran: „Der“ Mama wäscht „die“ Auto. „Das ist ein wichtiger Lernfortschritt“, erklärt Pagonis.

Rosemarie Tracy hat 2010 einen Test entwickelt, der die Sprachkenntnisse von Migrantenkindern mit Rücksicht auf solche Besonderheiten erfasst. Ausgefeilt wurde er mithilfe von 1000 Kindern, davon knapp 700 mit Deutsch als Zweitsprache. Mit einer modifizierten Variante des Tests, dem „SprachKoPF“, lässt sich prüfen, ob Erzieherinnen beurteilen können, in welchem Stadium des Lernens ein Kind steckt. Tracy hat ihn an 600 Erzieherinnen erprobt. Das ernüchternde Ergebnis: „Sie wussten im Schnitt nur die Hälfte von dem, was für eine effiziente Förderung sinnvoll ist.“

Keinen Rotstift ansetzen

Der Leidensdruck bei Lehrern und Erziehern ist groß. Sie können oft nicht in althergebrachter Manier unterrichten, weil viele Kinder des Deutschen nicht mächtig sind. In den westlichen Bundesländern stammt die Hälfte der Grundschulkinder aus eingewanderten Familien. Doch die Sprachforscher meinen, dass die Pädagogen zu hohe Erwartungen haben. „Sie sehen nur die Defizite der Kinder“, findet Montanari. „Wenn ein Kind sagt ‚Ich Buch lesen‘, ist das für einen Anfänger nicht schlecht. Wenn er nach ein paar Monaten sagt ‚Ich hoffe, wir werden morgen lesen ein Buch‘, ist das grandios, da das Kind bereits Haupt- und Nebensatz verwendet. Der Rotstift wäre völlig falsch.“

„Auch in Zukunft werden in Deutschland viele nicht akzentfrei und frei von Fehlern sprechen“, sagt Matthias Jung, Vorsitzender des Verbands Deutsch als Fremdsprache. „Doch das ist originell und gibt dem Deutschen eine Klangfarbe.“ Er und andere Forscher werben um Verständnis für die Spracherosion und vermitteln zugleich Handwerkszeug, um sie zu begrenzen. Im Rahmen der Förderkonzepte „Sprache macht stark“ und „Deutsch für den Schulstart“ vermitteln sie Lehrern und Erziehern, wie ausländische Kinder das Deutsche erwerben und wie ihnen die Lehrkräfte dabei helfen können.

Schon Kleinigkeiten bewirken viel. Einsprachige Kinder erfassen Sprache in einem atemberaubenden Tempo – eine Gabe des menschlichen Geistes, die die Kognitionsforschung noch vor Rätsel stellt. Mehrsprachige Kinder benötigen weitaus mehr Zeit. Deshalb sollten Lehrer betont langsam sprechen.

Gedichte und Lieder kommen Kindern aus eingewanderten Familien nicht zu Gute, wenn Satzbau und Grammatik darin von der Norm abweichen. Ein Beispiel: „Wer will guten Kuchen backen, der muss haben sieben Sachen.“ Tracy warnt: „Ein Kind mit einer anderen Muttersprache zieht daraus Fehlschlüsse. Aber natürlich haut ein sporadisches ‚Hänschen klein‘ niemanden um.“

Auch die Familien sind gefordert: Sie sollten ihre Kinder so früh wie möglich in eine Kindertagesstätte geben, weil die Kleinen umso besser Deutsch lernen, je früher und intensiver sie damit in Kontakt kommen. Ein Problem ist, dass es in vielen Städten regelrechte „Ausländerbezirke“ gibt. In den Kitas dort schallt gebrochenes Deutsch durch die Räume, ein Hemmnis für die Sprachentwicklung.

Methodenstreit der Experten

Wenn die Eltern Deutsch nur radebrechen, haben die Kinder besonders große Sprachprobleme, fand Montanari heraus. Denn aus dem fehlerhaften Deutsch leiten die Kinder eine falsche Grammatik ab. Deshalb fordern alle Forscher, dass die Eltern mit ihren Kindern jene Sprache sprechen, die sie selbst am besten beherrschen.

So sehr die Forscher darauf drängen, die Sprachförderung zu modernisieren, so schwach ist ihre Hoffnung: „Eine enge Zusammenarbeit zwischen linguistischer und didaktischer Forschung ist die Ausnahme“, beklagt Pagonis. Stefanie Haberzettl, Professorin für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Hochschule des Saarlandes, moniert, dass sich beide Disziplinen völlig disparat entwickeln.

Das mag auch an einer ersten Evaluation des Programms „Deutsch für den Schulstart“ liegen: 2009 veröffentlichten Jeanette Roos und Hermann Schöler von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg einen Vergleich dieses Programms mit zwei anderen Förderansätzen. Danach war es für den Fortschritt der Kinder egal, nach welcher Methode die Erzieherinnen vorgingen.

Doch Pagonis wettert: „Diese Evaluation ist das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.“ Die Kinder wurden nach einem Jahr Förderung einem Sprachtest unterzogen, der auf einsprachige einheimische Kinder gemünzt ist. „Ein Satz lautet: ,Der Teppich wird von dem Vater ausgeklopft‘. Wenn türkische Kinder das nach einem Jahr nicht besser nachsprechen können, heißt es: nichts gelernt. Das ist fahrlässig.“

Erika Kaltenbacher dokumentiert alle zwei Jahre den Fortschritt ihres Programms. Bei den einbezogenen Kindertagesstätten lag der Anteil mehrsprachiger Kinder zwischen 40 und 90 Prozent. Alle Kinder hatten bei der letzten Dokumentation in Wortschatz und Grammatik deutlich zugelegt, zum Beispiel beim Gebrauch des natürlichen Geschlechts – „der“ Mann und „die“ Frau. Trotzdem kommt Kaltenbacher zu dem Schluss, dass eine einjährige Förderung nicht genügt, um für die Schule gewappnet zu sein. „Von dieser überzogenen Erwartung müssen wir uns verabschieden“, sagt auch Pagonis. „Man braucht eine durchgängige Sprachförderung.“ In der Praxis ist das noch nicht angekommen. ■

SUSANNE DONNER hört seit den Recherchen für diesen Beitrag genau hin, wenn jemand gebrochenes Deutsch spricht.

von Susanne Donner (Text) und Hubert Warter (Illustrationen)

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