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Heilsame Pause

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Heilsame Pause
Bei Typ-2-Diabetikern versagen die Insulin produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse. Gönnt man dem Organ etwas Erholung, könnten sie wiederbelebt werden.

Diabetes mellitus ist weltweit auf dem Vormarsch. Nach Schätzungen der International Diabetes Federation wird die Zahl der Diabetiker von derzeit 371 Millionen bis zum Jahr 2030 auf 552 Millionen steigen. In Europa rangiert Deutschland mit etwa fünf Millionen Diabetikern an zweiter Stelle. Andere Schätzungen gehen von über sechs Millionen hierzulande aus, weil viele Menschen vermutlich nichts von ihrer Erkrankung wissen.

Patienten mit Diabetes kämpfen mit einem zu hohen Blutzuckerspiegel, weil ihre Bauchspeicheldrüse immer weniger Insulin ausschüttet. Das Hormon hat die Aufgabe, nach einer Mahlzeit den Blutzuckerspiegel zu senken, indem es die Glukose aus der Nahrung in die Körperzellen schleust.

Bei Typ-2-Diabetes, an dem 90 Prozent der Diabetiker erkrankt sind, funktioniert die Insulin-Produktion zunächst noch. Doch durch Übergewicht, falsche Ernährung und Bewegungsmangel werden die Körperzellen – insbesondere bei genetisch vorbelasteten Menschen – immer unempfindlicher gegenüber Insulin. Die Betazellen in den Langerhans-Inseln der Bauchspeicheldrüse müssen mehr und mehr Insulin ausschütten, um den Blutzuckerspiegel zu senken – bis sie irgendwann erschöpft sind und kein Insulin mehr bilden können.

Identitätsverlust durch Stress

Den Insulinschwund erklärten sich Diabetes-Experten bislang damit, dass die überlasteten Betazellen absterben. Doch allmählich kristallisiert sich heraus, dass sie sich zunächst nur in eine Art Vorläuferstadium zurückentwickeln. Schon seit Ende der 1990er-Jahre mehren sich die Hinweise, dass gestresste Betazellen – etwa nach einer Teilentfernung der Bauchspeicheldrüse oder in Kultur – ihre Identität verlieren und sich wie Vorläuferzellen verhalten. Dass dies auch bei Typ-2-Diabetes passiert, wies erstmals ein Forscherteam um Domenico Accili von der Columbia University in New York an Mäusen nach.

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Eine Schlüsselrolle scheint das Protein FOXO1 zu spielen, berichteten sie im September 2012 im Fachblatt Cell. Bei beginnendem Diabetes wandert FOXO1 in den Zellkern. Dort fördert es das Ablesen von Genen, die den Stress für die Betazellen reduzieren. Hält der Stress an, weil der Blutzucker ständig hoch ist und die Betazellen immer mehr Insulin produzieren müssen, geht zunehmend FOXO1 verloren, und die Insulinproduktion sinkt.

Accili und seine Doktorandin Chutima Talchai wollten wissen, was passiert, wenn sie FOXO1 in den Betazellen der Mäuse ausschalten. Wie sich herausstellte, machte es die Mäuse anfälliger, später im Leben Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Gespannt verfolgten die Wissenschaftler, was mit markierten Betazellen geschah, nachdem die Mäuse mehrfach Junge bekommen hatten oder gealtert waren. Beides bedeutet Stress pur für die Betazellen, weil der Insulinbedarf mit dem höheren Gewicht in der Schwangerschaft steigt und sie im Alter zunehmend „kränkeln“.

Zur Verblüffung der Forscher starben die Betazellen nicht ab, sondern flüchteten sich vor dem drohenden Tod in ein unreifes Stadium, in dem sie kein Insulin mehr produzierten. Einige der ehemaligen Betazellen fingen sogar an, Glukagon zu bilden, das den Blutzuckerspiegel steigen lässt. Etwas ähnliches hatten Ärzte auch bei Typ-2-Diabetikern beobachtet.

Überforderten Betazellen sollte daher bereits früh im Verlauf der Krankheit eine Pause gegönnt werden, meinen die Forscher, damit sie sich von der verstärkten Produktion des Hormons erholen können – und zwar indem man Insulin von außen zuführt. Stattdessen stacheln viele Diabetes-Medikamente die Betazellen an, noch mehr Insulin zu produzieren und treiben sie so womöglich zur völligen Erschöpfung.

Wenn es nun gelingen würde, die zu Vorläuferzellen gewordenen Betazellen zurück zu verwandeln, käme das fast einer Heilung gleich. Und das ist durchaus denkbar, schließlich hatten sich die Vorläuferzellen in Accilis‘ Versuchsmäusen sogar in andere Zelltypen der Bauchspeicheldrüse verwandelt.

„Die Studie bedeutet einen Paradigmenwechsel für regenerative Ansätze in der Diabetestherapie“, sagt Heiko Lickert, Direktor des Instituts für Diabetes- und Regenerationsforschung am Helmholtz Zentrum München. „Es ist wichtig zu wissen, ob die Betazellen unwiederbringlich verloren gehen. Denn in diesem Fall könnte man bloß versuchen, die verbliebenen Betazellen zu vermehren.“ Doch dieser seit einiger Zeit verfolgte Ansatz birgt die Gefahr, dass die zur vermehrten Teilung angeregten Betazellen unkontrolliert wuchern.

Zeitfenster für die Rettung

„Für mich ist die Umwandlung der Betazellen in Vorläuferzellen ein Zwischenstadium“, sagt Lickert und verweist auf Forschungsarbeiten, die nachgewiesen haben, dass Betazellen absterben. Es scheint jedoch ein Zeitfenster zu geben, in dem sie noch zurückgeholt werden könnten. Fest steht: So schnell und feindosiert wie die Betazellen kann bisher kein Medikament die Insulinmenge an die Nahrungsaufnahme anpassen.

„Die Medikamente, die wir zurzeit haben, doktern nur an den Symptomen herum, aber bekämpfen nicht die Ursachen“, sagt Andreas Fritsche, Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Selbst effektive Maßnahmen wie Bewegung, Abnehmen und gesunde Ernährung, die Ärzte ihren Patienten als Erstes empfehlen, können den Blutzuckerspiegel nur für einige Zeit normalisieren. „Irgendwann kommt der Typ-2-Diabetes zurück, insbesondere wenn die Patienten alt werden“, berichtet Fritsche. Der Grund: Die Betazellen haben bereits einen Knacks.

Noch sieht Fritsche keinen Grund, die Therapieleitlinien für Typ-2-Diabetiker zu ändern. Die von Accili erneut ins Gespräch gebrachte frühe Insulintherapie sei ein attraktives Prinzip, aber der Diabetologe betont: „Wir haben leider noch nicht allzu viele Daten, die zeigen, dass Diabetes und die Folgekrankheiten durch die frühzeitige Gabe von Insulin langfristig verhindert werden und dass die Patienten länger leben.“

Bis Accilis‘ Ansatz der Betazellenrettung umgesetzt ist, kann es noch dauern. „Zunächst muss gezeigt werden, dass sich die Umwandlung der Betazellen in ein Vorläuferstadium mit Medikamenten umkehren lässt“, erklärt Stammzellbiologe Heiko Lickert. Auch der Beweis, dass die an Mäusen gewonnen Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind, steht noch aus. Doch wenn das gelänge, wäre eine gute Alternative zu den bisherigen Therapien in Sicht. ■

von Helmine Braitmaier

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