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Brötchen sind böse

Gesundheit|Medizin

Brötchen sind böse
In den Regalen der Supermärkte stehen immer mehr glutenfreie Lebensmittel. Ein Hinweis auf ein neues Krankheitsbild – oder nur eine Modeerscheinung?

Der Verdächtige versteckt sich in Nudeln, Müsli, Bier und Brot – um nur einige Beispiele zu nennen. Seine mutmaßlichen Missetaten: Magen-Darm-Beschwerden, Müdigkeit und Kopfschmerzen. Es wird sogar gemunkelt, er mache dick. Der Fall scheint klar: Dem Eiweiß Gluten muss Einhalt geboten werden. Die Bevölkerung hat ihr Kaufverhalten bereits angepasst. Fristete glutenfreie Kost früher ein Nischendasein im Reformhaus, treten die Produkte mit der durchgestrichenen Ähre heute einen Siegeszug durch die Supermarktregale an. Der Umsatz wächst immer mehr: Betrug der Wert der Waren 2012 in Deutschland noch 54 203 Euro, prognostizert das Marktforschungsunternehmen Mintel International Group Ltd. für 2014 ganze 210 Millionen Euro.

Wer gern Freunde zum Essen einlädt, weiß: Irgendein Gast bedarf fast immer einer Sonderbehandlung – etwa der Vegetarier oder der Laktose-Intolerante, der keine Milchprodukte verträgt. Doch die Warnung „Ich vertrage kein Gluten” lässt rätseln. Handelt es sich hier um eine echte Nahrungsmittelunverträglichkeit oder folgt der Gast nur einem neuen Ernährungstrend? Und: Ist glutenfreie Nahrung gesünder als herkömmliche Kost?

Das auch als Kleber-Eiweiß bezeichnete Gluten steckt vor allem in Getreidesorten wie Weizen, Roggen und Dinkel. Es verleiht Broten ihre typische Laibform, macht Pizzateig formbar und sorgt dafür, dass Gebäck im Backofen aufgeht. So weit, so harmlos. Doch manche Menschen müssen nach dem Verzehr von nur einer Scheibe Brot mit schwerwiegenden Folgen kämpfen.

Diagnose Zöliakie

Bei Zöliakie-Patienten verursacht Gluten eine krankhafte Reaktion im Immunsystem des Darms. Die Folge: eine chronische Entzündung der Dünndarmschleimhaut, was die sogenannten Zotten zerstört, die für die Nährstoffaufnahme wichtigen Ausstülpungen. Die Patienten leiden an heftigen Bauchschmerzen und Blähungen sowie an Übelkeit und mangelndem Appetit. Langfristig entwickeln sich Nährstoffdefizite. Wodurch Zöliakie entsteht, ist unklar. Teilweise ist die Krankheit wohl erblich bedingt, aber auch Infektionen oder Stress können die Ursache sein.

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Zöliakie ist gleichzeitig eine Nahrungsmittelunverträglichkeit und eine Autoimmun-Erkrankung. Diagnostiziert wird sie durch den Nachweis von Antikörpern gegen Gluten-Bestandteile. Die Entnahme einer Gewebeprobe aus dem Dünndarm gibt Aufschluss darüber, ob die Schleimhaut entzündet ist. Wer die Beschwerden in den Griff bekommen will, muss völlig auf Gluten verzichten. Ein Heilmittel gibt es bislang nicht.

„Das ist etwas ganz anderes, als wenn Sie zum Beispiel auf einmal keine Nüsse mehr essen dürfen”, sagt Reiner Ullrich, der an der Berliner Charité die Gluten-Unverträglichkeit erforscht. „ Es handelt sich um eine drastische Lebensumstellung. In Restaurants zu gehen oder eine Essenseinladung von Freunden anzunehmen, all das geht nicht mehr so einfach. Wir empfehlen Patienten sogar, einen glutenfreien Bereich in der Küche einzurichten.”

komplette lebensumstellung

Der Aufwand ist nötig, denn die Menge an Gluten, die ein Zöliakie-Patient verträgt, ist winzig. Gemäß einer seit 2012 geltenden EU-Verordnung gilt ein Produkt als glutenfrei, wenn es weniger als 20 Milligramm des Kleber-Eiweißes pro Kilogramm enthält. Zum Vergleich: Ein Weizenbrötchen enthält rund 5 Gramm. Schätzungen zufolge sind in Deutschland 0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung an Zöliakie erkrankt.

Seit einigen Jahren mehren sich zudem Hinweise, dass es Menschen gibt, die zwar nicht an Zöliakie leiden, aber dennoch mit Beschwerden auf glutenhaltige Lebensmittel reagieren: Sie haben Bauchschmerzen und Blähungen, leiden an Verstopfung oder Durchfall. Inzwischen beschäftigen sich auch immer mehr Wissenschaftler mit diesem Phänomen.

„Früher wurden Ärzte belächelt, die der Meinung waren, dass es so etwas wie eine Glutensensitivität gibt”, erklärt Wolfgang Holtmeier, Magen-Darm-Spezialist am Krankenhaus Porz am Rhein. Reiner Ullrich meint: „Falls es die Gruppe der Glutensensitiven wirklich geben sollte, handelt es sich um eine Untergruppe der Reizdarmpatienten. Diese Patienten sind schwierig zu erfassen, weil es für ihre Symptome keine erkennbaren körperlichen Ursachen gibt.” Soll heißen: Während Zöliakie anhand von Antikörpernachweis und Gewebeuntersuchung zweifelsfrei diagnostiziert werden kann, sind bislang keine messbaren Hinweise auf Glutensensitivität bekannt.

Dass es abseits der Zöliakie Menschen gibt, die sensibel auf Gluten reagieren, legen die Ergebnisse von australischen Forschern nahe, die Patienten mit Reizdarmsyndrom untersucht haben. Die eine Hälfte der Probanden aß täglich zwei Scheiben glutenhaltiges Brot sowie einen glutenhaltigen Muffin. Ansonsten verzichteten sie auf das Kleber-Eiweiß. Die andere Hälfte ernährte sich komplett ohne Gluten. Zwar erhielten auch sie Brot und Muffin – allerdings glutenfreie Varianten. Nach einer Woche zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Die Probanden, die Gluten zu sich genommen hatten, litten wesentlich häufiger unter allgemeinen Schmerzen, Blähungen und Müdigkeit – den typischen Symptomen des Reizdarmsyndroms. Weitere Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen fanden sich jedoch nicht.

zu unrecht verdächtigt?

Derzeit stellen Ärzte eine reine Ausschlussdiagnose: „Wenn bei einem Patienten eine Zöliakie ausgeschlossen wurde und seine Beschwerden nach einer glutenfreien Diät trotzdem weg sind, sprechen wir von einer Glutensensitivität”, sagt Ullrich, der nach einem Biomarker für die Beschwerden sucht. Ohne solch einen handfesten Indikator ist es schwierig, die Zahl der Betroffenen zu ermitteln. „Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung sensibel auf Gluten reagieren”, schätzt Holtmeier.

Doch möglicherweise wird das Kleber-Eiweiß zu Unrecht verdächtigt. Ein Team um den Gastroenterologen und Biochemiker Detlef Schuppan von der US-amerikanischen Harvard Medical School legte kürzlich Forschungsergebnisse vor, die die Fachwelt aufhorchen ließen. Demnach könnte ein bisher unbeachteter Weizenbestandteil eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten spielen: der Amylase-Trypsin-Inhibitor, kurz ATI. Das Protein ist für Insekten giftig und wird vom Weizen gebildet, um Schädlinge abzuhalten. Die Forscher um Schuppan entdeckten, dass ATI das menschliche Immunsystem aktivieren kann. Sie vermuten, dass es jedes Mal zu solch einer Alarmreaktion kommt, wenn Weizen verzehrt wird. Dies könne schließlich zu einer Erkrankung führen.

Hochleistungsweizen am pranger

Auch Wolfgang Holtmeier schließt dieses Szenario nicht aus: „ Moderner Hochleistungsweizen enthält besonders viel ATI, da er dadurch schädlingsresistenter wird. Wir sind diesem Protein verstärkt ausgesetzt.” Obwohl wir also nicht mehr Weizen als früher essen, nehmen wir heute mehr ATI zu uns. Das Gleiche gilt für Gluten: Viele Backwaren werden künstlich mit dem Protein angereichert, weil es ihre Konsistenz verbessert. Leiden deshalb immer mehr Menschen an Zöliakie? Untersuchungen von jahrzehntelang aufbewahrten Blutproben in den Vereinigten Staaten zeigten, dass sich die Zahl der Zöliakie-Patienten seit den 1950er-Jahren vervierfacht hat. Ob der Prozentsatz der Glutensensitiven ebenfalls zugenommen hat, ist nicht bekannt, dazu ist die Datenlage zu schlecht.

Fest steht: Die Verbraucher greifen vermehrt zu Nahrungsmitteln ohne Gluten. „Das Segment der glutenfreien Produkte wird als besonders zukunftsträchtig für den Handel gesehen”, sagt Margarete Besemann, Ernährungsexpertin der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. „Besonders im vergangenen Jahr gab es eine deutliche Zunahme an Lebensmitteln, die das Label ‚glutenfrei‘ tragen.” Der Einzelhandelskonzern REWE brachte 2012 sogar eine neue Eigenmarke auf den Markt. Unter dem Namen „REWE frei von” stehen laktose- und glutenfreie Produkte in den Supermärkten des Unternehmens.

Wolfgang Holtmeier hält diese Entwicklung für eine Modeerscheinung, denn „es gibt gar nicht so viele Zöliakie- Patienten und Glutensensitive, wie glutenfreie Produkte verkauft werden”. Den Ursprung dieser Entwicklung sieht er in den USA: „ Dort herrscht schon lange eine Anti-Weizen-Stimmung.”

Hollywood-Werbung

Geschürt wird das Misstrauen gegenüber Weizen im Allgemeinen und Gluten im Speziellen von Hollywood-Berühmtheiten, die für eine glutenfreie Ernährung werben. So schreibt Schauspielerin Gwyneth Paltrow in ihrem vor Kurzem erschienenen Kochbuch „It’s All Good”: „Alle Ernährungsberater, Ärzte oder gesundheitsbewussten Menschen, denen ich je begegnet bin … scheinen sich darüber einig zu sein, dass Gluten für den menschlichen Körper eine Belastung darstellt und dass viele von uns es bestenfalls nicht vertragen und schlimmstenfalls allergisch dagegen sind.”

Andere Stars propagieren sogar, man könne durch den Verzicht auf Gluten abnehmen. Die Botschaft kommt offenbar an. Eine Umfrage unter US-Amerikanern, die glutenfreie Produkte kaufen, ergab: Mehr als 70 Prozent greifen zu den meist relativ teuren Lebensmitteln, weil sie denken, diese seien gesünder oder unterstützten sie beim Abnehmen. Die Tatsache, dass „diet” im Englischen sowohl „Diät” als auch schlicht „Ernährungsweise” bedeutet, könnte auch so manchen Deutschen auf die falsche Fährte führen. „Gluten-free diet” mag vielversprechend klingen, sorgt aber nicht für Gewichtsverlust.

Auf die Frage, ob eine glutenfreie Ernährung für gesunde Menschen irgendwelche Vorteile mit sich bringe, antwortet Wolfgang Holtmeier lapidar: „Nein.” Und er führt aus: „Bei einer glutenfreien Ernährung fällt auch viel kalorienreiches Fast Food und Fertigessen weg. Wenn es anfangs zu einem Gewichtsverlust kommt, liegt das nicht am Verzicht auf Gluten.”

Auch der Lebensmittelkonzern REWE gibt an, mit seinen „frei von”-Produkten nur die überschaubare Zielgruppe von Menschen mit Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten ansprechen zu wollen. „Das sind keine Lifestyle-Produkte, die man zum Abnehmen kauft”, betont Kathrin Kemper, Produktmanagerin der Linie. Nach einem eventuellen gesundheitlichen Nutzen der glutenfreien Produkte für Menschen ohne Unverträglichkeit gefragt, sagt sie klar: „Es gibt keinen.” ■

FRANZISKA KONITZER, freie Journalistin in München, wäre traurig, wenn sie kein glutenhaltiges Backwerk mehr essen dürfte.

von Franziska Konitzer

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