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3 Quarks, 4 Asse und 1 Higgs

Astronomie|Physik Geschichte|Archäologie

3 Quarks, 4 Asse und 1 Higgs
Vor 50 Jahren glückte der entscheidende Durchbruch zum Mikrokosmos. Das hat die Teilchenphysik revolutioniert.

Das Standardmodell der Elementarteilchen ist „ein grotesk bescheidener Name für eine der größten Leistungen der Menschheit“ , sagt der Physik-Nobelpreisträger Frank Wilczek vom Massachusetts Institute of Technology. „Es fasst in bemerkenswert kompakter Form fast alles zusammen, was wir über die fundamentalen Gesetze der Physik wissen. Sämtliche Phänomene der Kernphysik, Chemie, Materialwissenschaft und Elektrotechnik – hier steckt alles drin. Und anders als bei der verbalen Gymnastik der klassischen Philosophie geht es mit exakten Algorithmen einher, deren Symbole ein Modell der physikalischen Welt entfalten. Das erlaubt es, überraschende Vorhersagen zu machen und zum Beispiel exotische Laser, Kernreaktoren und ultraschnelle, kleine Computerspeicher mit großer Zuverlässigkeit herzustellen.“

Wilczek kann seine Begeisterung kaum zügeln: „Die Regeln erscheinen zunächst etwas kompliziert, aber das ist nichts im Vergleich beispielsweise zu den Konjugationen einiger irregulärer Verben in Latein oder Französisch. Und diese Regeln sind nicht beliebig. Sie werden durch die experimentellen Tatsachen erzwungen.“

Das ist nicht übertrieben: Das Standardmodell der Elementarteilchen ist eine der größten wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Geschichte der Menschheit. Vor 50 Jahren wurden zwei seiner wesentlichen Bestandteile formuliert: das Modell der Quarks und der Higgs-Mechanismus. Keine zehn Jahre später war es in der Theorie komplett – und ist es bis heute geblieben. Es hat alle experimentellen Überprüfungen mit Bravour bestanden. Und alle von ihm vorausgesagten Elementarteilchen wurden mit den Jahren mit immer größerem Aufwand nachgewiesen: zuletzt 1995 das Top-Quark, 2000 das Tau-Neutrino und 2012 das Higgs-Boson (bild der wissenschaft 11/2012, „Higgs Higgs Hurra!“ ).

Vom Teilchenzoo zum Standardmodell

„Standardmodell“ sei eine wohlüberlegte Untertreibung gewesen, sagt Steven Weinberg von der University of Texas in Austin, der den Begriff 1974 prägte. „Ich wollte nicht, dass daraus ein Dogma wird. Es sollte vielmehr die Grundlage sein für Diskussionen und Experimente, die auch zu dem Resultat hätten führen können, dass das Modell falsch ist“, erinnert sich der Physik-Nobelpreisträger von 1979. „Wir haben am Schreibtisch mit mathematischen Ideen herumgespielt und dann gesehen, wie Experimente für ein paar Milliarden Dollar sie bestätigten. Es gibt wirklich nichts, was sich damit vergleichen lässt.“

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Das Standardmodell der Elementarteilchen beschreibt die gesamte bekannte Materie und alle Kräfte, außer der Gravitation. Es teilt die Partikel in Fermionen und Bosonen ein. Fermionen haben einen halbzahligen Spin – eine Art Eigendreh-impuls, der aber nur quantenmechanisch zu verstehen ist – und bilden die Materie. Bosonen besitzen einen ganzzahligen Spin und übertragen die Kräfte: die Schwache und die Starke Kraft innerhalb des Atomkerns und die Elektromagnetische Kraft mit im Prinzip unbeschränkter Reichweite.

Nach der Entdeckung des Elektrons (1897), Protons (1917) und Neutrons (1932) schien der Aufbau der Materie verstanden zu sein. Und für die Alltagswelt stimmte das auch näherungsweise. Doch dann kam es zu einer wahren Flut neuer Partikel. Der erste Neuzugang, das Positron (1932), war kurz zuvor von Paul Dirac vorausgesagt worden, der eine ganze Gegenwelt aus Antimaterie postuliert hatte (bild der wissenschaft 6/2012, „Antimaterie: Vorstoß in die Gegenwelt“).

Gleich darauf, 1936, wurde das Myon in der Kosmischen Strahlung entdeckt – es ist ein schwerer Bruder des Elektrons, wie sich später zeigte. „Wer hat das bestellt?“, fragte der Physik-Nobelpreisträger Isidor Rabi überrascht – und gab selbst die Antwort: Niemand! Sterne, Planeten und Leben würde es auch ohne dieses Teilchen geben.

1947 wurden in der oberen Erdatmosphäre positiv und negativ geladene Pionen nachgewiesen, 1948 dann mit einem Protonenbeschleuniger im kalifornischen Berkeley auch künstlich erzeugt, 1950 kamen neutrale Pionen dazu. Und dabei blieb es nicht. Es folgten viele weitere Partikel, darunter die Kaonen, Hyperonen, Delta-, Lambda- und Sigma-Teilchen. In den 1970er-Jahren wurde zuweilen fast wöchentlich ein neues Teilchen gefunden – inzwischen zählt man rund 300. Die meisten davon sind äußerst kurzlebig mit Halbwertszeiten von weniger als einer Millionstel Sekunde.

Die Situation wurde mit der Zeit immer verwirrender. Falls diese Partikel alle elementar wären, dann ließe sich die Vielfalt der Welt nicht mehr einfach erklären, wie es schon der antike Atomismus versucht hatte. Physiker waren ratlos. „Wenn ich die Namen von all diesen Teilchen behalten könnte, würde ich Botaniker werden“, drückte Enrico Fermi einmal sein Unbehagen aus. Dass alle Mitglieder dieses Sammelsuriums gleichermaßen elementar sind, erschien immer unplausibler. Trotzdem wurde das Konzept einer „nuklearen Demokratie“ erwogen: Demzufolge sollte jedes Teilchen aus anderen Teilchen zusammengesetzt sein, ohne dass einzelne Partikel fundamentaler als andere wären – wobei aber bestimmte physikalische Erhaltungssätze erfüllt sein müssten. Dann gäbe es nicht ein paar wenige Elementarteilchen, aus denen alle anderen Partikel bestehen. Vielmehr wären alle Teilchen gleichberechtigt und würden sich wechselseitig aufbauen. Doch in den 1960er-Jahren setzte sich ein fundamentalerer Ansatz durch, der in den 1970er-Jahren zum Standardmodell der Elementarteilchen avancierte (siehe Grafik S. 60: „Das Teilchenpanorama der Welt“).

Physik gegen Langeweile

Unter den exotischen Bewohnern im sogenannten Teilchenzoo waren „seltsame Teilchen“ mit einer ungewöhnlich langen Lebensdauer (wenn auch nur von Sekundenbruchteilen). Diese Extravaganz ließ sich nicht mit dem bestehenden Modell der Starken Wechselwirkung erklären. Murray Gell-Mann, ein Physiker am California Institute of Technology, führte deshalb 1952 kurzerhand eine neue Quantenzahl ein, um die Seltsamkeit zu beschreiben – und nannte sie treffend „strangeness“.

Damit gelang es ihm, ein Ordnungsschema aufzustellen und die neu entdeckten Teilchen in Paare, Dreier- und Vierer-Konfigurationen zu gruppieren: Dublette, Triplette und Quadruplette von Teilchen mit ähnlicher Masse, aber unterschiedlicher Ladung. Ein Beispiel für eine solche Gruppe sind Proton, Neutron, die Pionen p-, p0 und p+ sowie die Delta-Teilchen Δ-, Δ0, Δ+ und Δ++. Eine weitere Quantenzahl wurde in Analogie zum Spin als Isospin bezeichnet (von griechisch „iso“ für gleich). Isospin-Multiplette unterscheiden sich nur durch die Ladung ihrer Mitglieder.

1961 fand Murray Gell-Mann eine noch größere Ordnungsstruktur, die Supermultiplette, die auf den Quantenzahlen Isospin, Ladung, Seltsamkeit und Hyperladung basieren. Unabhängig von ihm kam Yuval Ne’eman aus Tel Aviv auf dieselbe Idee. Der Ingenieur und Offizier arbeitete in London als Attaché der israelischen Botschaft, langweilte sich sehr dabei und besuchte deshalb Physik-Vorlesungen des aus Pakistan stammenden Abdus Salam am Imperial College.

Die Mathematik der Erleuchtung

Bald wurde den Theoretikern klar, dass diese Ordnungsschemata der Singulette, Oktette und Dekuplette Darstellungen einer bestimmten mathematischen Symmetriegruppe namens SU(3) sind. Das ist eine Spezielle Unitäre Transformation in einem abstrakten dreidimensionalen Raum. Es zeigte sich außerdem, dass sich auch Mesonen als Oktett beschreiben lassen: aus drei Pionen, vier K-Mesonen und dem neutralen h-Meson. Gell-Mann nannte diese phänomenologische Theorie den „Achtfachen Pfad“ – in Anspielung auf eine der „vier edlen Wahrheiten“ der buddhistischen Heilslehre.

Ihr zufolge führt der Pfad zur Überwindung des Leidens über acht Stufen: die rechte Anschauung, rechte Absicht, rechte Rede, rechte Taten, rechte (berufliche) Lebensführung, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit und rechte Konzentration. Er mündet in einen Zustand vollkommener Versenkung. Aber auch das rechte Mathematikstudium und die Versenkung in die Gruppe SU(3) kann zur Überwindung des Leidens – und zur Erleuchtung führen: dass sich nämlich SU(3) durch acht dreidimensionale lineare unabhängige hermitesche Matrizen erzeugen lässt, denen durch Vertauschungsrelationen acht Gruppenkonstanten zugeordnet sind – also acht Parameter, wie sie Gell-Mann für sein physikalisches Modell benötigte.

Das alles mag dem Laien wie ein Mantra-Gesang in einem Kloster aus Elfenbein vorkommen – und viele von Gell-Manns Kollegen waren damals nicht gerade begeistert. Doch er hatte einen gewaltigen Trumpf: Nachdem in den 1950er-Jahren in Berkeley bereits das Delta-Teilchen beim Beschuss von Atomkernen mit Pionen erzeugt worden war (es hat 1230 Megaelektronenvolt und den Spin 3/2) sowie analog die Sigma- und Chi-Teilchen, waren neun Partikel bekannt, die in Gell-Manns Schema passten. Dem Modell zufolge musste es aber zehn geben. Daher sagte Gell-Mann die Existenz dieses fehlenden Teilchens voraus, schätzte seine Masse anhand der Symmetriebedingungen auf 1670 Megaelektronenvolt und nannte es „Omega-minus“ (siehe Grafik links „Der Achtfache Pfad …“). Tatsächlich wurde dieses Ω– 1964 am Brookhaven National Laboratory entdeckt – mit den prognostizierten Eigenschaften (Masse: 1672 Megaelektronenvolt).

Das überzeugte viele Skeptiker davon, dass die Gruppe SU(3) eine relevante Beschreibung der Natur ist und nicht einfach nur artifizielle Gedankenakrobatik. Wie sich später herausstellte, ist sie eine der drei Symmetriegruppen, die im Grunde das Standardmodell der Elementarteilchen darstellen. Doch etwas Mysteriöses haftete ihr gleichwohl an – und es zeichnete sich ab, dass eine mathematische Repräsentation des Teilchenzoos, wie raffiniert auch immer, nicht das Ende der Bohrstange in die Fundamente der Materie sein konnte.

1963 und 1964 arbeitete Gell-Mann an einer physikalischen Interpretation seiner SU(3)-Symmetriegruppe. Er entdeckte, dass sich alles logisch fügte und erklären ließ, wenn man diverse Teilchen des Zoos als zusammengesetzt betrachtet – aufgebaut aus elementareren Entitäten. Gell-Mann nannte sie Quarks (was er „ kworks“ aussprach).

Dreikäsehochs der Physik

Der Physiker hatte sich dabei von James Joyce inspirieren lassen. In dessen Roman „Finnegans Wake“ von 1939 heißt es: „ Three quarks for Muster Mark! / Sure he hasn’t got much of a bark / And sure any he has it’s all beside the mark.“ Was etwa bedeutet: Drei Dreikäsehochs („quarks“) sind so viel wert wie ein richtiger Mann. Die drei Kinder von Mr. Mark – der eigentlich Mr. Finn ist – treten manchmal für diesen auf. Eine seltsame Story, die gut zur seltsamen Elementarteilchenphysik passt, wo ein Proton sich wie Mr. Mark als drei interagierende Quarks darstellt. Kurzum: In der Physik „menschelt“ es. Und wer sie schwierig findet, der kann sich damit trösten, dass er es mit „ Finnegans Wake“ nicht leichter hat.

Übrigens war Joyce angeblich auch die deutsche Bedeutung von „ Quark“ bekannt – er hatte das Wort wohl in Freiburg bei Marktfrauen gehört, die Quark verkauften. Gell-Mann gefiel außerdem, dass „Quarks“ auf der Seite 383 seiner „Finnegans Wake“ -Ausgabe stand – die Drei und die Acht spielten in seinem Modell ja eine wichtige Rolle.

Die Quarks mussten elektrisch geladen sein, allerdings in Dritteln der Elementarladung (die durch den Betrag der Ladung des Elektrons definiert ist). Das war eigenartig und nie direkt beobachtet worden. Gell-Mann wollte die Idee trotzdem rasch publizieren und reichte einen Artikel bei der Zeitschrift Physics Letters ein, weil er dachte, die renommierteren Physical Review Letters würde sie wegen der postulierten Drittelladungen nicht annehmen.

Tatsächlich hätte Jacques Prentki vom CERN, der Herausgeber der Physics Letters, die Arbeit abgelehnt, wenn sie von einem unbekannteren Autor gestammt hätte. So aber dachte er, dass Gell-Mann dafür verantwortlich sei, wenn sich alles als Unsinn herausstellen würde, dass er selbst jedoch an den Pranger käme, wenn sich die Idee als richtig erweisen würde und er den Artikel nicht hätte drucken lassen. Deshalb akzeptierte er ihn.

Vier Asse und das umstrittene Quark

Unabhängig von Gell-Mann kam George Zweig am CERN ebenfalls zum Ergebnis, dass Hadronen aus kleineren Konstituenten zusammengesetzt sind. Er nannte die Objekte „Aces“ – nach den vier Assen bei Spielkarten –, weil er vier verschiedene Arten dieser Partikel vermutete.

Zweig hatte am Caltech studiert und kannte Gell-Mann, bei dem er promovieren wollte. Doch der ging für ein Sabbatical an die Ostküste und empfahl als Doktorvater Richard Feynman ein paar Büros weiter – kein schlechter Rat. Zweig entwickelte seine Überlegungen dann während eines Forschungsaufenthalts am CERN. In der Theorie-Gruppe dort hieß es, er müsse sie in einer europäischen Zeitschrift publizieren, doch Zweig wollte eine Veröffentlichung in den USA. Schließlich entschied er, den Artikel gar nicht zu publizieren – er existiert kurioserweise bis heute nur als Vorabdruck (CERN-Preprint). Zweig durfte sein Modell nicht einmal in einem Seminar am CERN vorstellen. Und so stand und steht er im Schatten Gell-Manns, obwohl er fast gleichzeitig dieselbe Idee hatte. Immerhin verhalf ihm Gell-Mann zu einer Professur am Caltech.

1964 waren sich Zweig und Gell-Mann über die Bedeutung der Quarks beziehungsweise Aces nicht einig. Gell-Mann betrachtete sie zunächst bloß als Ladungsquarks, während Zweig sie als echte Konstituentenquarks ansah, deren Existenz Gell-Mann anzweifelte. 1972 wurde daher ein gemeinsam verfasster Artikel für die populärwissenschaftliche Zeitschrift Scientific American nicht fertiggestellt. Er erschien nie.

Gell-Mann erhielt 1969 den Physik-Nobelpreis für sein mathematisches Ordnungsschema der SU(3)-Symmetriegruppe. Quarks wurden dabei nicht explizit genannt, denn damals akzeptierten viele Physiker ihre Existenz nicht – im Gegensatz zu heute. Auch Richard Feynman konnte dem Modell zunächst nichts abgewinnen. Er sprach wiederholt von „Quirks“ (englisch für „Laune, Marotte, Spleen“) – einer der Gründe für sein angespanntes Verhältnis zu seinem Kollegen Gell-Mann, der nicht minder polemisch war.

Umso größer war Gell-Manns Überraschung, als ihm George Zweig – der sich längst von der Physik abgewandt hatte und sich mit der Neurobiologie des Gehörs beschäftigte – bei einer Rede im Jahr 2010 an der Universität Singapur anlässlich von Gell-Manns 80. Geburtstag einen Brief zeigte. Den hatte Feynman im Januar 1977 an das Stockholmer Nobelpreis-Komitee geschickt und darin Gell-Mann und Zweig für den Physik-Nobelpreis nominiert – wahrscheinlich Feynmans einziger Vorschlag überhaupt. Genutzt hatte das aber nichts.

Abstrakte Symmetrieprinzipien ermöglichten es also, Ordnung in den Teil- chenzoo zu bringen, bis hin zum Quark- Modell. Aber sie können noch mehr. Sie sind unverzichtbar für die Beschreibung der Naturkräfte. Und sie liegen einem heute als Higgs-Mechanismus bezeichneten Vorgang der Symmetriebrechung zugrunde, der ebenfalls vor 50 Jahren entdeckt wurde. Wesentlich dazu beigetragen haben die Forschungen von François Englertund Peter Higgs, die beide 2013 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurden.

Eines der großen physikalischen Probleme damals war das Verständnis der Schwachen Wechselwirkung. Sie ermöglicht die Kernfusion in der Sonne und ist an bestimmten Arten des radioaktiven Zerfalls beteiligt – denn sie kann Quarks ineinander umwandeln, wie sich später zeigte. Im Gegensatz zu den anderen Kräften verletzt sie bei manchen Teilchenzerfällen auch die Parität (Spiegelung), das heißt sie unterscheidet gleichsam zwischen rechts und links.

Erste Versuche, die Schwache Wechselwirkung im Rahmen einer Quantenfeldtheorie zu beschreiben – wie es zuvor bei der Quantenelektrodynamik mit der Elektromagnetischen Kraft gelang –, erfolgten von mehreren Physikern in den 1950er-Jahren. Allerdings konnten diese Ansätze nicht erklären, warum die Schwache Kraft nur eine kurze Reichweite besitzt (etwa 10–18 Meter) – im Gegensatz zur Elektromagnetischen Kraft, die sich im Prinzip bis ins Unendliche erstreckt.

Auch Unendlichkeiten plagten den mathematischen Formalismus, was verhinderte, mit den Gleichungen überprüfbare Voraussagen zu machen. Das galt auch für den ersten Versuch, eine einheitliche Beschreibung der Schwachen und der Elektromagnetischen Wechselwirkung auf Grundlage der mathematischen Symmetriegruppen SU(2) x U(1) zu finden. Sie wurde 1961 von Sheldon Lee Glashow formuliert, der damals mit Murray Gell-Mann am Caltech arbeitete (und kurioserweise mit Steven Weinberg in derselben Schulklasse gewesen war).

Allmählich wurde deutlich, dass die hypothetischen Teilchen, die die Schwache Wechselwirkung vermitteln, eine Ruhemasse besitzen müssen – anders als das masselose Photon, das die Elektromagnetische Wechselwirkung überträgt. Nur so bleibt die Kraft auf eine kurze Reichweite beschränkt. Diese sogenannten intermediären Vektorbosonen heißen heute W+, W – und Z0. In den theoretischen Erklärungsversuchen, auch in Glashows Modell, hatten aber nur masselose Bosonen einen Platz. Die hätten allerdings längst entdeckt werden müssen – und es sollte sie eigentlich auch gar nicht geben.

Daher hatte Yoichiro Nambu 1960 argumentiert, dass die Symmetrie in der Theorie der Schwachen Wechselwirkung „gebrochen“ sein muss. Ein solcher Prozess würde den Bosonen eine Masse verleihen. Eine Analogie hierzu aus einem anderen Bereich der Physik, der Theorie der Supraleitung, schlug Philip Anderson dann 1963 vor. Damit nahm er im Prinzip die Idee des Higgs-Mechanismus vorweg, was aber nicht erkannt beziehungsweise akzeptiert wurde.

Eine Möglichkeit der Symmetriebrechung besteht in der Wechselwirkung mit einem Skalarfeld. Ein solches Feld hat im Gegensatz zu Vektorfeldern, etwa einem elektrischen oder einem magnetischen Feld, keine Richtung, sondern nur einen Wert an jedem Ort im Raum. Diese skalare Symmetriebrechung hatte Jeffrey Goldstone 1961 vorgeschlagen, auch mit der Supraleitung als Analogie. Der Mechanismus selbst blieb aber weiterhin unklar.

Symmetriebrechung nach dem Urknall

Dieses Problem wurde drei Jahre später gelöst: Es zeigte sich, dass die Vektorbosonen der Schwachen Wechselwirkung sehr wohl eine Masse erhalten, wenn sie mit einem Skalarfeld interagieren, dessen Symmetrie auf bestimmte Weise gebrochen ist.

Das erste Modell hierzu entwickelten François Englert und Robert Brout (der 2011 starb und daher keinen Nobelpreis mehr bekommen konnte) im Rahmen einer Quantenfeldtheorie. Ihre Arbeit traf am 26. Juni 1964 bei der Zeitschrift Physical Review Letters ein. Unabhängig von ihnen kam Peter Higgs im Rahmen einer klassischen Feldtheorie zum selben Ergebnis. Seinen ersten Artikel reichte er am 27. Juli bei den Physics Letters ein, einen weiteren am 31. August. Diesen zweiten lehnte der Gutachter als „ irrelevant für die Physik“ ab. Daraufhin fügte Higgs einige Sätze hinzu, darunter den eigentlich selbstverständlichen Schluss, dass es ein Quant des Skalarfelds geben müsse, wenn dieses existiert, und schickte den Artikel an die Konkurrenz-Zeitschrift Physical Review Letters.

Dieses Quant – das Englert und Brout nicht erwähnt hatten, das aber aus einer Quantenfeldtheorie folgt – wird Higgs zu Ehren seit den 1970er-Jahren Higgs-Teilchen oder -Boson genannt. Wiederum unabhängig von Englert, Brout und Higgs fanden Tom Kibble, Gerald Guralnik und Carl Hagen dieselbe Erklärung im Rahmen eines quantenmechanischen Operator-Formalismus. Sie reichten ihren Artikel am 12. Oktober bei den Physical Review Letters ein und fügten, nachdem ihnen die Arbeiten von Englert, Brout und Higgs bekannt wurden, vor dem Druck noch einen Hinweis auf diese ein.

Alle diese Artikel, die letztlich zum selben Ergebnis kamen, wurden zunächst kaum zur Kenntnis genommen oder sogar als falsch bewertet. Trotzdem präzisierten, ergänzten und erweiterten alle sechs Physiker ihre Modelle in weiteren Artikeln von 1966 und 1967. Zusammengefasst beschreibt der Brout-Englert-Higgs-Mechanismus – oder historisch gerechter Anderson-Brout-Englert-Higgs-Guralnik-Hagen-Kibble-Mechanismus – eine spontane Symmetriebrechung, die den Überträgerteilchen der Schwachen Wechselwirkung, und in der Folge auch anderen Elementarteilchen, eine träge Masse verleiht. Dies geschieht, weil sie mit einem Skalarfeld wechselwirken, dessen Quant das Higgs-Teilchen ist.

Alles passt zusammen

1967 erfolgte der Durchbruch. Steven Weinberg formulierte eine Theorie für die Elektroschwache Vereinheitlichung auf Basis der Symmetriegruppen SU(2) x U(1). Er verwendete dabei den von Higgs vorgeschlagenen Mechanismus (die Arbeiten von Englerts und Kibbles Team kannte er nicht), um den Vektorbosonen eine Masse zu verleihen sowie in der Folge auch den geladenen Leptonen, etwa dem Elektron. Abdus Salam kam kurz darauf unabhängig von Weinberg zum selben Ergebnis. Damit war die Elektroschwache Theorie im Prinzip vollendet. Glashow, Weinberg und Salam erhielten für diese Leistung 1979 den Physik-Nobelpreis.

Ab 1971 arbeiteten Gerard ‚t Hooft und Martinus Veltman den Beweis aus, dass die Theorie entgegen skeptischer Einwände keine widerspenstigen Unendlichkeiten aufweist, also „renormierbar“ ist. Dafür erhielten die beiden niederländischen Physiker 1999 den Physik-Nobelpreis. Nachdem Anfang der 1970er-Jahre auch eine Theorie der Starken Wechselwirkung (Quantenchromodynamik) im Rahmen des Quark-Modells formuliert wurde, unter anderem von David Gross, Frank Wilzcek und David Politzer, war das Standardmodell der Elementarteilchenphysik komplett. Es ist quasi die Kombination der Symmetriegruppen U(1) x SU(2) x SU(3).

Seitdem wurde das Standardmodell mit Teilchenbeschleunigern rigoros getestet und glänzend bestätigt. Alle bekannten Partikel werden in diesem Modell beschrieben beziehungsweise erklärt – und die meisten hat es sogar noch vor ihrem experimentellen Nachweis vorausgesagt. So auch die Vektorbosonen der Schwachen Wechselwirkung: Sie wurden 1983 am CERN mit dem Large Electron Positron Collider aufgespürt.

Bei drei beziehungsweise vier Quarks oder „Assen“ blieb es ebenfalls nicht, sondern es gibt inzwischen insgesamt sechs. Warum das so ist, wieso die Massen der Teilchen so sind, wie sie sind, weshalb das Higgs-Feld die Eigenschaften hat, die es hat, und warum die Kräfte ihre jeweilige Stärke besitzen – diese Fragen und einige mehr kann das Standardmodell nicht beantworten. Es muss also eine grundlegendere Theorie jenseits davon geben. Die Physiker suchen danach mit großem Aufwand – was hoffentlich nicht noch einmal 50 Jahre dauern wird. •

RÜDIGER VAAS, Physik-Redakteur von bdw, hat gerade ein umfangreiches Buch über Elementarteilchen veröffentlicht.

von Rüdiger Vaas

Kompakt

· 1964 wurden die Grundlagen für das bis heute gültige Standardmodell der Elementarteilchenphysik gelegt.

· Das war zum einen die Formulierung des Quark-Modells, das beispielsweise die Zusammensetzung von Proton und Neutron erklärt.

· Zum anderen war es die Beschreibung des Higgs-Mechanismus, der Elementarteilchen eine Masse verleiht – und so erst Atome ermöglicht.

Der Achtfache Pfad – und eine Prophezeiung

Mit diesem Schema brachte Murray Gell-Mann Ordnung in den verwirrenden Teilchenzoo: Er klassifizierte zahlreiche Partikel (rot) mithilfe einer abstrakten mathematischen Symmetriegruppe namens SU(3). Mesonen mit Spin 0 und 1 (oben) sowie Baryonen mit Spin 1/2 (links unten) werden als Oktette beschrieben, Baryonen mit Spin 3/2 als Dekuplett (rechts unten). „Koordinaten“ sind die Quantenzahlen Hyperladung (Y) und dritte Komponente des Isospins (I3). Dass dies keine Spielerei ist, zeigte die Voraussage des zunächst fehlenden Ω–-Teilchens (unten an der Dreieckspitze). Es ließ sich daraufhin experimentell tatsächlich nachweisen. Die Erklärung der Supermultiplette genannten Klassifikation erfolgte im Rahmen des Quark-Modells: Alle hier genannten Teilchen bestehen aus zwei oder drei up-, down- und strange-Quarks und -Antiquarks.

Das Teilchenpanorama der Welt

Das Standardmodell der Elementarteilchen beschreibt die Eigenschaften aller bekannten „fundamentalen“ Partikel und ihrer Wechselwirkungen. Materie (äußerer Ring) besteht aus sechs Quarks (obere Hälfte, die Buchstaben stehen für up, down, strange, charm, bottom, truth) und sechs Leptonen (unten). Hinzu kommen ihre jeweiligen Antiteilchen. Die elektrische Ladung der Quarks beträgt 2/3 oder -1/3, die der Leptonen -1 oder 0. Die Starke, Schwache und Elektromagnetische Wechselwirkung wird von Gluonen (g), von W- und Z-Eichbosonen beziehungsweise von Photonen (g) vermittelt (blaue innere Ringe). Quarks kommen in drei Zuständen („Farben“) vor, Gluonen in acht. Eichbosonen und in der Folge auch Quarks und Leptonen erhalten ihre träge Masse durch ihre Interaktion mit dem Higgs-Feld. Sein Quant ist das Higgs-Teilchen (H). Die Materie des „sichtbaren“ Universums, einschließlich des Menschen, ist völlig aus Elektronen (e) sowie up- und down-Quarks (u, d) aufgebaut. Aus den beiden letzteren bestehen die Protonen und Neutronen. Schwerere Quarks sowie Myonen ( µ) und Tauonen (t) sind instabil. Die elektrisch neutralen Neutrinos (n) wechselwirken mit den anderen Partikeln nur schwach.

Einsicht ins Proton

Werden sehr energiereiche, fast lichtschnelle Elektronen auf Protonen geschossen, rasen die meisten glatt hindurch. Einige Elektronen werden jedoch gestreut, das heißt abgelenkt. Dies lässt auf Unterstrukturen (Partonen) schließen, aus denen Protonen zusammengesetzt sind – konkret: ein down- und zwei up- Valenzquarks. Außerdem besteht das Proton noch aus einer diffusen Verteilung virtueller Quarks und Gluonen. Deren Bewegungs- und Bindungsenergie macht fast 99 Prozent der Masse des Protons aus, der Anteil der drei Valenzquarks ist dabei also sehr gering.

Sombrero und Symmetriebrechung

Das Higgs-Potenzial, die Aktivierung des Higgs-Mechanismus und die Grundlage des Higgs-Teilchens: Das Higgs-Feld wird durch ein Potenzial mathematisch beschrieben, das an einem Sombrero erinnert. Unmittelbar nach dem Urknall hatte das Feld einen symmetrischen Zustand und den Wert „0″, war also gleichsam ausgeschaltet. Dieser Zustand war aber instabil und es kam innerhalb einer Milliardstel Sekunde zu einer Symmetriebrechung. Dabei nahm das Feld einen zufälligen Wert in der „Hutkrempe“ an und wurde somit aktiviert. Seitdem können andere Teilchen mit dem Feld wechselwirken und erhalten dabei ihre träge Masse. Wird das Higgs-Feld angeregt, entstehen seine Quanten – die Higgs-Bosonen. Sie zerfallen allerdings sofort wieder.

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Rüdiger Vaas VOM GOTTESTEILCHEN ZUR WELTFORMEL Urknall, Higgs, Antimaterie und die rätselhafte Schattenwelt Kosmos, Stuttgart 2013, € 24,99

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