Was die Gene über unsere Vergangenheit verraten
Steve Olson demoliert genüsslich die Klischees über Abstammungsunterschiede: Wir Menschen sind geradezu penetrant miteinander verwandt. Vielleicht sind Sie Ihrem engsten Familienkreis herzlich zugetan, stöhnen aber über die vielköpfige weitere Verwandtschaft, die Sie einmal im Jahr bei quälenden Geburtstagsfeiern ertragen müssen. Trösten Sie sich: Wenn Sie wirklich sämtliche Verwandte zu deren Jubelfesten besuchen müssten, wären Sie an 365 Tagen im Jahr unterwegs. In Schaltjahren sogar an 366. Der Amerikaner Steve Olson rechnet vor: Zwei Generationen zurück hat jeder Mensch vier Großeltern. Zehn Generationen zurück sind es 1024. 30 Generationen vor der heute lebenden, also etwa zu Beginn des 15. Jahrhunderts, hat jeder Mensch mehr als eine Milliarde Vorfahren rechnerisch. Das ist natürlich Unfug, denn im Jahr 1400 lebten auf der ganzen Welt nur rund 375 Millionen Menschen. Olson klärt auf: Je mehr Generationen man Revue passieren lässt, um so häufiger trifft man auf Paarungen von entfernten Cousins und Cousinen ohne dass die von ihrer Verwandtschaft wussten. Kurz: Alle Europäer sind Verwandte, wenn auch im Einzelfall über 999 Ecken. Und es kommt noch dicker. Denjenigen, die rassistische Klischees mit sich herumtragen, verpasst Olson eine Breitseite. Als Beispiel nennt er den Gesandten aus Äthiopien, der im Mittelalter eine Hofdame Heinrichs II. heiratete und mit ihr Kinder hatte. Heute sind alle Europäer Nachkommen dieses Äthiopiers. Global wird dieser Effekt vollends, wenn man 2000 Jahre oder noch weiter in die Vergangenheit blickt: Jeder heute lebende Mensch auf der Welt, schreibt Olsen, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit Nofretete (sie hatte sechs Töchter), Konfuzius und Julius Caesar (über seine illegitimen Kinder) zu seinen Vorfahren rechnen. Stammbaumforscher sollten im Übrigen stets auf Überraschungen gefasst sein. Olson berichtet von einem USAmerikaner, der in der männlichen Linie von schwedischen Vorfahren abstammte und eines Tages beschloss, der Spur der verehrten Ahnen bis in die alte Heimat zu folgen. Dort fand er heraus: Der Familienname des ausgewanderten Urahnen kam von einem großen Bauernhof außerhalb von Stockholm. Dort wurden damals die vaterlosen Kinder der Prostituierten aufgezogen.
Thorwald Ewe, bdw-Redakteur für Anthropologie, Chemie und Umwelttechnik
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