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Erschütterte Sportlerhirne

Gesundheit|Medizin

Erschütterte Sportlerhirne
Hiebe gegen den Kopf können für Sportler fatale Folgen haben. Forscher suchen nach Wegen, wie sich innere Verletzungen vermeiden lassen.

Er schoss sich ins Herz und nicht in den Kopf. Denn Dave Duerson wollte sicherstellen, dass Wissenschaftler von der Boston University sein Gehirn möglichst unbeschadet untersuchen können und somit Licht in das Dunkel seiner langjährigen psychischen Leiden bringen. Diesen Wunsch teilte der ehemalige Footballstar seiner Familie via SMS wenige Minuten vor seinem Suizid am 17. Februar 2011 mit.

Und den Ärzten gelang es, seinen Wunsch zu erfüllen: Das Team um Ann McKee, Professorin für Neuropathologie an der Boston University, fand in Duersons Gehirn Beweise für CTE. Das Kürzel steht für Chronische Traumatische Enzephalopathie – eine degenerative Gehirnkrankheit, die bis vor Kurzem nur mit Boxern in Verbindung gebracht wurde und die nur über eine Autopsie diagnostiziert werden kann. Die Symptome sind ähnlich wie bei einer Alzheimer- oder Parkinson-Erkrankung: nachlassende geistige Leistungsfähigkeit, Stimmungsschwankungen, Depressionen und gestörte Motorik.

McKee band diesen Befund in eine aktuelle Studie ein, in der sie die Gehirne von 85 Verstorbenen untersuchte, bei denen CTE diagnostiziert worden war und die alle eines gemeinsam hatten: Die Menschen hatten zu Lebzeiten mehrfache Gehirnerschütterungen erlitten. Alle waren Athleten in sogenannten Kontaktsportarten wie American Football und Eishockey – darunter auch 17-Jährige, die nur in der Schule Football spielten. „Aufgrund dieser hohen Zahl von untersuchten Gehirnen konnten wir genau sehen, wie CTE beginnt und verläuft“, berichtet die Bostoner Medizinerin. „ Diejenigen Bereiche seines Gehirns, die Impulskontrolle, Gefühle und Gedächtnisleistung steuern, waren bei Duerson stark beeinträchtigt“, berichtet sie.

Schreckgespenst über dem Sport

CTE – diese drei Buchstaben schweben wie ein Schreckgespenst über Amerikas milliardenschwerer Sportindustrie: Mehr als 4000 ehemalige Football-Spieler zogen 2013 gegen die National Football League (NFL) vor Gericht. Sie warfen der US-Profiliga vor, sie habe jahrelang von den Risiken durch Stöße und Schläge auf den Kopf gewusst, aber die Athleten nur unzureichend darüber aufgeklärt und davor geschützt. Zwar einigte man sich jüngst außergerichtlich auf eine Abfindung von insgesamt 765 Millionen Dollar. Doch nun wird befürchtet, dass auch College- und High-School-Athleten vor den Kadi ziehen.

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Das setzt die Sportfunktionäre unter starken Druck. Außerdem diagnostizierten Ann McKee und ihr Team vor einigen Wochen zum ersten Mal CTE im Gehirn eines Baseball-Stars: Ryan Freel erlitt wie Dave Duerson mehrfache Kopfverletzungen und war zum Zeitpunkt seines Freitods depressiv. Ob nun auch die amerikanische Baseball-Liga vor einer Massenklage steht, für ihre Spieler einen psychologischen Beratungsdienst einrichtet – das geschah, als sich nach Duerson noch zwei weitere NFL-Spieler umbrachten – oder gar die Scheckbücher zückt, bleibt abzuwarten. Jüngst flossen jedenfalls 100 Millionen Dollar für die Hirnforschung an die Harvard University.

Es gibt weder Tests noch Medikamente

Dieser Betrag ist sicher gut investiert. Denn Wissenschaftler und Ärzte würden gern mehr über die Entstehung von CTE erfahren, die Diagnosemöglichkeiten verbessern – es gibt bislang keine medizinischen Tests – und ein Medikament dagegen entwickeln. Auch das gibt es bislang nicht. Davon profitieren würden nicht nur Athleten, sondern zum Beispiel auch Freizeitsportler. In den USA fügen sich jedes Jahr mehr als 1,6 Millionen von ihnen beim Sport eine „leichte traumatische Kopfverletzung“ zu. Danach leiden viele unter Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen, sind nervös und verwirrt oder schlafen schlecht.

Diese Symptome verschwinden bei den meisten Patienten innerhalb von ein bis zwei Wochen wieder, nur etwa jeder Zehnte hat länger mit den Beschwerden zu kämpfen. Für Frauen in den USA ist Fußball mit einer Risiko-Quote von 50 Prozent die gefährlichste Sportart, bei Männern ist es mit 75 Prozent American Football. Rund vier von fünf Gehirnerschütterungen ereignen sich bei einem Spiel oder beim Training. Doch was genau geschieht dabei im Kopf? Was führt zu einem Trauma – und in welchem Ausmaß? Und wann entsteht gar CTE?

David Camarillo will darauf Antworten finden. Er ist Professor für Bioingenieurwesen an der kalifornischen Stanford University und setzt auf die physikalischen Grundgesetze, die einst Isaac Newton formuliert hat. „Nur wenn die physikalischen Mechanismen einer Gehirnerschütterung genau bekannt sind, können wir mit der Prävention beginnen und das Verletzungsrisiko reduzieren“, sagt der Forscher, der 2012 eine Studie dazu begonnen hat.

Camarillos Ziel ist es, möglichst viele Kopftraumata unmittelbar beim Entstehen zu erfassen. Dafür hat er das Stanford-Football-Team mit speziellen Mundschützern ausgestattet, die die Athleten während des täglichen Trainings und bei den Wettkämpfen tragen müssen. Die Mundschützer enthalten Sensoren, die Beschleunigungen und Drehbewegungen messen – und damit festhalten, welchen Kräften der Kopf bei einem Aufprall oder Stoß ausgesetzt ist. Zudem kleben an den Helmen der Spieler rote Sticker – Markierungen, die von hochauflösenden Spezialkameras am Spielfeldrand verfolgt werden. Damit lässt sich im Labor der Ablauf einer Kollision in Zeitlupe verfolgen und die Aufprallgeschwindigkeit ermitteln.

Zu klären ist: Wie stark war eine Kollision, wenn es danach zu einem kompletten Knock-Out kommt? Bei wie vielen kleineren Kontakten wird ein Spieler durch Kopfschmerzen oder Schwindelgefühl beeinträchtigt? Denn eines der größten Probleme bei Gehirnerschütterungen im Sport ist, dass viele Athleten sie verschleiern. Eine jüngst von der Nachrichten-Website Sporting News gesponserte Umfrage ergab, dass über die Hälfte der befragten Footballer die Symptome einer Kopfverletzung verschweigen und weiterspielen wollen – aus Angst, ihren Stammplatz in der Mannschaft zu verlieren.

Camarillos Mundschützer hingegen sind ehrlich. So dokumentierte der Forscher einige gewaltige Kopfnüsse – etwa die eines „Wide Receivers“, eines Pass-Empfängers, der bei einem gegnerischen Zusammenstoß das 150-Fache der Erdbeschleunigung (g) aushalten musste. Zum Vergleich: Hinter einem Boxhieb stecken 10 bis 20 g, was schon sehr heftig ist. Zudem erfuhr der Kopf des Footballspielers eine enorme Winkelbeschleunigung. Wäre der Kopf nicht fest in der Wirbelsäule verankert, hätte er sich mit fünf bis sechs Umdrehungen pro Sekunde um sich selbst gedreht. Für den getroffenen Spieler war damit die Saison zu Ende.

Eine weitere neue Erkenntnis: Bestimmte Schläge, die bisher als singuläres Ereignis galten, bestehen eigentlich aus zwei aufeinanderfolgenden Traumata. Das erste Trauma entsteht, wenn der Spieler von seinem Gegner am Kopf gerammt wird, und das zweite, sobald er Sekunden später zu Boden fällt. Diese „doppelte Kopfnuss“ wirkt mit deutlich mehr Kraft auf den Kopf des Spielers ein als nur eine einzelne Kollision. Bis 2017 wollen David Camarillo und sein Team noch weitere Daten sammeln, auch bei Feldhockeyspielern und Fußballern.

Auf Diagnosebildern sieht man nichts

Doch clevere Mundschützer sind nur etwas für Profispieler. Praktisch wäre ein allgemeines Diagnoseverfahren, von dem auch Nicht-Sportler profitieren. Denn die gegenwärtigen Verfahren wie Computertomografie-Scans, Magnetresonanz- oder Röntgen-Aufnahmen können zwar Hirnblutungen, Schwellungen oder Frakturen feststellen – und damit physische traumatische Verletzungen –, nicht aber eine Gehirnerschütterung. Ärzte sind auf Auskünfte des Patienten angewiesen, sei es durch simple Beschreibung der Symptome oder durch Antworten auf Fragen in neurologischen Tests.

Der Neurowissenschaftler Gary Small von der University of California in Los Angeles machte mit einer Anfang 2013 veröffentlichten Studie einen ersten Schritt – und sorgte prompt für Schlagzeilen: Der Forscher fand mithilfe von PET-Scans in den Gehirnen lebender Athleten Hinweise auf CTE. Das Kürzel PET steht für Positronen-Emissions-Tomografie – ein bildgebendes Verfahren aus der Nuklearmedizin. „Die Sportler erhielten einen radioaktiven Marker in eine Vene gespritzt, danach wurden ihre Köpfe mit einer Art Geigerzähler gescannt“, erklärt der Forscher. Bei dem radioaktiven Marker handelt es sich um einen Farbstoff namens FDDNP – ein komplexes Molekül, das unter anderem Fluor- und Stickstoff-Atome enthält. Small hat die Substanz vor einigen Jahren für die Diagnose des Alzheimer-Syndroms entwickelt – sein Spezialgebiet.

FDDNP hat die Besonderheit, sich im Gehirn an sogenannte Tau-Proteine und Amyloid-Plaques anzulagern. Tau-Proteine sind ein Bestandteil von Zellen und werden im Gehirn benötigt, um diese zu stabilisieren. Wenn sich Nervenzellen auflösen, bedingt durch eine Krankheit oder ein Trauma, bleiben die Tau-Proteine in Form von kleinen Haufen zurück, die wie Wollknäuel aussehen. Ähnlich ist es mit Amyloid, einem faserigen Protein, das sich überall im Körper ablagern kann, wenn Zellen sterben. Diese Prozesse sind bei Alzheimer-Patienten bekannt – und auch bei Menschen, die unter CTE leiden. „Die Muster der Ablagerungen verraten, ob ein Patient Alzheimer oder CTE hat“, sagt Small.

Für seine fünf Testpersonen lautete die Diagnose CTE. Alle fünf sind pensionierte Footballspieler, die während ihrer Karriere wiederholt Kopftraumata erlitten haben und jetzt, mit 45 oder mehr Lebensjahren, über Depressionen, kognitive Einbußen und Stimmungsschwankungen klagen. Auf die Frage, warum Small FDDNP nicht schon eher mit dieser Zielgruppe in Zusammenhang gebracht hat, antwortet der kalifornische Neurologe unumwunden: „Weil das vorher niemanden interessiert hat.“ Gegenwärtig sammelt Gary Small mit seiner FDDNP-Methode Daten von einem größeren Pool an Patienten.

Candace Floyd, Professorin für physikalische Medizin und Rehabilitation an der University of Alabama in Birmingham, profitiert bereits von entsprechenden Forschungsgeldern. Sie erhielt eine Finanzspritze von der NFL-Stiftung für die Erforschung eines Wirkstoffes, der möglicherweise die Auswirkungen von Kopftraumata minimiert. „Bei einer Gehirnerschütterung werden Nervenzellen überstreckt und reißen“, erklärt Floyd. Die Folge: Das Gehirn will den Ausfall schnell kompensieren, schadet sich dabei aber selbst. „Für die Reparatur benötigen die Zellen Sauerstoff, bei dessen Produktion im Gehirn gefährliche Radikale entstehen, die die Zellen nicht gleich beseitigen können“, sagt Floyd. Es kommt zu „oxidativem Stress“, der Entzündungen auslöst und letztlich zum Zelltod führt.

Floyd vergleicht diese Reaktion mit einem Waldbrand: Die eigentliche Ursache, etwa eine brennende Zigarette, führt nur zu einem kleinen, lokalen Feuer. „Wenn man falsch darauf reagiert, werden die Flammen größer und das Feuer gerät außer Kontrolle“, erklärt die Forscherin. Damit einem Patienten nicht Ähnliches widerfährt, hilft nur körperliche Ruhe. Zu vermeiden sind Stress, Gifte wie Alkohol und vor allem weitere Kopfverletzungen. Ein schlechtes Beispiel dafür ist der deutsche Eishockeyspieler Stefan Usdorf. Er musste im März 2013 seine Profi-Karriere beenden, nachdem eine zweite Gehirnerschütterung rasch auf eine zuvor nicht auskurierte gefolgt war.

Brandschaden im Gehirn

Floyds Wirkstoff soll den „Brandschaden“ im Gehirn begrenzen, indem er den Zellen bei der Entgiftung hilft: Die Substanz, das MnTE-2-Pyp, ist ein gemeinsam mit Forschern der Duke University entwickeltes Enzym, das aus der Diabetes-Forschung stammt. Floyd hat es bereits in Tierversuchen getestet. Dazu traumatisierte sie mit kleinen Helmen ausgestattete betäubte Mäuse durch ein von oben auf sie herabfallendes Gewicht und verabreichte ihnen 30 Minuten danach den Wirkstoff. Anschließend mussten die Mäuse mehrere Aufgaben lösen, etwa den Ausgang in einem Labyrinth finden. Die Ergebnisse werden im Frühjahr veröffentlicht und Floyd darf nicht viel verraten – außer, dass sie sehr optimistisch ist.

Doch ehe das Enzym in Erste-Hilfe-Taschen landen wird, sind Prävention und Aufklärung die einzige verfügbare Medizin. Und niemand macht das in den USA besser als Chris Nowinski, Autor des aufrüttelnden Bestsellers „Headgames“, der 2012 als gleichnamige Dokumentation in die US-Kinos kam und als Verfilmung im März in die europäischen Kinos kommt. Der ehemalige Wrestling-Star erlitt während seiner Kampfshows so viele Schläge gegen den Kopf, dass er 2003 nach nur zwei Jahren Profisport für immer aus dem Ring stieg. Als er auf der Suche nach Gründen für seinen gesundheitlichen Verfall sowohl bei Trainern als auch bei Ärzten auf Ignoranz und Nichtwissen stieß, las sich der Harvard-Absolvent in wissenschaftliche Fachliteratur ein und versuchte, „die Gehirnerschütterungskrise zu lösen“. So steht es in den Statuten des von ihm und dem renommierten Neurologen Robert Cantu 2007 gegründeten Sports Legacy Institute in Boston. „ Bob und ich sprechen auf mehr als 50 Veranstaltungen pro Jahr – und erreichen damit Tausende Trainer und Jugendliche“, berichtet Nowinski.

Kopfstöße zählen, ein Limit setzen

Er fordert einen radikalen Sichtwechsel: „Als die heutigen Erwachsenen im Jugendsport aktiv waren, hat sich niemand um dieses Thema gekümmert.“ Mit seinem „Hit-Count“-Projekt will der Ex-Sportprofi in diesem Jahr erreichen, dass ein Limit für Stöße gegen den Kopf definiert wird – ähnlich wie es im Baseball bereits existiert: Dort gibt es seit ein paar Jahren eine Regelung, die dazu dient, eine Überlastung der Armmuskulatur beim Werfen zu vermeiden. Studien im High-School-Football zeigen, dass ein jugendlicher Spieler pro Saison im Schnitt über 2000 Stöße gegen den Kopf erhält.

Gemeinsam mit Robert Cantu und Ann McKee gründete Chris Nowinski das Center for the Study of Encephalopathy (CSTE) in Boston. Es ist das einzige Institut weltweit, das sich mit der Erforschung von CTE befasst. Gegenwärtig läuft ein Projekt zur Ermittlung von Risikofaktoren an 100 Athleten und 50 Nicht-Sportlern. Dazu werden genetische Marker sowie Rückenmarksflüssigkeit untersucht und kognitive Tests beider Gruppen verglichen.

Zudem besitzt das Institut mit 150 Exemplaren die größte Sammlung an CTE-Gehirnen. Dass es noch mehr werden, dafür sorgt Nowinski, indem er mit aktiven und ehemaligen Sportlern über Organspenden plaudert. „Als wir am Institut vor fünf Jahren damit anfingen, verliefen diese Gespräche noch etwas gestelzt“, erinnert er sich, „aber inzwischen konnten wir vermitteln, dass Gehirnspenden cool sind.“ Der Anblick vieler der in den Tiefkühltruhen des CSTE schlummernden Gehirne ist das allerdings nicht: Die Organe einiger besonders aktiver Profisportler waren bei deren Tod auf weniger als die Hälfte der Größe eines normalen Gehirns geschrumpft. •

DÉSIRÉE KARGE lebt in Kalifornien und verfolgt seit Längerem die intensive Diskussion um Kopfverletzungen in den USA.

von Désirée Karge

Vielseitige Stoßfänger

Die Aufgabe eines Helms ist es, möglichst viel von der Energie, die beim Stoß – etwa durch einen Schlag oder Sturz – frei wird, aufzunehmen und die Wucht des Aufschlags über eine größere Fläche zu verteilen. Dadurch wird der Kopf entlastet und vor schweren Verletzungen geschützt. Je nach Einsatzzweck hat ein Helm außerdem bestimmte andere Anforderungen zu erfüllen. So sollen Fahrradhelme besonders leicht, Helme für Motorradfahrer, Football- oder Eishockeyspieler besonders robust und Ski- oder Snowboardhelme auch niedrigen Temperaturen gewachsen sein. Die meisten neuen Sporthelme besitzen eine harte und sehr widerstandsfähige Außenschale aus einem speziellen Kunststoff. Er ist bei manchen Helmen zusätzlich durch eingebettete feine Fasern aus Glas, Karbon oder Aramid verstärkt. An der Innenseite des Helms, die am Kopf aufsitzt, ist das Material weicher und teilweise gepolstert. Die Hersteller entwickeln Materialien und Aufbau von Sporthelmen ständig weiter, um einen besseren Schutz zu ermöglichen.

Um die Funktionsfähigkeit und Zuverlässigkeit eines Helmmodells zu testen, lassen ihn die Hersteller bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf ein Hindernis prallen. Die Kräfte, die dabei auf den Kopf wirken und im Test gemessen werden, dürfen bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten. Art und Richtung der Kräfte, die bei einem Schlag oder Sturz auftreten, können sehr unterschiedlich sein. Sie hängen davon, wie und unter welchem Winkel der Kopf getroffen wird. Die Stärke der Kräfte, die ein Schutzhelm abfangen muss, ist enorm. Sie wächst mit dem Quadrat der Aufprallgeschwindigkeit: Ein doppelt so hohes Tempo beim Stoß bedeutet eine viermal so große Belastung.

„Wir filtern Risikospieler heraus“

Warum wurde das heikle Thema Gehirnerschütterung in Deutschland bis dato eher stiefmütterlich behandelt?

Die Indexsportart hierfür ist American Football. Doch in Deutschland gibt es dafür weder eine große Lobby noch Zuschauer. Allerdings haben sich in den letzten zwei Jahren bei uns im Eishockey-Sport die Vorfälle gehäuft, und das Thema erhält mehr Aufmerksamkeit von Spielern, Trainern und den Medien. Noch recht aktuell ist der Fall des Eishockeyspielers Stefan Usdorf, der im März 2013 seine Karriere aufgrund schlecht auskurierter Gehirnerschütterungen aufgab.

Führen solche negativen Vorfälle zu einem geschärften Bewusstsein?

Ja, unbedingt. Neuerdings gibt es auf Initiative der Deutschen Eishockeyliga eine Medical-Task-Force, die sich mit den Risiken befasst. Wir stehen mit dem Verbandsarzt der Liga in Verbindung und werden diese unterstützen. Trotzdem sind Gehirnerschütterungen in Deutschland in sehr weiten Bereichen eine unterschätzte Gefahr. Denn die Symptome wie Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen sind sehr unspezifisch und werden daher oft übersehen oder falsch interpretiert. Danach hat ein Sportler jedoch ein höheres Risiko, eine weitere Kopfverletzung zu erleiden. Viele Verantwortliche wissen über diese typischen Symptome und über die notwendigen Behandlungsmaßnahmen noch zu wenig Bescheid.

Bei uns regiert König Fußball. Wie häufig gibt es denn dort Kopfschmerzen?

Genaue Zahlen gibt es nicht. Aber bei 78 000 Spielen an den Wochenenden wird sicherlich mehr passieren als beim Eishockey, wo allerdings die Gefahr, dass eine Kopfverletzung auftritt, höher ist. Im Profi-Eishockey betreffen 20 Prozent aller Verletzungen den Kopf.

Wie gut betreut sind die Fußballspieler in Deutschland?

Ein Großteil der Fußball-Bundesligisten hat einen Sportpsychologen, und schätzungsweise bei der Hälfte der Erstliga-Vereine werden auch Tests gemacht, die die geistige Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit der Spieler überprüfen. Zudem hat der Weltfußballverband Fifa seit 2001 vier Weltkonferenzen zum Thema Gehirnerschütterungen in Mannschaftssportarten organisiert. Bei einer Tagung im November 2012 waren mit mir und einem Kollegen nur zwei von insgesamt gerade mal drei deutschen Vertretern dieses Fachgebiets anwesend. Das ist eigentlich traurig.

Erreicht dieses Wissen dann auch die Fußballspieler?

Eine britische Studie hat gerade untersucht, ob die seit zehn Jahren etablierten Leitlinien im Umgang mit Gehirnerschütterungen – zum Beispiel eine schrittweise Rückkehr ins Training – auch umgesetzt werden. Dabei kam heraus, dass man bei gut einem Drittel aller Vereine der 1. und 2. Bundesliga noch nie etwas davon gehört hat. Das wird bei uns nicht anders sein.

Wie wollen Sie und Ihre vier Mitarbeiter das ändern?

Wir gehen auf Sporttagungen und Veranstaltungen und versuchen dort, möglichst viele Offizielle zu erreichen. Zudem untersuchen und schulen wir einzelne Spitzensportler sowie ganze Handball-, Basketball- und Fußballmannschaften. Mehr als 100 Sportler sind in unserer Datenbank. Vor Kurzem haben wir eine U23-Mannschaft eines Fußball-Bundesligisten geschult und auch sogenannte Baseline-Tests durchgeführt.

Was passiert bei solchen „Baseline-Tests“?

Damit stellen wir die kognitiven Leistungen der Athleten vor Saisonbeginn fest, sodass wir Ausgangswerte haben, falls es zu einer Kopfverletzung kommt. Die Tests dauern ungefähr eine Stunde. Neben der Krankengeschichte ermitteln wir die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung, Reaktionstempo und -geschwindigkeit. Parallel dazu werden auch Informationsverarbeitung und Aufmerksamkeitswechsel sowie die die Lern- und Gedächtnisleistung überprüft.

Haben sich Ihre Baseline-Daten bereits als nützlich erwiesen?

Ja, es gab mehrere Spieler, bei denen man eine Gehirnerschütterung vermutete und wo wir anhand der Vergleichswerte feststellten, inwiefern die geistige Leistungsfähigkeit den vorherigen Daten entsprach. Anhand dessen wurde entschieden, ob der Spieler zurück ins Training durfte. Außerdem filtern wir dadurch „Risiko-Spieler“ heraus: So haben wir Eishockeyspieler mit 10 oder 15 Gehirnerschütterungen untersucht und darauf hingewiesen, dass bei einem erneuten Vorfall das Karriere-Ende drohen kann. Man weiß eben nie, welche Gehirnerschütterung eine zu viel ist, nach der der Spieler seine Beeinträchtigungen nicht mehr loswird.

In den USA werden solche Tests bereits bei Jugendteams gemacht. Auch Freizeittrainer müssen sich dort im Umgang mit Gehirnerschütterungen schulen lassen. Wie steht es damit in Deutschland?

Sehr mager. Baseline-Tests bei Kindern und Jugendlichen gibt es meines Wissens nicht. Als ein Resultat der letzten Fifa-Tagung wurde jedoch ein speziell auf Kinder und Jugendliche zugeschnittenes Screening-Verfahren veröffentlicht. Das muss jetzt jedoch erst noch publik gemacht werden.

Wie gut bewerten Sie die Betreuung in Deutschland von Patienten mit einer Gehirnerschütterung, egal ob sportbedingt oder nicht?

Die akute medizinische Behandlung in Deutschland ist sehr gut. Jährlich betrifft das immerhin 240 000 Menschen. Die weitere Versorgung ist jedoch oft problematisch und hängt davon ab, wie sehr sich der behandelnde Arzt mit den damit verbundenen kognitiven, körperlichen und emotionalen Beeinträchtigungen auskennt.

Wenn Sie sich eine Erkenntnis zum Thema Gehirnerschütterung wünschen dürften, welche wäre das?

Wie hoch die Dunkelziffer ist und wie viele Menschen es gibt, die Langzeitfolgen nach mehreren Ereignissen haben. Mit diesem Wissen könnten wir bessere Behandlungsmethoden entwickeln. •

Das Gespräch führte Désirée Karge

Kompakt

· Mehrfache Gehirnerschütterungen begünstigen die Entstehung von CTE – einer Krankheit mit ähnlichen Symptomen wie bei Alzheimer oder Parkinson.

· Häufig betroffen sind Athleten in Kontaktsportarten wie American Football, Boxen oder Eishockey. In den USA verlangen die Spieler nun besseren Schutz.

Mehr zum Thema

Internet

Online-Ratgeber zu Schädel-Hirn-Traumata: www.schaedelhirntrauma.net

Gut zu wissen: Gehirnerschütterung

Gehirnerschütterungen, allgemein auch als Schädel-Hirn-Trauma bezeichnet, entstehen häufig bei Unfällen, etwa im Straßenverkehr, Haushalt oder beim Sport (zum Beispiel beim Boxen, siehe Grafik rechts). Sie sind gekennzeichnet durch eine Verletzung des Schädels einschließlich des Gehirns. Typische Symptome sind neben Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen auch gestörte motorische Reaktionen, Gedächtnisausfälle und Bewusstlosigkeit. Je nach Art und Ausmaß der Symptome unterscheiden die Mediziner drei Schweregrade, die auf der sogenannten Glasgow-Koma-Skala basieren. Diese Skala, mit der sich Bewusstseinsstörungen abschätzen lassen, haben zwei schottische Neurochirurgen 1974 entwickelt. Entscheidend sind die Fähigkeiten, die Augen zu öffnen, zu sprechen und auf Schmerzreize zu reagieren.

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