Wenn ein Buch Das Lächeln des Tigers heißt und den reißerischen Untertitel Von den letzten menschenfressenden Raubtieren der Welt trägt, dann erwartet der Leser einen Abenteuerroman alter Schule, in dem der weiße Forscher stets den heißen Atem des Raubtiers im Genick spürt, sich tagelang durch unwirtlichsten Dschungel schlägt und des Abends dem düsteren Raunen des Dorfältesten lauscht.
Kann er haben. David Quammen, ein vielfach ausgezeichneter Wissenschaftsjournalist, reiste für sein Buch tief in den indischen Gir-Wald, wo Löwen, Leoparden und Hirten ein gemeinsames, konfliktträchtiges Dasein fristen, und zu den mörderischen Leisten- krokodilen Nordaustraliens. Er durchstreifte die rumänischen Karpaten auf der Suche nach Braunbären und heftete sich in Sibirien, wo es im Februar kälter werden kann als ein Martini im Gefrierfach, an die Fersen des Tigers. Quammen bekommt seine Alpha-Räuber nicht allzu oft zu Gesicht, aber umso ausgiebiger spricht er mit den Menschen, denen die Tiere vertraut sind: mit Eingeborenen, Viehzüchtern, Wildhütern, Forschern und mit einem australischen Tierpräparator, der sich auf Krokodile spezialisiert hat. Mit Opfern, die noch einmal davon gekommen sind. Und mit Witwen.
Neben den Auswirkungen einer gnadenlos fortschreitenden Zivilisation, die noch die letzten Habitate der Raubtiere bedroht und die Balance zwischen Mensch und Natur zerstört, nimmt Quammen sich der psychologischen, mythischen und spirituellen Dimensionen dieser Beziehung zwischen Raubtier und Opfer an. Und so findet sich der Leser unversehens im Gilgamesch-Epos und in der Beowulf-Dichtung wieder, bevor es um Ceaucescus Bären-Massaker geht.
Diese Vielzahl verschiedenartigster Perspektiven, von der Paläontologie über die Mythologie bis zu Zoologie und Verhaltensforschung, von der Säbelzahnkatze über Siegfrieds Drachen bis zur ausführlichen Schilderung der Reiß-, Beiß-, Schneide- und Mahlwerkzeuge sowie der Fressgewohnheiten seiner Helden macht Quammens Buch ungemein spannend. Nebenbei referiert er den aktuellen wissenschaftlichen Stand eines Dutzends einschlägiger Disziplinen derart elegant, dass es der schauerlichen Faszination des Buches keinen Abbruch tut. Dem allerdings hätte der Orginaltitel besser gestanden: Monster of God. The Man-Eating Predator in the Jungles of History and the Mind.
Hans Schmidt, Fachjournalist für
Kommunikation und Technik