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Mit Ecken und Kanten

Allgemein

Mit Ecken und Kanten
Der Stuttgarter Hendrik Weihs ist Deutschlands Mann für den Wiedereintritt. Er koordiniert fünf Institute des DLR für das Ziel, die Rückkehrtechnik für Raumfahrzeuge neu zu erfinden.

Jahrelang hatten sich der Stuttgarter Raumfahrtingenieur und sein Team aus fünf Instituten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) auf den Start vorbereitet. Am 22. Juni 2012 war es endlich soweit: Um 21.18 Uhr hob die Rakete im norwegischen Andøya zu ihrem 250 Kilometer hohen und 900 Kilometer weiten Flug Richtung Norden ab. Zwei Wochen lang hatten die gut drei Dutzend Forscherinnen und Forscher um Hendrik Weihs alles penibel durchgespielt.

Alles klappte zuerst wie am Schnürchen. Die erste Raketenstufe schraubte den Flugkörper auf 100 Kilometer Höhe. Dann senkte sich die Spitze ein wenig in die Horizontale. Es folgte die Zündung der zweiten Stufe. Der Testflugkörper Shefex II wurde mit Mach 10, das heißt der 10-fachen Schallgeschwindigkeit, in die Erdatmosphäre geschossen. Die kritischste Flugphase, der Wiedereintritt in die Atmosphäre, hatte begonnen. 50 Sekunden, in denen 300 Sensoren in der Keramikhaut von Shefex II Druck, Temperatur und Wärmefluss aufzeichnen und die Daten an die norwegische Radarstation bei Andøya funken sollten. Doch als der Flugkörper hoch über dem Meer hinter dem Horizont verschwand und eine Station auf Spitzbergen auf die Kontaktübernahme wartete, riss der Datenstrom plötzlich ab.

„Da hat uns die Software einen Strich durch die Rechnung gemacht“, erklärte Weihs später nach der Fehlerauswertung. Die Programmroutine war zuvor Dutzende Male getestet worden, versagte aber im entscheidenden Moment. Weihs vermutet, dass der Fallschirm korrekt aufgegangen war und das Projektil mitsamt einem Schwimmkörper behutsam irgendwo auf dem offenen Meer abgesetzt hatte. Doch der Seegang war rau, eine Bergung trotz Peilsender nicht möglich. Heute ruht Shefex II irgendwo auf dem Meeresgrund vor Spitzbergen. Die Suche danach wäre zu aufwendig, die Bergung zu teuer.

Feierlaune nach dem Verlust

Am liebsten hätte Weihs die Shefex-II-Kapsel bei sich im Stuttgarter DLR-Institut für Bauweisen- und Konstruktionsforschung in eine Vitrine gestellt – nachdem er die letzten drei Sekunden aus dem Speicher geholt hätte. „Es wäre toll gewesen, einen Blick auf die Spitze zu werfen“, sagt der Ingenieur. Dort wird es während des Flugs bis zu 2000 Grad Celsius heiß. Die Spitze, Nase oder Vorderkante eines Raumflugzeugs ist die kritische Zone beim Wiedereintritt in die Atmosphäre. „Den überwiegenden Teil der Daten haben wir“, meint Weihs. Die Wissenschaftler haben damit Futter für Jahre. Und so knallten trotz des verlustreichen Endes die Sektkorken unter der Mitternachtssonne von Andøya.

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Der Wiedereintritt in die Lufthülle ist die große Herausforderung für die Raumfahrt – ob bemannt oder unbemannt. Denn die ganze Energie, die der Rakete beim Start mitgegeben wird, steckt dann in Lage- und Bewegungsenergie des Projektils, Satelliten oder Raumfahrzeugs. Holt man den Flugkörper zurück, muss die Energie abgeführt – die Sonde also abgebremst – werden.

Schutz vorm Verglühen

Dafür gibt es zwei Methoden. Einmal lässt sich die Kapsel durch Raketenantrieb auf Gegenschub verlangsamen. Doch der dazu nötige Treibstoff und das Material müssten schon beim Start mitgeführt werden. Das scheidet aus wirtschaftlichen Gründen aus. Die Methode der Wahl ist daher, den Luftwiderstand der Atmosphäre zum Bremsen zu nutzen. Doch das ist alles andere als einfach. Denn wegen der großen Wiedereintrittsgeschwindigkeit entwickeln sich an der Vorderseite des Flugkörpers durch die Luftreibung extrem hohe Temperaturen. Das ist der Grund, weshalb ein Meteorit beim Eintritt in die Erdatmosphäre verglüht. Einem Raumfahrzeug soll das nicht passieren. Bei Flugkörpern, die zur Erde zurückkehren, danach aber nicht wiederverwendet werden, opfern Ingenieure daher die Außenhaut aus Kork oder Kunststoff, die sie abbrennen oder verglimmen lassen.

Bei wiederverwendbaren Raumfahrzeugen – Paradebeispiel ist das inzwischen ausrangierte Space Shuttle – wirken Zehntausende Keramikkacheln auf dem geschwungenen Rumpf als Hitzeschutz. „Doch das ist aufwendig und teuer. Jede Kachel hat eine spezielle gekrümmte Form. Keine gleicht der anderen“, erklärt Weihs. Über einem Glas Bier hat der Ingenieur mit Kollegen vor etwas über zehn Jahren eine Alternative ersonnen. „Warum muss man so komplex gekrümmte Platten bauen?“, fragte Weihs den DLR-Kollegen und Aerodynamiker José Longo. „Würden nicht flache Keramikkacheln reichen?“ Das müsste gehen, waren sich die beiden Forscher einig. Sie kamen auf die Idee, ein wiedereinsetzbares facettiertes Raumfahrzeug zu realisieren. „Ganz neu war die Idee einer Struktur mit Ecken und Kanten nicht – aber noch keiner hatte sich daran getraut“, sagt Hendrik Weihs.

Doch der Anfang des neuen DLR-Projekts „Shefex“ war erst einmal enttäuschend. In den 1990er-Jahren hatten die Forscher gemeinsam mit der US-Weltraumbehörde NASA unter dem Codenamen „ X-38″ einen Raumgleiter entwickelt. X-38 sollte aussehen wie ein Mini-Space Shuttle. Es war als Rettungsschiff für die Astronauten an Bord der Internationalen Raumstation ISS geplant. Doch Anfang 2002 fiel es dem Rotstift zum Opfer. Den Thermalschutz für die Raumgleiter-Nase hatte das DLR da bereits entwickelt. „Wir hatten im Prinzip alles fertig“, sagt Weihs.

Fliegen wie Batman

Im Zentrum seines neuen Projekts stehen Raumflugkörper mit Ecken und Kanten. Daher rührt auch der Projektname „Shefex“, ein Akronym für „Sharp Edge Flight Experiment“. Das Projekt soll bis 2020 alle wichtigen Material- und Konstruktionsfragen für scharfkantige Wiedereintrittsfahrzeuge klären – und in den Bau eines eigenen Raumgleiters münden. Dieser sogenannte Rex Free Flyer könnte dann Stunden bis Tage in einem tief liegenden Erdorbit um den Globus kreisen, dort wissenschaftliche Experimente in der Schwerelosigkeit ausführen und danach zur Erde zurückkehren. „Der Rex Free Flyer ist eine Mischung aus Raumkapsel und Batmobil“, sagt Weihs. Mit dem Batmobil, dem futuristischen Fahrzeug aus der Comicserie „Batman“, hat Rex Free Flyer die Form gemeinsam: facettenartig mit Kacheln überzogen, vorn mit scharfkantiger Nase, ohne Flügel, aber mit Klappen am Heck zum Steuern.

Mit dem Shefex-Projekt verbindet Weihs zwei Ziele. Da ist einerseits die Eroberung des erdnahen Orbits für Wiedereintrittsfahrzeuge. „Vielleicht wird das dereinst so selbstverständlich sein, wie es heute Transatlantikflüge sind.“ Andererseits ist da die Vision, die Tür für die Raumfahrt noch weiter aufzustoßen. „Wir erarbeiten die Grundlagen für eine Art Baukasten zukünftiger Raumfahrtmissionen“, erklärt Weihs.

Auf dem Boden irdischer Tatsachen geht es indes nur mit gemächlichen Schritten voran. Den überwiegenden Teil seiner Arbeit erledigt Weihs am Schreibtisch. Der ist von Papieren übersät: Finanzierung, Ergebnisse, Dokumentation. Wenn der Ingenieur kurz aufschaut, ruht sein Blick auf der Weltkarte hinter dem Monitor.

Endstation AM ZOLL

Mit Fingerzeig auf die Karte gibt Hendrik Weihs den Überblick: In Australien hätte das Team gern Shefex II fliegen lassen. Die australischen Forscher kooperieren eng mit dem DLR. Doch das Vorhaben scheiterte an der Bürokratie. Der Grund: Der von einem Zulieferunternehmen gebaute Raketenmotor enthielt geringe Mengen Asbest, das nicht nach Australien importiert werden darf. „Wir haben Dokument um Dokument vorgelegt, bis klar wurde, dass wir die Raketenmotoren nicht einführen durften“, erklärt er. Weihs hat das Scheitern in einer Karikatur festgehalten: Eine Zugmaschine mit Raketenanhänger bleibt in einem Berg von Antragsdokumenten am australischen Zoll stecken. Also flog Shefex II von Norwegen nach Spitzbergen. Weihs deutet auf Brasilien: Den nächsten Flugkörper, Shefex III, wird sein Team in Südamerika testen, vermutlich 2016. Die ersten Workshops zur Auslegung von Shefex III laufen schon. Zu Details schweigt der Projektleiter. „ Das bleibt zunächst im kleinen Kreis.“

Mit den experimentellen Raumgleitern Shefex I, II und III steigern sich die Forscher immer weiter beim wissenschaftlichen Anspruch – und auch bei den Kosten. Shefex I, 2005 geflogen und leider auch im Meer verschwunden, schraubte sich bis 200 Kilometer hoch und donnerte mit Mach 6 als ungesteuertes Projektil in die Atmosphäre. Die Kosten lagen bei fünf Millionen Euro. „Wichtig an Shefex I war, dass sich unser Team zusammengefunden hat“, sagt Weihs. Shefex II indes konnte durch Canards – bewegliche Steuerflossen am Vorderteil des Flugkörpers – gesteuert werden. Die Rückkehrgeschwindigkeit betrug 2,8 Kilometer pro Sekunde (Mach 10), die Kacheln hielten eine Temperatur von 1600 bis 2000 Grad Celsius in der Spitze aus. Mit 50 Sekunden dauerte der Wiedereintritt deutlich länger als beim Vorgänger, der 20 Sekunden benötigte.

Flexibler als das Space Shuttle

Die beiden wichtigsten Experimente waren die Flug- und Lagesteuerung durch die Canards sowie eine spezielle aktive Kühlung. „Die Flugsteuerung hat gut funktioniert“, sagt Thino Eggers vom DLR-Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik in Braunschweig nach einer ersten Auswertung der Flugdaten. Eggers legt die Raumgleiter aerodynamisch aus. Im Flug konnten die Ingenieure Shefex II um 110 Grad auf den Rücken und wieder zurück drehen. Sie erhoffen sich durch das Steuern mit Gasdüsen in den luftleeren oberen Atmosphärenschichten und mit Steuerrudern im dichten unteren Teil der Atmosphäre eine größere Flexibilität bei Wiedereintritt und Landemanöver. Der Zielkorridor könnte ein ganzer Kontinent sein. „Damit wären wir sogar flexibler als das Space Shuttle – und das ohne Extraflügel“, sagt Weihs.

Erfolgreich war auch die sogenannte Effusionskühlung einer Experimentalkachel am Raumgleiter. In einer solchen Kachel lassen die Forscher Stickstoff nach außen strömen. Das Gas nimmt die Wärme der Kachel mit und bildet einen kühlenden Film auf der Außenhaut. Shefex III soll diese Kühlung erstmals in der Nasenkante tragen, da sich bei größeren Eintrittsgeschwindigkeiten von 5,5 Kilometern pro Sekunde vor allem die Ecken und Kanten stark aufheizen. Der Vorteil der Ecken und Kanten liegt in der besseren Manövrierfähigkeit und dem geringeren Luftwiderstand des Flugkörpers. Allerdings steigen die Temperaturen an der Stoßkante überproportional an: Je kleiner der Kantenradius, desto stärker die Aufheizung. Dieses Problem konnten die Wissenschaftler mithilfe der innovativen Gaskühlung meistern.

Um im vorgesehenen Kostenrahmen von 24 Millionen Euro zu bleiben, machten die Forscher Abstriche bei der Manövrierfähigkeit. Shefex III wird nur über Klappen und ein verschiebbares Gewicht im Rumpf gesteuert. Für die Flugsteuerung steigt mit Astrium erstmals ein Industrieunternehmen in das Projekt ein. „Wir erarbeiten die technische Basis und liefern ein Konzept für ein Wiedereintrittsfahrzeug“, sagt Hendrik Weihs. Die Umsetzung in einen Prototypen oder ein vermarktbares Produkt ist dann Sache der Industrie. Das DLR-Projekt wird sich daher weiteren Partnern öffnen. Raumfahrtingenieur Weihs will das Wiedereintrittsprojekt des DLR bis hin zum Rex Free Flyer und bis 2020 zu einem guten Ende führen. ■

MARTIN SCHÄFER freut sich über Ingenieure, die mit ihren Ideen abheben, aber trotzdem auf dem Boden der Tatsachen bleiben.

von Martin Schäfer

Hendrik Weihs

Als Kind hatte er die erste Mondlandung von Apollo 11 live auf dem Bildschirm verfolgt: „Mit meinen Eltern saß ich früh morgens vor dem Fernseher.“ Der Junge war fasziniert. Doch an den Modellbaukasten für Orbiter und Mondfähre seines älteren Bruders durfte er nicht heran. Das war bitter. Später fand Hendrik Weihs sein Glück in den Werkstätten der Stuttgarter Merz-Schule. Dort konnte er drucken, töpfern, Holz bearbeiten. Nach einer halben Schreinerlehre – mit dem Berufswunsch Möbelrestaurator, nach dem Vorbild des Vaters, eines Gemälderestaurators im Landesmuseum Württemberg – entschied sich Weihs nach dem Abitur in Kunst und Physik für die Universität. Er studierte zwei Semester Elektrotechnik in Karlsruhe und entdeckte sein Faible für den Weltraum neu. Das Studium der Luft- und Raumfahrttechnik an der Universität Stuttgart führte ihn zu den benachbarten Instituten des DLR. „Dort war ich zunächst als Hilfswissenschaftler angestellt und bin dann irgendwie hängen geblieben“, sagt der heutige Raumfahrtexperte. Der Hilfswissenschaftler mauserte sich zum Chefforscher. Heute ist Hendrik Weihs 50 Jahre alt, ein ruhiger, zielstrebiger Ingenieur, so etwas wie Deutschlands Mann für den Wiedereintritt. Unter seiner Federführung bündelte das DLR das Know-how von fünf Instituten aus verschiedenen Bereichen für ein eigenes Wiedereintrittsforschungsprojekt. Weihs: „Wir wollen Raumfahrt bezahlbar machen.“

Kompakt

· Die Raumkapsel-Spitze wird beim Eintritt in die Atmosphäre sehr heiß.

· Beim Space Shuttle fingen teure Schutzkacheln die Gluthitze ab.

· Die neue Technologie ist einfacher und billiger.

Mehr zum Thema

Internet

Infos zu Shefex vom DLR: www.dlr.de/dlr/desktopdefault.aspx/ tabid-10548/year-all

DLR-Institut für Bauweisen- und Konstruktionsforschung in Stuttgart: www.dlr.de/bk

Fakten zum eingestellten Projekt X-38 für ein Rückkehrvehikel aus dem All (NASA): www.nasa.gov/centers/dryden/news/FactSheets/FS-038-DFRC.html

Grundlagen der Raumfahrt (von der NASA): www2.jpl.nasa.gov/basics/index.php

Teamwork für den Weltraum

An Shefex beteiligen sich Forscher aus den DLR-Instituten für Bauweisen- und Konstruktionsforschung, Aerodynamik und Strömungstechnik, Raumfahrtsysteme, Flugsystemtechnik sowie Werkstoff-Forschung, den Einrichtungen Raumflugbetrieb und Astronautentraining sowie Simulation und Softwaretechnik, dem Systemhaus Technik und der Mobilen Raketenbasis Moraba.

Shefex in vier Stufen

Mission S I S II S III Rex Free Flyer

Jahr des Flugs 2005 2012 2016 ca. 2022

Flughöhe (Kilometer) 200 250 180 300–400

Flugweite (Kilometer) 200 900 4000 niedriger Erdorbit

Flugdauer (Minuten) 6 8 27 Stunden bis Tage

Wiedereintrittsdauer (Sekunden) 20 50 15 30

Geschwindigkeit (Kilometer pro Sekunde) 1,6 2,8 6,5 7,8

Machzahl 6 10 20 27

Temperaturspitze (Grad Celsius) 700 1600–2000 2500 2500

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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