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Was die Physiker schwer irritiert

Astronomie|Physik

Was die Physiker schwer irritiert
Die Gravitation beherrscht unseren Alltag und lenkt die Entwicklung des gesamten Kosmos. Doch bis heute bereitet die attraktive Kraft den Wissenschaftlern Kopfzerbrechen.

Clive Speake ist ratlos. Vor Kurzem hat sein Team eine scheinbar banale Grundgröße der Physik neu vermessen – die Gravitationskonstante. Das Irritierende: Das Resultat der Physiker liegt deutlich über dem bislang offiziell anerkannten Wert. Doch Speake ist sich seiner Sache sicher: „Wir können keine Fehler in unserer Messung entdecken“, sagt der Wissenschaftler, der an der britischen University of Birmingham die Grundlagen der Schwerkraft erforscht. Und das hat schwerwiegende Folgen: Die Gravitationskonstante ist nicht bloß irgendein physikalischer Parameter. Sie ist eine fundamentale Größe, die Stärke und Eigenschaften der Schwerkraft bestimmt. Sie ist dafür verantwortlich, dass Menschen, Tiere und Gegenstände am Boden bleiben und nicht abheben. Gleichzeitig beherrscht sie die großräumigen Vorgänge im All: Die Bewegungen von Planeten, Sternen und Galaxien geschehen unter ihrer Regie.

Eine Schlappe fürs Ego

Das Resultat aus Birmingham bringt daher Unruhe in ein gewichtiges Kapitel der Physik, das den Forschern Rätsel aufgibt: Seit Jahrzehnten fahnden sie verzweifelt nach dem genauen Wert der Gravitationskonstante – und damit dem Fundament der Schwerkraft. Doch bislang hatten ihre akribischen Experimente wenig Erfolg. Die Gravitation scheint die Physiker an der Nase herumzuführen. Das Problem: Unterschiedliche Messungen liefern widersprüchliche Resultate. Ab der dritten Stelle hinter dem Komma driften die Resultate deutlich auseinander. Der derzeit offizielle Wert: 6,67384(80) · 10–11 m3kg-1s-2. In Zeiten, in denen es Forscher gewohnt sind, ihre Messgrößen auf Millionstel oder gar Milliardstel genau zu erfassen, ist das ein Unding – eine Schlappe für das Ego der Präzisionsphysiker.

Und: Womöglich steckt hinter dem Rätsel mehr als ein wissenschaftliches Ärgernis. Manche Physiker wittern als Ursache der Diskrepanz Spektakuläres. Es könnte sein, dass mit dem Gravitationsgesetz etwas nicht stimmt. Und das hätte enorme Konsequenzen für das physikalische Weltbild.

In diesem Bild ist die Schwerkraft im Grunde eine geheimnisvolle Unbekannte. Für sich genommen lässt sie sich zwar gut in Formeln und Gesetze packen – dafür sorgen das von dem englischen Naturforscher Isaak Newton bereits 1686 formulierte Gravitationsgesetz und dessen von Albert Einstein 230 Jahre später entwickelte Erweiterung: die Allgemeine Relativitätstheorie. Doch zu den anderen drei Grundkräften der Natur – der elektromagnetischen Kraft sowie der schwachen und starken Kernkraft – will die Gravitation partout nicht passen.

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Kollision mit den Quanten

So behandelt das „Standardmodell“ – das aktuelle Theoriegebäude der Teilchenphysik – nur die drei übrigen Kräfte. Die Schwerkraft wird von dem Modell schlicht ignoriert. Denn sie lässt sich nicht in den abstrakten Formalismus der Quantenmechanik einbetten. Diese Theorie beschreibt sehr erfolgreich Strukturen und Dynamik in der Welt der Atome und Elementarteilchen.

Damit zerfällt die Welt der theoretischen Physik in zwei Teile: auf der einen Seite das Standardmodell für den Mikrokosmos, auf der anderen Seite Newtons Gravitationsgesetz für die Alltagserfahrungen sowie die Allgemeine Relativitätstheorie für das Weltall im Großen. Für die Physiker ist das ein missliebiges Dauerprovisorium: Bereits Albert Einstein und Werner Heisenberg – ein Wegbereiter der Quantenmechanik – hatten sehnlichst von einer vereinheitlichten Theorie geträumt. Sie sollte Gravitation und Quantenphysik zu einer neuen Supertheorie verschmelzen. Diese „Quantengravitation“ sollte auch Phänomene erklären, an denen die heutige Physik scheitert – etwa den Urknall und das Innenleben von Schwarzen Löchern. Doch bisher haben sich die Physiker am Entwurf einer solchen übergeordneten Theorie die Zähne ausgebissen.

Zurzeit gelingt ihnen nicht einmal ein scheinbar viel profaneres Unterfangen – die Bestimmung der Gravitationskonstante. In den mathematischen Formeln legt sie fest, wie stark die Schwerkraft zwischen zwei Körpern wirkt, die einen bestimmten Abstand zueinander haben. Würde man die Kraft zwischen zwei Massen, die exakt ein Kilogramm wiegen und deren Schwerpunkte genau einen Meter voneinander entfernt sind, präzise messen, käme der Wert der Gravitationskonstante heraus.

Diese Naturkonstante kam ins Spiel, als Isaac Newton sein legendäres Gravitationsgesetz vorstellte: Demnach hängt die Anziehung zweier Körper vom Produkt ihrer Massen ab, geteilt durch das Quadrat ihres Abstands. Das bedeutet: Je größer die Massen sind und je kleiner der Abstand zwischen ihnen ist, umso stärker wirkt die Schwerkraft. Die Gravitationskonstante fungiert als Bindeglied. Und: Sie definiert die relative Stärke der Schwerkraft gegenüber den anderen Naturkräften.

Zwergenhafte Herrscherin

Allerdings: Obwohl die Gravitation im Alltag als einzige Kraft überall spürbar ist, ist sie bei Weitem die schwächste der heute bekannten vier physikalischen Grundkräfte. Von der elektromagnetischen Wechselwirkung zwischen elektrischen Ladungen trennen sie 36 Größenordnungen – eine Zahl mit 35 Nullen. Dass die Gravitation überhaupt spürbar ist, liegt daran, dass sich die elektrischen Kräfte in der Regel herausmitteln: Atome enthalten gleich viele positive wie negative Ladungen und sind deshalb von außen gesehen elektrisch neutral.

Anders bei der Gravitation: Bei ihr addieren sich die Wirkungen sämtlicher Anziehungskräfte. Dadurch beherrscht die Schwerkraft trotz ihrer Zwergenhaftigkeit das Geschehen auf der Erde und im Universum: Sie lässt uns stehen und gehen oder bringt uns zu Fall, sie treibt Bäche und Flüsse in Richtung Meer, sie hindert Erde, Mond und Sonne am Zerbersten, und sie bestimmt den Umlauf von Planeten um ihre Sterne sowie die Bewegung von riesigen Galaxien und Galaxienhaufen im Kosmos. Doch ihre Schwäche macht es schwer, die Schwerkraft präzise zu vermessen. Das bemerkte bereits der britische Wissenschaftler Henry Cavendish, als er 1797 erstmals den Wert der Gravitationskonstante bestimmen wollte. Er hängte eine mit zwei Bleikugeln bestückte Hantel an einem Metallfaden auf. Neben die Hantel stellte er zwei größere Bleimassen. Durch die Gravitation zogen sich die Kugeln gegenseitig an, was Hantel und Faden etwas verdrehte.

Allerdings war der Effekt so mickrig, dass Cavendish ihn nur mithilfe eines Tricks erfassen konnte: Er befestigte am Faden einen Spiegel und verfolgte den darin reflektierten Schein einer Kerzenflamme an der Wand. Das Ergebnis war erstaunlich: Mit der Drehwaage konnte der Brite den Wert der Konstante bis auf ein Prozent genau ermitteln. Deshalb halten die Physiker bis heute an seinem Messprinzip fest: Schwere Gewichte, sogenannte Feldmassen, ziehen kleine Testmassen an und bewegen sie aus ihrer Ruhelage. Um die Messgenauigkeit zu steigern, haben die Wissenschaftler das Prinzip variiert und verfeinert – zum Beispiel ein US-Team von der Washington University in Seattle, das die Messung im Jahr 2000 wiederholte.

An einem Drehtisch hatten die Forscher ein dünnes Glasplättchen an einem Wolfram-Faden aufgehängt. Dann ließen sie den Tisch langsam rotieren. Außen waren zwei je 30 Kilogramm schwere Feldmassen montiert. Bei jeder Umdrehung zerrten und zogen diese kraft der Gravitation an dem Pendel mit dem Glasplättchen. Eine elektronische Regelung steuerte die Drehung des Tischs so, dass sich der Wolfram-Faden nicht verdrillte – ein Trick, der die Präzision des Experiments deutlich steigerte.

Zusätzlich ließen die Forscher die Feldmassen rotieren – und zwar andersherum als den Drehtisch. Dadurch eliminierten sie den Gravitationseinfluss der Umgebung. Denn da sich die Schwerkraft nicht abschirmen lässt, muss man das Schwerefeld im Labor entweder exakt kennen oder geschickt herausmitteln. Sonst könnte schon ein vorbeifahrender Lkw oder ein herumstehender Laborant die hochempfindliche Messung stören. Die US-Physiker kamen auf den bislang genauesten Wert.

Experimente stiften Verwirrung

Messungen anderer Gruppen bestätigten den Wert. Manche wichen aber auch davon ab – etwa ein Versuch am Joint Institute for Laboratory Astrophysics in Boulder (Colorado), dessen Resultate 2010 publiziert wurden. Das Durcheinander komplett machen jetzt Clive Speake und seine Kollegen. Auch das Experiment der Physiker aus Birmingham basiert auf dem traditionellen Prinzip der Cavendish-Drehwaage. Doch die Forscher haben das Konzept trickreich verbessert: „Um die Auslenkung zu messen, nutzten wir zwei verschiedene Methoden“, erklärt Speake. „Dadurch ließen sich einige Fehlerquellen eliminieren.“ Bereits 2001 hatte das britische Team ein Experiment nach diesem Prinzip ausgeführt – mit dem beunruhigenden Resultat, dass der gemessene Wert um 0,2 Promille über dem Referenzwert aus Seattle lag. Von dieser Diskrepanz alarmiert, wiederholten die Forscher den Versuch nun mit optimierter Technik. Im September 2013 veröffentlichte das Team das Resultat: „Wir kamen fast auf denselben Messwert wie beim ersten Experiment“, konstatiert Speake.

Das Ergebnis könnte missliebige Folgen haben: Ende 2014 steht die nächste „Neuordnung“ der Naturkonstanten an. Angesichts des neuen Resultats könnte sich das zuständige Komitee gezwungen sehen, den ohnehin schon erstaunlich breiten Fehlerbalken der Gravitationskonstante noch breiter zu machen – ein herber Rückschlag für die Physiker.

Derzeit steckt die Forschung in der Sackgasse. „Jede Gruppe glaubt, sie habe genau gemessen, und der Fehler liege bei den anderen“, sagt Stephan Schlamminger vom National Institute of Standards ans Technology (NIST) in Boulder, Colorado. „Dennoch scheint es mir am wahrscheinlichsten, dass die Experimentatoren ihre Fehler unterschätzen oder Fehlerquellen übersehen haben.“ Daher trifft sich die Fachwelt im Februar zu einem Workshop, um Ideen für noch präzisere Experimente zu diskutieren.

Atome ersetzen die Hanteln

Einen Ansatz für ein völlig neuartiges Experiment gibt es bereits: Zwei Forscherteams aus Italien und den USA versuchen, statt der üblichen Hanteln und Pendel etwas ganz anderes als Testmassen zu verwenden – Atome. Das Prinzip: In einer luftleer gepumpten, senkrecht stehenden Metallröhre wird eine ultrakalte Wolke aus Rubidium-Atomen mithilfe eines Lasers sanft nach oben geschoben. Von der Schwerkraft gezogen, fällt die Wolke danach wieder herunter – und dabei dicht an einem Klotz aus 500 Kilogramm Wolfram vorbei. Unten in der Röhre angekommen passieren die Teilchen ein Atominterferometer. Dieser Spezialsensor nutzt aus, dass die Atome Quantencharakter besitzen, sich also unter bestimmten Umständen wie Lichtwellen verhalten. Insbesondere können sie sich ähnlich wie Lichtwellen überlagern und so komplizierte Hell-Dunkel-Muster erzeugen.

„Wenn wir das Wolfram neben der Röhre auf- oder abschieben, ändert sich das auf die Atome wirkende Schwerefeld“, erklärt Guglielmo Tino, Physiker an der Universität Florenz. „Parallel dazu variiert auch das Hell-Dunkel-Muster im Interferometer.“ Indem sie den Schattenwechsel in dem Hightech-Sensor genau analysieren, wollen die Italiener auf den präzisen Wert der Gravitationskonstante schließen. Anfang 2014 soll das Ergebnis feststehen – und vielleicht zur Lösung des Schwerkraft-Mysteriums beitragen.

Vieles liegt noch im Dunkeln

Sollte auch der Messwert aus dem Atominterferometer deutlich von anderen Ergebnissen abweichen, würde das eine hochinteressante Spekulation beflügeln: „Vielleicht ist die Gravitationskonstante gar keine Naturkonstante, sondern ergibt sich aus einer tieferen Theorie, die wir noch nicht kennen“, sagt Frans Klinkhamer, Physiker am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er betont: „Im Grunde wissen wir nur wenig über die Gravitation.“ Die am längsten bekannte Kraft birgt zugleich die meisten Geheimnisse.

Zwar hat Albert Einstein mit der Allgemeinen Relativitätstheorie ein geniales Gedankengebäude geschaffen, das die Newton’sche Formel für die Schwerkraft auf eine moderne und grundlegende Basis stellt. Massen krümmen und verbiegen in diesem Bild die vierdimensionale Raumzeit, erzeugen Dellen und Trichter im Gewebe des Universums. Diese gekrümmten Bereiche wirken auf andere Massen, lassen sie gewissermaßen in sich hineinkullern – wodurch die attraktive Wirkung der Schwerkraft entsteht. Die revolutionäre Theorie wurde zwar durch etliche Experimente immer wieder bestätigt, aber sie leidet unter dem Manko, dass sie auf kleinen Skalen – bei Atomen und Molekülen – versagt. Und: Einsteins Formeln, die die von Newton eingeführte Gravitationskonstante enthalten, können den tieferliegenden Charakter der Gravitation und den Mechanismus, wie sie entsteht, nicht erklären: Weshalb zerren Massen an der Raumzeit? Und was sind überhaupt Massen? Der physikalische Kern der ominösen Kraft liegt im Dunkeln.

Manche Physiker mutmaßen, die Stärke der Gravitation habe sich während der kosmischen Entwicklung verändert. Um diese Idee zu prüfen, bedienen sie sich eines originellen Experiments. Den Startschuss gab die Mondlandung im Juli 1969. Damals hatten Neil Armstrong und Buzz Aldrin Spezialspiegel in den Mondstaub gestellt – Paneele aus je 100 Einzelspiegeln. Später begann die NASA, regelmäßig Laserblitze von der Erde zum Mond zu schicken. Dort, rund 385 000 Kilometer entfernt, treffen die Blitze auf die Spiegel. Die werfen das Licht zurück zur Erde, wo Teleskope es auffangen. Der Clou: Die Laufzeit der Blitze lässt sich hochpräzise messen – und damit der genaue Abstand von Erde und Mond. Sollte sich die Gravitationskonstante ändern, würde sich diese Distanz anders entwickeln, als vom Newton’schen Gesetz vorausgesagt. Doch bisher wurde keine Abweichung gefunden.

Rückenwind für die String-theorie

Dabei würde es einigen Theoretikern zupass kommen, sollte mit Newtons Gravitationsgesetz etwas nicht stimmen – zum Beispiel den Befürwortern der String-Theorie. Sie gilt als aussichtsreicher Kandidat für eine vereinheitlichte Theorie der Physik – jenes Formelwerk, das die Gravitation endlich mit den anderen Naturkräften versöhnen soll. Die String-Hypothese geht davon aus, dass die Materie nicht wie bislang angenommen aus nahezu punktförmigen Elementarteilchen besteht, sondern vielmehr aus vibrierenden, unvorstellbar winzigen Fädchen oder Saiten: den „ Strings“.

Die Theorie spielt sich in zehn bis elf Dimensionen ab. Sie könnten innerhalb der vertrauten Raumrichtungen „aufgerollt“ sein und die Stärke der Schwerkraft bei sehr kleinen Abständen beeinflussen. Die Folge: Bei Abständen, die kleiner sind als einige millionstel Meter würde Newtons ehrwürdige Formel an Gültigkeit verlieren. Forscher in aller Welt fahnden nach solchen Abweichungen.

Ein weiteres Rätsel: Ende der 1990er-Jahre wurde überraschend klar, dass sich das Universum nicht wie erwartet immer langsamer ausdehnt. Stattdessen beschleunigt sich die kosmische Expansion stetig – ein geheimnisvolles Etwas scheint das Weltall auseinanderzutreiben wie einen Hefeteig. Die Kosmologen gaben dem unfassbaren kosmischen Bösewicht den Namen „Dunkle Energie“.

Hinweise auf ein bizarres Feld?

Was sich dahinter verbirgt, ist bis heute ungeklärt. Ein spekulativer Erklärungsversuch ist die „Quintessenz“. Damit bezeichnen die Fachleute ein Energiefeld, das das gesamte Universum durchzieht und sich im Lauf der Zeit verändert. Bislang allerdings fehlt jedes Indiz dafür, dass es tatsächlich existiert. Würde man Abweichungen beim Gravitationsgesetz finden, könnte das ein erster Hinweis darauf sein, dass das bizarre universale Feld mehr ist als eine physikalische Fiktion.

Möglicherweise versagt das Gravitationsgesetz auch auf großen Skalen: in den fernen Tiefen des Weltalls – speziell in jenen äußeren Bereichen von Galaxien und Nebeln, wo Materie nur wenig Schwerebeschleunigung erfährt. Dort könnte eine Theorie namens „ MOND“ gelten, die Modifizierte Newton’sche Dynamik. „Damit ließe sich erklären, warum Galaxien stabil sind und nicht auseinanderfliegen“, sagt KIT-Physiker Frans Klinkhamer. Unbekannte hypothetische Teilchen, die als Bestandteil der „ Dunklen Materie“ die Sternsysteme zusammenhalten, werden bei dieser Theorie nicht gebraucht.

Sollten sich solche Spekulationen bewahrheiten, wäre es kein Wunder, dass verschiedene Versuche zu ganz unterschiedlichen Werten für die Gravitationskonstante kommen: Da jedes Experiment unter anderen Bedingungen abläuft, könnte es stets nur den Wert messen, der just für diese Bedingungen gilt. Die große Diskrepanz der Messwerte für die Grundgröße der Schwerkraft wäre dann nicht ein Ärgernis, sondern ein spektakulärer Fingerzeig auf eine neue Physik. ■

Beim Radfahren hadert FRANK GROTELÜSCHEN mit der Schwerkraft. Bergauf rast sein Puls, bergab fürchtet er, aus der Kurve zu fliegen.

von Frank Grotelüschen

Ohne Titel

Seit der englische Naturforscher Isaac Newton dösend unter einem Baum saß und ihm angeblich ein Apfel auf den Kopf fiel, stiftet die Schwerkraft Verwirrung. Nach Newtons blitzartiger Erkenntnis, die er in eine Formel übersetzte, sind inzwischen fast 330 Jahre vergangen und viele neue Erkenntnisse zur Gravitation gereift. Doch die Kraft, die Massen attraktiv macht und alles Irdische zu Boden zieht, gibt den Wissenschaftlern heute mehr Rätsel auf denn je. In ausgeklügelten Experimenten versuchen sie, das physikalische Wesen der Gravitation zu entschlüsseln.

Die Suche nach dem wabernden Raum

Im Bild der Allgemeinen Relativitätstheorie entsteht die Schwerkraft durch Verformungen der Raumzeit. Wenn Objekte wie Sterne, Planeten oder auch Menschen sich beschleunigt bewegen, erzeugen sie Defekte, die sich wellenartig in Raum und Zeit ausbreiten – so fordern es die Formeln der Einstein’schen Theorie. Sie ähneln den ringförmigen Wellen, die sich nach einem Steinwurf in einen See auf dessen Oberfläche bilden. Nachweisen ließe sich eine solche „Gravitationswelle“ durch ein charakteristisches Muster von periodischen Stauchungen und Streckungen des Raums, das sie bei ihrer Passage hinterlässt. Obwohl Wissenschaftler an mehreren großen Forschungseinrichtungen weltweit – unter anderem am Schwere-Horchposten „geo600″ der Universität Hannover – seit vielen Jahren nach den Spuren von Gravitationswellen suchen, ist es ihnen bislang nicht gelungen, diese Schwankungen im Raum-Zeit- Gefüge direkt nachzuweisen. Das liegt wohl vor allem daran, dass die rhythmischen Variationen, die die hypothetischen Schwerewellen verursachen, winzig sind: So würden selbst Gravitationswellen, die von einer Supernova-Explosion ausgehen – einem der energiereichsten Ereignisse im Weltall –, den Abstand zwischen Erde und Sonne lediglich um den Durchmesser eines Wasserstoff-Atoms verändern. Die Verzerrungen, die die wenige Kilometer großen Detektoren auf der Erde erkennen müssten, sind noch rund ein Hundertmillionstel kleiner. Auch andere Objekte senden deutlich schwächere Gravitationswellen aus. Wenn es gelingen würde, Gravitationswellen aufzuspüren, würde das nicht nur neue Einblicke in den Kosmos ermöglichen. Es wäre auch eine brillante Bestätigung von Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Misslingt der Nachweis jedoch, würde das Zweifel an der konventionellen Vorstellung der Physiker vom Wesen der Schwerkraft nähren.

Kompakt

· Physiker verzweifeln an der Messung der Gravitation.

· Vielleicht ist die Grundkonstante der Schwerkraft gar nicht konstant.

· Trickreiche Experimente mit Atomen sollen nun Licht ins Dunkel bringen.

· Manche Indizien geben der StringTheorie Rückenwind.

Mehr zum Thema

Internet

Homepage von Clive Speake an der University of Birmingham: www.birmingham.ac.uk/staff/profiles/ physics/speake-clive.aspx

Institut für Astronomische und Physikalische Geodäsie der TU München: www.iapg.bv.tum.de/iapg.html

Infos zu den Satelliten-Missionen GOCE und GRACE: www.goce-projektbuero.de/goce.html www.csr.utexas.edu/grace

Gut zu wissen: Gravitation

Die Gravitation oder Schwerkraft ist eine der vier bekannten Grundkräfte der Natur. Sie geht von allen Körpern oder Teilchen aus, die eine Masse besitzen. Dank der Wirkung der Schwerkraft ziehen sie sich gegenseitig an. Wie stark diese Anziehung ist, beschreiben das Newton’sche Gravitationsgesetz und – in einer generalisierten Form – die Allgemeine Relativitätstheorie. Anders als etwa die elektromagnetische oder Coulombkraft lässt sich die Schwerkraft nicht abschirmen. Sie durchdringt jede bekannte Form der Materie. Auch eine Antigravitation, die statt für eine Massenanziehung für eine Abstoßung sorgen würde, gibt es nach dem heutigen Wissensstand der Physiker nicht. Von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Schwerkraft ist die Gravitationskonstante – ein Zahlenwert, der in allen Formeln für die Wirkung der Gravitation steckt. Er legt die Stärke dieser Kraft im Vergleich zu den übrigen physikalischen Naturkräften fest.

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