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Entstand der älteste Vormensch in Europa?

Geschichte|Archäologie

Entstand der älteste Vormensch in Europa?
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Unterkiefer des 7,175 Millionen Jahre alten Graecopithecus freybergi aus Griechenland (Foto: Wolfgang Gerber/ Universität Tübingen)
Bisher schien klar: Die Wiege der Menschheit stand in Afrika. Dort entstand der gängigen Theorie zufolge vor gut sieben Millionen Jahren der erste Vormensch und die Stammeslinien von Menschenaffe und Mensch trennten sich. Doch Tübinger Forscher präsentieren nun ein ganz anderes Szenario. Demnach könnte der erste Vormensch im östlichen Mittelmeerraum entstanden sein – und damit in Europa. Indizien dafür liefern in Griechenland und Bulgarien entdeckte Fossilien eines 7,2 Millionen Jahre alten Hominiden. Seine Merkmale sprechen nach Ansicht der Forscher dafür, dass der Graecopithecus freybergi bereits ein Vormensch war.

Der Schimpanse ist heute der nächste Verwandte des Menschen – wir teilen einen gemeinsamen Vorfahren. Wann dieser jedoch lebte, ist bislang nur in Teilen geklärt und strittig. Genetische Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich die Linien von Menschenaffe und Mensch vor etwa fünf bis sieben Millionen Jahren trennten. Einer Theorie nach könnte eine Klimaveränderung in Ostafrika der Auslöser dafür gewesen sein: Als sich die Waldlandschaft allmählich in eine offene Savanne umwandelte, passten sich unsere Vorfahren daran an und die erste Vormenschenart entstand. Allerdings sind Fossilfunde aus dieser entscheidenden Übergangszeit rar und teilweise in ihrer Datierung umstritten. Kandidaten für frühe afrikanische Vormenschen sind der Ardipithecus kadabba aus der Zeit vor rund 5,2 bis 5,8 Millionen Jahren und der rund sechs Millionen Jahre alte Orrorin tugenensis, die beide schon aufrecht gegangen sein könnten. Der auf ein Alter von sechs bis sieben Millionen Jahre datierte Sahelanthropus tchadensis weist einige Zahnmerkmale auf, die für frühe Vormenschen charakteristisch gewesen sein könnten. Allen gängigen Theorien ist gemeinsam, dass sie die Entstehung der ersten Vormenschen in Afrika verorten – der Wiege der Menschheit.

Fund auf dem Balkan

Ein revolutionär anderes Szenario stellen nun jedoch Jochen Fuss von der Universität Tübingen und seine Kollegen vor: Sie verorten den entscheidenden Schritt vom gemeinsamen Vorfahren von Schimpanse und Mensch zum ersten Vormenschen im östlichen Mittelmeerraum – und damit in Europa statt in Afrika. Ausgangspunkt für ihre Theorie sind Fossilfunde des Graecopithecus freybergi. Von diesem bisher auf ein Alter von sechs bis sieben Millionen Jahren datierten Hominiden wurde in Griechenland ein Unterkiefer gefunden und ein Zahn in Bulgarien. Bisher war unklar, ob es sich hier um einen Noch-Affen oder schon um einen frühen Vormenschen gehandelt hat.

Nun jedoch haben die Forscher per Computertomografie die Zahnwurzeln dieser Fossilien genauer untersucht und dabei entscheidende Hinweise auf ihre Zugehörigkeit zu den Vormenschen gefunden. Während Menschenaffen üblicherweise zwei oder drei getrennte Zahnwurzeln besitzen, gilt die Verschmelzung der Wurzeln eines Zahns als charakteristisches Merkmal von Vormenschen und Menschen. Zudem wies der von den Wissenschaftlern ‚El Graeco‘ getaufte Unterkiefer weitere Merkmale an Zahnwurzeln auf, die nach ihrer Einschätzung darauf hindeuten, dass es sich bei Graecopithecus um einen Vertreter der Vormenschen handeln könnte. „Wir waren von unseren Ergebnissen selbst überrascht, denn bislang waren Vormenschen ausschließlich aus Afrika südlich der Sahara bekannt“, erklärt Fuss.

Datierungen ergaben zudem, dass Graecopithecus mehrere hunderttausend Jahre älter sein könnte als der bisher früheste potenzielle Vormensch Afrikas, der Sahelanthropus aus dem Tschad: Das Forscherteam konnte die sedimentären Abfolgen an beiden Fundstellen in Griechenland und Bulgarien mit physikalischen Methoden auf ein Alter von 7,24 beziehungsweise 7,175 Millionen Jahren datieren. Das bedeutet, dass schon zu dieser Zeit eine Vormenschenart auf dem Balkan lebte – möglicherweise sogar die erste Vormenschenart überhaupt: „Wenn sich sein Status als Hominine durch weitere Fossilfunde bestätigt, dann wäre Graecopithecus der älteste bekannte Vormensch überhaupt“, konstatieren die Forscher. „Mit dieser Datierung lässt sich die Trennung der Vormenschen- und der Schimpansenlinie in den östlichen Mittelmeerraum verlegen“, ergänzt Arbeitsgruppenleiterin Madelaine Böhme von der Universität Tübingen. Sie und ihre Kollegen halten es demnach für durchaus möglich, dass der entscheidende Schritt zur Menschwerdung nicht in Afrika, sondern in Europa stattgefunden hat.

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Klimawandel als Auslöser?

Zu dem gewagten Szenario könnte passen, dass es auch im Mittelmeerraum und in Nordafrika um die damalige Zeit einen drastischen Klimawandel gegeben hat. Dieser könnte als Auslöser für die Entstehung des Graecopithecus und damit des möglicherweise ersten Vormenschen gewirkt haben. „Dies war der Beginn des sogenannten Messinium, an dessen Ende es zur Austrocknung des Mittelmeeres kam“, erklärt Böhme. Sedimentanalysen belegen, dass ein trockenes Klima in Nordafrika gleichzeitig die Sahara entstehen ließ. „Diese Daten könnten erstmalig eine Sahara belegen, die sich vor 7,2 Millionen Jahren ausbreitete und deren Wüstenstürme rote, salzhaltige Stäube bis an die Nordküste des damaligen Mittelmeeres bliesen“, sagt Böhme. Winzige Pflanzenreste, sogenannte Phytolithe, in den Sedimenten an den Graecopithecus-Fundstellen deuten zudem darauf hin, dass sich damals auch in Europa eine Savannenlandschaft ausgebildet haben muss. „Die Phytolithe zeigten Spuren starker Trockenheit, die Holzkohle-Untersuchungen weisen auf wiederkehrende Brände hin“, berichtet Koautor Nikolai Spassov vom bulgarischen Nationalmuseum für Naturkunde in Sofia. „Zusammengenommen lässt sich das Bild einer Savanne zeichnen. Dazu passt, dass gemeinsam mit Graecopithecus Fossilien von Vorfahren der heutigen Giraffen, Gazellen, Antilopen und Nashörner gefunden wurden.“

Ob das von den Forschern als „North Side Story“ bezeichnete Szenario sich bewahrheitet, bleibt abzuwarten. In jedem Fall belegt der Fund des Graecopithecus, dass die Menschheitsgeschichte deutlich komplexer ist als lange angenommen – und dass wir gerade erst beginnen, sie zu enträtseln.

Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
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