Im April 2017 berichtete das ARD-Magazin „Plusminus“ über den Einsatz des Schmerzmittels Methadon in der Krebstherapie – und löste eine Flut von Reaktionen aus. Denn im Beitrag wurde berichtet, dass das Opioid hartnäckige Hirntumore anfälliger für eine Chemotherapie machen und damit den Erfolg einer Krebsbehandlung deutlich erhöhen kann. Doch was steckt dahinter? Die Geschichte geht auf eine Beobachtung von Claudia Friesen von der Universität Ulm aus dem Jahr 2008 zurück. Damals hatte sie festgestellt, dass Zellen verschiedener Krebsformen schnell und vollständig absterben, wenn die Zellkulturen zusätzlich zu einem Chemotherapeutikum mit Methadon versetzt werden. Das Methadon führte dazu, dass die Tumorzellen bei Kontakt mit dem Zellgift ihr Selbstmordprogramm aktivierten und abstarben – selbst bei den Zelllinien die auf das Chemotherapeutikum allein schon nicht mehr ansprachen. Auch in Tierversuchen ließ sich diese Wirkung nachweisen.
Das Problem dabei: Vielversprechende Ergebnisse aus Tierversuchen lassen sich nicht so einfach auf den Menschen übertragen. Ob ein Mittel auch bei uns wirkt, müssen erst klinische Studien klären. Bei diesen werden die entsprechenden Substanzen den Patienten unter kontrollierten Bedingungen verabreicht und mit einer vergleichbaren Gabe konventioneller Mittel verglichen. Doch diese Studien gibt es bisher für Methadon gegen Krebstumore nicht. Ein möglicher Grund wird in der ARD-Dokumentation genannt: Viele klinische Studien sind nur durch Drittmittel von Pharmakonzernen finanzierbar. Weil Methadon aber schon lange zugelassen und sehr billig ist, haben viele Pharmakonzerne an einer Finanzierung von klinischen Studien zu Methadon kein Interesse – sie verdienen an diesem Mittel nichts. Hinzu kommt: Viele Firmen verkaufen spezielle, oft teure Schmerzmittel für Krebspatienten, denen ein verbreiteter Einsatz von Methadon Konkurrenz machen würde.
Positive Fallbeispiele
Um zumindest erste Daten für die positive Wirkung von Methadon in der Krebstherapie zu sammeln, hat Friesen zusammen mit Kollegen 27 Fälle recherchiert, bei denen Patienten mit einem Gliom, einer häufigen Form des Hirntumors, während ihrer Chemotherapie mit Methadon behandelt wurden – nicht als Zusatz-Therapie, sondern als Mittel gegen Schmerzen. Die Auswertung der Daten ergab, dass Methadon von den Patienten gut vertragen wurde. Zudem gab es Hinweise darauf, dass die Wiederkehrwahrscheinlichkeit der Tumore durch die Methadongabe verringert war. „Das sieht man bei den Patienten, die nach dieser Behandlung dastehen und plötzlich gar keinen Tumor mehr haben – und vorher sind unter der gleichen Krebstherapie der Tumor und die Metastasen drastisch gewachsen“, berichtet Friesen in der Fernsehdokumentation.
Allerdings: Bei dieser Studie handelt es sich um eine Sammlung von Einzelfällen, nicht um eine klinische Studie, wie auch Friesen betont: „Verlässliche klinische Daten über einen nachweisbaren Antitumor-Effekt von Methadon bei Gliompatienten fehlen noch immer“, so die Forscherin. Es seien daher dringend randomisierte, kontrollierte klinische Studien nötig. Denn in den von ihr untersuchten Fallbeispielen hatten die Patienten Gliome in unterschiedlichen Stadien, bekamen teilweise verschiedenen Chemotherapien und auch ein direkter Vergleich mit einer Kontrollgruppe fehlte. „Bei den dargestellten Krankheitsbildern ist daher unklar, ob die günstigen Therapieverläufe zwingend auf die Methadon-Einnahme zurückzuführen sind“, kommentierte auch die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) in einer Stellungnahme. Auch Friesen selbst warnt: „Momentan sollte eine Methadon-Verschreibung nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn es weitere Indikationen dafür gibt“, so die Forscherin. Eine solche Indikation bestünde beispielsweise dann, wenn andere Opioide als Schmerzmittel gegen den Tumorschmerz nicht wirken oder zu starke Nebenwirkungen haben. Dann käme Methadon als Schmerzmittel-Alternative in Frage. Friesen warnt zudem eindringlich davor, womöglich Methadon statt einer Chemotherapie einnehmen zu wollen.
Risiken ungeklärt
Und noch ein Problem gibt es: Methadon ist nicht so harmlos, wie es die ARD-Dokumentation darstellt. In einer Langzeitstudie an Schmerzpatienten in den USA stellten Mediziner fest, dass Patienten der Methadongruppe häufiger vorzeitig starben als die Patienten, die ein anderes Opioid-Schmerzmittel erhalten hatten. Zudem gibt es Hinweise, dass Methadon herzschädigend wirken kann – wenn auch erst ab deutlich höherer Dosierung als bei den Krebspatienten in Friesens Fallbeispielen. „Die Abwägung von Nutzen und Risiken ist noch sehr unklar“, betont die DGHO in ihrer Stellungnahme. Sie raten daher zum jetzigen Zeitpunkt davon ab, Methadon im sogenannten „Off-Label-Use“ unkritisch als Krebsmedikament einzusetzen. Immerhin tut sich inzwischen etwas: Die Deutsche Krebshilfe hat bereits einen Plan für eine klinische Studie erarbeitet, der zurzeit von Experten begutachtet wird. Auch weitere Fall-Kontroll-Studien seien in Vorbereitung, heißt es bei der DGHO.
Doch vielen Krebspatienten bleibt nicht die Zeit, auf die Ergebnisse dieser Studien zu warten. Sie hoffen schon jetzt darauf, mit Hilfe von Methadon ihren Krebs zu besiegen. Zu Recht? „Verzweifelte Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen greifen nach Methadon als Strohhalm. Mit einer Methadon-Therapie verbinden sie Hoffnungen, die sich durch die aktuelle Evidenzlage und die praktischen Erfahrungen von Onkologinnen und Onkologen nicht rechtfertigen lassen“, erklärt Carsten Bokemeyer, leitender Onkologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Die meisten dieser Patientinnen und Patienten brauchen gute onkologische Betreuung, Begleitung und Gespräche – nicht ein Methadon-Rezept.“