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Vorurteile aus der Steinzeit

Allgemein

Vorurteile aus der Steinzeit
Dass Fremde, Alte und Kranke es in unserer Gesellschaft schwer haben, beruht auf uralten psychologischen Mechanismen.

Für den Schimpansen McGregor war es ein doppelter Schicksalsschlag. Nach einer Polio-Infektion konnte er ein Bein nicht mehr bewegen und musste seinen Körper mit den Armen durch die Gegend schleppen. Doch damit nicht genug: Die anderen Schimpansen mieden ihn und mit dem gegenseitigen Kraulen war es vorbei. Nur Humphrey, möglicherweise sein Neffe, schlief weiterhin weniger als 20 Meter von ihm entfernt, beobachtete die Verhaltensforscherin Jane Goodall 1966 im Gombe-Nationalpark in Tansania.

So wie dem unglücklichen Affen geht es vielen Tieren quer durch die Fauna. Sogar die Kaulquappen des Amerikanischen Ochsenfroschs schwimmen von Artgenossen weg, wenn diese offensichtlich von einem Parasiten befallen sind. Und Mäuse mögen keinen Sex mit kranken Artgenossen. Menschen scheinen barmherziger zu sein. Doch auch sie sind darauf gepolt, den Kontakt mit jenen zu meiden, bei denen sie sich vielleicht mit Krankheiten anstecken könnten. Diese Neigung entscheidet mit darüber, wie wir fühlen, wie wir auf andere reagieren, wie wir lieben und wer wir sind. Es sind subtile Einflüsse, durch die das „Verhaltensimmunsystem“ entsteht, das Wissenschaftler erst in den letzten Jahren entdeckt haben und zurzeit intensiv erforschen. Der Psychologieprofessor Mark Schaller von der University of British Columbia im kanadischen Vancouver versteht unter dem Verhaltensimmunsystem psychologische Mechanismen, die dreierlei leisten:

· Sie reagieren auf Bedingungen in der Umwelt, die auf Keime in der Nähe hinweisen könnten.

· Sie sorgen für eine Reaktion unserer Gefühle und Gedanken auf diese Hinweise.

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· Sie beeinflussen das Verhalten so, dass die Ansteckungsgefahr sinkt.

Das Verhaltensimmunsystem ist besonders aktiv bei Menschen, die vor Kurzem selbst krank waren und daher besonderen Schutz vor einer neuen Infektion brauchen, wie der Psychologe Saul Miller von der University of Kentucky in Lexington herausfand. Er präsentierte frisch Genesenen am Bildschirm in bunter Folge Bilder von gesunden und offensichtlich kranken Menschen. Erschien ein entstelltes Gesicht, sollten die Testteilnehmer einen Joystick von sich wegdrücken, erschien ein gesundes, sollten sie ihn zu sich heranziehen. Das gelang den Versuchspersonen schneller als die umgekehrte Aufgabe, bei der sie auf ein entstelltes Gesicht mit Heranziehen reagieren sollten. Offensichtlich hatten die Probanden eine Abneigung gegen die von Krankheit Gezeichneten.

Auch außerhalb des Labors mögen Menschen Kranke umso weniger, je mehr Angst sie vor Infektionen haben. Das maßen Forscher durch die Zustimmung zu Aussagen wie „Ich schreibe nicht gern mit einem Stift, auf dem jemand anderes herumgekaut hat“. Wer auf dieser Keimangst-Skala hohe Werte erreicht, hat auch besonders wenig behinderte oder chronisch kranke Freunde und Bekannte. Doch es geht nicht nur um Kranke. Je höher der Bakterien-Horror, desto größer ist auch die Ablehnung von Übergewichtigen und von Alten.

Ein leiser Verdacht genügt

Natürlich werden weder Übergewicht noch Alter von Keimen übertragen. Doch davon weiß das Verhaltensimmunsystem nichts. Es kennt sich mit Medizin nicht aus und wird daher beim leisesten Verdacht aktiv. „Jede auffällige Abweichung von der artspezifischen Körpernorm kann als Hinweis auf eine mögliche Infektion interpretiert werden“, resümiert Schaller. Weil Ausländer oft etwas anders aussehen, sorgt das Verhaltensimmunsystem auch für Vorurteile gegen sie. Im Lauf der Evolutionsgeschichte hatte das einen gewissen Sinn. Fremde könnten Keime übertragen, auf die das eigene Immunsystem nicht vorbereitet ist. Doch der Schutzmechanismus hat sich längst verselbstständigt.

So geben sich kanadische Studentinnen und Studenten normalerweise liberal. Als Schaller per Fragebogen erhob, wo die Regierung Immigranten anwerben sollte, machten die Kanadier kaum einen Unterschied zwischen relativ vertrauten Ländern wie Schottland oder Polen und fremderen wie Nigeria oder Peru. Doch das änderte sich, als Schaller vorweg unter einem Vorwand Bilder präsentierte, die vor Infektionsgefahren warnten. Eines zeigte unter der Überschrift „Die Schrecken von Küchenschwamm und Haustieren“ eine Frau, die vergeblich versuchte, cartoonartig gezeichnete Keime in ihrer Küche auszurotten. Nun wollten die Studiosi nicht mehr viel Geld für eine Anwerbekampagne in suspekten fremden Ländern investiert sehen.

Eine besonders große Gefahr stellen Keime für Schwangere dar. Ihr Immunsystem arbeitet gedämpft, um das genetisch halb fremde Baby nicht abzustoßen. Außerdem können Viren und Bakterien den Embryo schädigen, besonders in den ersten drei Monaten. Der Sozialpsychologe Carlos Navarrete von der Harvard University erforschte in einer Online-Untersuchung, ob schwangere Amerikanerinnen Fremden anders begegnen als nicht schwangere. Zu diesem Zweck gab er ihnen zwei Aufsätze zu lesen. In einem schilderte ein Ausländer seine negativen Erfahrungen mit den USA und ihren Bewohnern. Im anderen pries ein Amerikaner sein Land und dessen Werte. Dann wurden die Teilnehmerinnen gefragt, wie sympathisch, intelligent, informiert und aufrichtig sie die Autoren fanden und auch, ob sie gerne mit ihnen zusammenarbeiten würden.

Schwangere scheuen das fremde

Nicht-Schwangere kamen mit der Kritik des Ausländers gut klar und beurteilten ihn kaum negativer als den Einheimischen. Doch die werdenden Mütter wollten möglichst nichts mit dem Fremden zu tun haben. Sie bewerteten ihn bei der Befragung durch Schaller viermal so negativ wie die anderen Frauen. Im besonders kritischen ersten Schwangerschaftsdrittel war die negative Bewertung sogar sechsmal so stark.

Solche Abwehrreaktionen sind wohl tief im biologischen System verankert. Wahrscheinlich spielen die Neuropeptide Oxytocin und Vasopressin eine Rolle. Beide wirken auf den Mandelkern im Gehirn, der auf soziale und andere Bedrohungen reagiert. Dort treffen auch wichtige Nervenbahnen des Geruchssystems zusammen. Wird bei Mäuseweibchen die Wirkung von Oxytocin blockiert, reagieren sie auf kranke Männchen nicht mehr abweisend. Sogar unsere Persönlichkeit wird vom Verhaltensimmunsystem beeinflusst. In Regionen, in denen traditionell viele Seuchen grassieren, haben Menschen anders ausgeprägte Persönlichkeitszüge als in davon verschonten Gebieten.

Schallers Team rekonstruierte aus alten Aufzeichnungen, wo Malaria, Lepra, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten besonders häufig waren und teilweise noch sind. Dann verglichen die Wissenschaftler die grundlegenden Persönlichkeitseigenschaften der Bewohner mit denen in anderen Regionen. Sie benutzten dazu Daten aus drei großen internationalen Studien. Ergebnis: Die Bewohner von Gebieten, die häufig von Seuchen heimgesucht werden, erwiesen sich als deutlich weniger extrovertiert, suchten also seltener den Kontakt zu Menschen. Das ist durchaus sinnvoll, da jede Begegnung eine Infektion bedeuten kann.

Keime machen keusch

Selbst unser Liebesleben ist durch Keime geprägt. Wo sie traditionell stark sind, geht es keuscher zu. Vor allem die Frauen lassen sich seltener auf Affären ein und legen Wert auf eheliche Treue. Das gaben sie in einem Fragebogen an. Für Männer gilt das weniger – möglicherweise wiegt die Aussicht auf zusätzliche Kinder für sie das Infektionsrisiko auf.

Natürlich unterscheiden sich häufig von Seuchen heimgesuchte Länder noch in anderen Punkten vom Rest der Welt. Meist liegen sie in tropischen Regionen, wo die Menschen arm sind und die Gesellschaft wenig Freiheiten lässt. Doch selbst wenn solche Faktoren in den Untersuchungen berücksichtigt wurden, erwiesen sich die Keime immer noch als sehr einflussreich.

Auch Laborstudien brachten ähnliche Ergebnisse. So wünschten sich kanadische Studentinnen weniger Sexualpartner, wenn sie mehr Angst vor Keimen hatten und dann noch Bilder von Hautwunden und Schnupfennasen gezeigt bekamen.

In einer anderen Untersuchung zeigten die Biologieprofessoren Corey Fincher und Randy Thornhill von der University of New Mexico in Albuquerque, dass sich das Verhaltensimmunsystem womöglich nutzen lässt, um „Safer Sex“ zu fördern. Sie versprühten unauffällig ein nach Fäkalien riechendes Spray im Raum. Es sollte die Versuchspersonen unbewusst an die Infektionsgefahr bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr erinnern. Tatsächlich war der Vorsatz der Studienteilnehmer, Kondome zu benutzen, nach dem Sprüheinsatz stärker, als wenn sie nur Aufklärungsmaterial bekommen hatten.

Seuchen stärken familienbande

Mit der Theorie des Verhaltensimmunsystems versuchen die Forscher aus New Mexico sogar zu erklären, warum starke Familienbande und Religion in manchen Teilen der Welt viel mehr gelten als in anderen. Sie führen nämlich dazu, dass Menschen mehr Zeit mit ihrer Verwandtschaft oder Gemeinde verbringen und so weniger Fremden mit ungewohnten und daher gefährlichen Keimen begegnen. Tatsächlich halten Menschen stärker zusammen und glauben mehr an Gott, wenn in ihrer Gegend Seuchen besonders verbreitet sind. Das ergab sich sowohl bei einem Vergleich von 72 verschiedenen Nationen als auch bei einem Vergleich der einzelnen Bundesstaaten der USA.

Während die Forscher inzwischen ziemlich genau wissen, dass das Verhaltensimmunsystem gelegentlich über das Ziel hinaus schießt, wissen sie noch kaum, wie sich dies verhindern lässt. Um diese Wissenslücke zu schließen, ließ Julie Huang von der kanadischen University of Toronto auf dem Höhepunkt der Schweinegrippe Internet-Surfer einen eigens zusammengestellten Artikel lesen, der ordentlich Panik verbreitete. Die Versuchspersonen kreuzten anschließend in einem Fragebogen deutlich rassistischere Antworten an („Ich glaube, dass Einwanderer in den letzten Jahren mehr Geld bekommen haben, als sie verdienen“). Wer gegen Schweinegrippe geimpft war, äußerte sich dagegen wesentlich weniger ausländerfeindlich.

Die Hände mit einem antibakteriellen Feuchttuch abzuwischen, hatte in einem weiteren Versuch eine ähnliche Wirkung. Das verblüffende Fazit formulieren die Forscher so: „Behandlungen körperlicher Erkrankungen können auch bei der Behandlung von Vorurteilen helfen.“ ■

Der Frankfurter Wissenschaftsjournalist und Psychologe JOCHEN PAULUS findet es erstaunlich, wie stark unser evolutionäre Erbe ist.

von Jochen Paulus

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