DER MYTHOS VOM edlen Wilden schwand nach den Untersuchungen des US-Anthropologen Napoleon Chagnon an den Yanomami-Indianern des Amazonasgebietes in den sechziger Jahren. Stattdessen erschienen die Yanomami nun als grimmige Überlebende der Steinzeit, die sich im Kampf um Frauen die Köpfe einschlagen. Anthropologen und Journalisten stürzten sich in der folgenden Zeit auf die Yanomami und die Yanomami stürzten sich auf deren Geschenke: Gewehre und Kochtöpfe. Einige Yanomami wurden plötzlich reich, und viele führten mit den neuen Gewehren Kriege um die neuen Kochtöpfe. Patrick Tierney, selbst Anthropologe und Journalist, klagt in seinem Buch die Kollegen an, die Indianer verleumdet und durch ihre Expeditionen Krankheiten, Krieg und kulturelles Chaos unter ihnen verbreitet zu haben. Anthropologen halten dagegen, dass Tierney sich nur auf Augenzeugenberichte stütze. Kurz nach Erscheinen des Buches in den USA überprüfte eine Untersuchungskommission der Amerikanischen Anthropologenvereinigung Tierneys Vorwürfe. Das Ergebnis: Die Yanomami sind keine grausamen Mörder, wie von einigen Anthropologen behauptet. Aber die Anthropologen sind umgekehrt auch nicht für den Ausbruch von Masernepidemien bei den Indianern verantwortlich. Trotz aller subjektiven Wertungen und Befunde ist Tierneys Buch ein packender Bericht über die Kehrseite anthropologischer Feldforschung.
Tanja Fabsits