Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Ist das Wissenschaft oder kann das weg?

Erde|Umwelt Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

Ist das Wissenschaft oder kann das weg?
Wir verhalten uns nach den Gesetzen der Altsteinzeit – sagen Evolutionspsychologen. Kritiker halten ihre Studien für Humbug.

Das Leben steckt voller Mysterien: Warum gehen Männer beim Wandern meist voran? Wieso verdienen Manager mit tiefen Stimmen mehr als ihre höherfrequenten Konkurrenten? Weshalb verstehen sich heterosexuelle Frauen und schwule Männer so gut?

Evolutionspsychologen sind dabei, diese Rätsel zu lösen. Schließlich gestaltet die natürliche Selektion den menschlichen Körper seit Millionen von Jahren um – wieso also nicht auch den Geist? Ihre Antworten auf obige Fragen lauten: Männer gehen voran, um potenziell gefährliches Gebiet zu erkunden. Mit einer tiefen Stimme wird ein Mann eher als Anführer wahrgenommen. Schwule Männer und heterosexuelle Frauen können sich wertvolle Paarungstipps geben.

Alles Quatsch, meint Paul Myers von der University of Minnesota. Auch sonst hält der Evolutionsbiologe und Wissenschaftsblogger mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg und verkündigt öffentlich: „Ich verabscheue die Evolutionspsychologie.” Und mit dieser Einstellung steht er nicht alleine da. Die bloße Erwähnung der Evolutionspsychologie lässt viele Wissenschaftler genervt die Augen verdrehen. Ihr Urteil: Der Grundgedanke ist gut, doch die Ausführung lässt zu wünschen übrig.

Dabei hatte alles vielversprechend begonnen: Anfang der 1990er-Jahre etablierte das US-amerikanische Forscherehepaar Leda Cosmides und John Tooby (siehe Kurzporträt auf Seite 70) die Evolutionspsychologie als eigenständiges Forschungsfeld. Cosmides und Tooby betrachten diese nicht als einen separaten Teilbereich der Psychologie wie die Kognitionspsychologie oder die Entwicklungspsychologie. Stattdessen soll die Evolutionspsychologie als methodischer Ansatz auf alle Fachgebiete angewendet werden, gemäß dem Motto: „Unsere modernen Schädel beherbergen einen Geist aus der Steinzeit.”

Anzeige

Nach der Theorie des Forscherpaars ist das Gehirn eine Informationsverarbeitungsmaschine mit der Funktionalität eines Schweizer Taschenmessers. In den letzten paar Tausend Jahren hätten sich unsere Lebensumstände zu schnell verändert, als dass der Anpassungsprozess dieser komplexen „Programme” damit Schritt halten konnte. Doch das Verhalten aus der Altsteinzeit passt nicht in eine Welt voller Großstädte, Supermärkte und Smartphones. Das meinen populäre Autoren, wenn sie Sachbücher mit Titeln wie „Wir sind alle Neandertaler” oder „Mammutjäger in der Metro” verfassen.

Kritiker wie Johan Bolhuis werfen hingegen ein: „Die Evolutionspsychologen benutzen eine veraltete Argumentation aus den 1980er-Jahren. Sie sind naiv, was die Evolution angeht.” Zusammen mit Kollegen hat der Biologe von der niederländischen Universität Utrecht 2011 einen Artikel veröffentlicht, in dem er an den Grundfesten der Evolutionspsychologie rüttelt. Er stellt sich gegen die Annahme der Evolutionspsychologen, dass Anpassungsprozesse nur stückweise und allmählich stattfinden. Inzwischen sei bekannt, argumentiert er, dass sich die menschlichen Gene recht schnell verändern.

Seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms 2003 gibt es Hinweise darauf, dass sich die Gene in den letzten 50 000 Jahren signifikant geändert haben. So suchten amerikanische Forscher in zahlreichen Gen-Sequenzen potenzielle Selektionseinflüsse und fanden heraus, dass je nach Population bis zu zehn Prozent des menschlichen Genoms betroffen sind. Die untersuchten Gen-Regionen waren zum Beispiel für Hautfarbe, Riechrezeptoren oder die Entwicklung des Nervensystems zuständig. Ein Beispiel dafür ist die Laktose-Toleranz im Erwachsenenalter: Sie hat sich in Europa erst in den letzten 8000 Jahren durchgesetzt, parallel zur Entwicklung der Landwirtschaft.

Außerdem gehen Evolutionspsychologen von einer stabilen Umgebung aus, in der sich die Verhaltensweisen entwickelt haben. Üblicherweise betrachten sie dafür die Altsteinzeit, in der die Menschheit in kleinen Gruppen als Jäger und Sammler lebte. Bolhuis kritisiert: „Wir wissen nicht, ob die Steinzeit überhaupt die relevante Zeitspanne ist, die wir betrachten sollten.” Und falls doch, gibt es ein Problem: „Wir wissen überhaupt nicht, was damals passiert ist.”

Die Evolutionspsychologie veranstaltet demnach eine Art wissenschaftliche Märchenstunde: Modernes Verhalten wird untersucht und dann eine passende Situation entworfen, um es zu erklären. Und da es schwierig bis unmöglich ist, die Lebensumstände unserer Vorfahren genau zu ermitteln, können die Geschichten der Evolutionspsychologen nicht widerlegt werden. Myers hält das für eine Katastrophe: „Man sollte nicht forschen, um die eigenen Hypothesen zu bestätigen. Die Evolutionspsychologie scheint da einiges verkehrt zu machen.”

Ein Beispiel: Als Russell Jackson von der US-amerikanischen University of Idaho die visuelle Aufmerksamkeit von Probanden untersuchte, stellte er fest, dass sie auf einer Reihe von Bildern „evolutionär relevante” – also gefährliche oder essbare – Tiere am schnellsten erkannten. Bei Bildern „evolutionär neuer” Gegenstände reagierten die Probanden langsamer, selbst wenn es sich um potenziell lebensbedrohliche Gegenstände wie Autos handelte. Jacksons Interpretation: „Die Ergebnisse zeigen, wieso Autounfälle weltweit zu einer der häufigsten Todesursachen gehören. Wir sehen Dinge wie Autos oder Motorräder nicht so leicht, weil unser Gehirn sich entwickelt hat, um Löwen, Antilopen oder andere Menschen zu sehen.” Jackson spricht von einem „adaptiven Hinterherhinken”. Die Tatsache, dass bei einem Autounfall nicht das Fahrzeug selbst, sondern seine hohe Geschwindigkeit die Gefahr darstellt, übersieht er dabei allerdings.

Meist brodelt die Kritik an der Evolutionspsychologie unter der Oberfläche. Sie kocht vor allem dann hoch, wenn es um massentaugliche Themen geht – wie bei einer kürzlich veröffentlichten Studie zum Phänomen „Sexuelle Reue”: Über 25 000 US-Amerikaner wurden gefragt, ob und was sie in ihrem früheren Sexualleben bedauerten. Das Ergebnis: Frauen bereuten eher Gelegenheitssex, Männer dagegen, nicht mehr solche Gelegenheiten ergriffen zu haben.

Die Forscher gaben zu, dass hier kulturelle Faktoren und soziale Normen eine Rolle spielen könnten. Trotzdem glauben sie, in ihren Daten einen Hinweis darauf gefunden zu haben, dass Männer aufgrund ihrer evolutionären Geschichte ihren Samen so weit wie möglich unter den Frauen streuen wollen. Denn das erhöhe die Chancen auf reproduktiven Erfolg. Frauen hingegen hätten vor allem Interesse daran, eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: In mehreren Medien und Online-Portalen kritisierten Forscher diese Interpretation. Der Bioanthropologe Jonathan Marks schrieb: „Ein weiteres Argument dafür, Psychologen zu verbieten, über menschliche Evolution zu sprechen.” Er bezweifelt, dass eine Studie verlässlich sein kann, in der nur Amerikaner befragt wurden – in einer Gesellschaft, die eine Doppelmoral bezüglich des Sexualverhaltens pflegt: Promiskuitive Männer gelten als männlich, Frauen mit vielen Sexualpartnern dagegen als Schlampen.

Kurzum: Wie viel Evolutionsgeschichte steckt wirklich in solchen Ergebnissen, die offenbar von sozialen und kulturellen Normen geprägt sind? Diese Frage betrifft die Annahme von Evolutionspsychologen, dass es eine universale menschliche Natur gibt. Was wäre zum Beispiel, wenn man die Studie im prüden Amerika der 1950er-Jahre durchgeführt hätte? Oder im heutigen Saudi-Arabien? Oder im liberalen Skandinavien? Wäre das Ergebnis dieselbe „menschliche Natur”?

Evolutionspsychologen zäumen das Pferd methodologisch von hinten auf, kritisiert Paul Myers: „Man kann nicht auf universale Eigenschaften schließen, indem man diese einfach annimmt und dann extrapoliert.” Er propagiert stattdessen die vergleichende Anthropologie, um den universellen Eigenschaften der Menschheit auf die Spur zu kommen: „Man muss sich verschiedene Kulturen anschauen und dann fragen: Welche Eigenschaften haben wirklich alle gemeinsam?” Die Evolutionspsychologie ist für den Biologen dagegen ein fehlgeschlagener Versuch, biologische Mechanismen hinter Verhaltensweisen zu vermuten, die ganz klar kulturell bestimmt sind.

Eckart Voland, Professor für die Philosophie der Biowissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen hält dagegen: „Die Ergebnisse der menschlichen Evolution können Sie live beobachten, wenn Sie in eine Disco gehen und sehen, wie sich die Menschen dort verhalten.” Er hält es nicht nur für kulturell bedingt, wenn sich junge Leute dort aufgetakelt präsentieren, sondern auch für „natürlich”.

Zwar kann Eckart Voland einige Kritikpunkte an der Evolutionspsychologie nachvollziehen, das entscheidende Problem sieht er aber an einer ganz anderen Stelle: „Die Evolutionspsychologie ertappt uns.” Wer mag schon glauben, dass sein Verhalten nicht auf dem freien Willen, sondern auf den Überlebensstrategien seiner altsteinzeitlichen Vorfahren basiert? Welche moderne Frau will hören, dass sie sich an den Tagen ihres Eisprungs nach einem starken Krieger sehnt? Und welcher klein gewachsene Mann akzeptiert, dass sein hünenhafter Kollege eher befördert wird? •

Text von Franziska Konitzer, Illustrationen von Hubert Warter

Leda Cosmides und John Tooby

Gemeinsame Interessen haben die beiden genug: Seit 30 Jahren forscht das Ehepaar Leda Cosmides und John Tooby über evolutionäre Grundlagen des menschlichen Verhaltens. Dabei wollte John Tooby (*1952) ursprünglich Physiker werden. Doch er merkte schnell, dass er das Verhalten von Menschen viel spannender findet als Formeln. An der Harvard University traf er seine spätere Ehefrau Leda Cosmides (*1957). Sie hatte sich schon als Teenager an der Auffassung des berühmten Verhaltensforschers B. F. Skinner gestört, dass zwischenmenschliche Beziehungen beliebige soziale Produkte seien. Beide blieben für ihre Promotion – Tooby in biologischer Anthropologie, Cosmides in Kognitionspsychologie – an der Harvard University. Mit ihrem 1992 zusammen mit Jeremy Barkow herausgegebenen Werk „The Adapted Mind. Evolutionary Psychology and the Generation of Culture” verhalfen sie der Evolutionspsychologie zu großer Aufmerksamkeit. Inzwischen leiten sie das von ihnen gegründete „Center for Evolutionary Psychology” an der University of California in Santa Barbara.

Kompakt

· Vor rund 20 Jahren wurde die Evolutionspsychologie zu einem eigenständigen Forschungszweig.

· Seither tobt der Streit, ob es sich dabei überhaupt um seriöse Wissenschaft handelt.

· Hauptkritikpunkt ist das wackelige theoretische Grundgerüst.

Mehr zum Thema

Internet

Johan Bolhuis kritisiert die Evolutionspsychologie von einem biologischen Standpunkt aus: „Darwin in Mind: New Opportunities for Evolutio- nary Psychology” DOI: 10.1371/journal.pbio.1001109

Die Fachzeitschrift „Evolutionary Psychology” präsentiert neue Forschungsergebnisse: www.epjournal.net

LESEN

Einführung in die Evolutionspsychologie mit kritischer Auseinandersetzung: David Buller Adapting Minds Evolutionary Psychology and the Persistent Quest for Human Nature A Bradford Book, Cambridge 2006, € 19,40

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Il|lu|si|ons|büh|ne  〈f. 19; Theat.〉 Bühnenform, die mit Kulissen, Requisiten u. Prospekt einen Schauplatz vortäuschen will

co|mo|do  〈Mus.〉 ruhig, gemäßigt (zu spielen); oV commodo … mehr

Son|nen|tier|chen  〈n. 14; Zool.〉 Mitglied einer Klasse der Wurzelfüßer, das meist im Süßwasser lebt, mit einem Skelett aus zäher Gallerte od. aus Kieselsäure: Heliozoa; Sy Heliozoon … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige