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Fakten auf den Tisch!

Gesundheit|Medizin

Fakten auf den Tisch!
Weil Pharmafirmen Studien gezielt unter Verschluss halten, können vermeintlich unbedenkliche Medikamente krank machen.

Die meisten Patienten vertrauen darauf, dass ihre Medikamente so wirken wie beschrieben, dass etwa ein Beta-Blocker den Blutdruck senkt oder ein Antidiabetikum den Blutzuckerspiegel ins Lot bringt. Und sie gehen davon aus, dass schwerwiegende Risiken ausgeschlossen sind.

Trotzdem kommt es immer wieder zu unerwünschten Nebenwirkungen. Das Schmerzmittel Vioxx etwa, das Ärzte in den 1990er-Jahren bei Gelenkerkrankungen verschrieben, erhöhte das Risiko von Schlaganfällen und Herzinfarkten auf das Doppelte. Ähnlich das Diabetesmedikament Rosiglitazon: Es soll bei Zehntausenden zuckerkranken Menschen einen Herzinfarkt verursacht haben. Beide Medikamente sind heute nicht mehr erhältlich.

Wie kommt es zu solchen fatalen Fehleinschätzungen? Schließlich darf eine Pharmafirma ein neues Medikament erst nach zahlreichen Studien und der Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) oder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) verkaufen (siehe dazu auch die Infografik auf S. 18/19).

Doch viele Studienergebnisse bleiben hinter Verschluss. Joseph Ross, Gesundheitsexperte an der Yale University, schätzt, dass Pharmafirmen die Resultate jeder zweiten klinischen Studie hinter Schloss und Riegel halten. Das ist kein Kavaliersdelikt. „Wenn ich Ihnen die Hälfte der Daten vorenthalte, kann ich Sie sehr leicht von etwas überzeugen, das nicht stimmt”, erklärt Ben Goldacre in seinem Buch „Die Pharma-Lüge” (rezensiert in bdw 1/2014 auf S. 78, „Zu Risiken und Nebenwirkungen”). „Immer wenn wir eine Forschungsarbeit nicht veröffentlichen, setzen wir reale, lebendige Menschen vermeidbarem Leiden aus.”

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Gegenwind aus Europa

Inzwischen bekommen Pharmafirmen Gegenwind, vor allem aus Europa. Seit Januar 2013 ruft „AllTrials” dazu auf, die Ergebnisse aller klinischen Studien auf den Tisch zu legen. Zahlreiche Forschungseinrichtungen haben die Petition bereits unterzeichnet. Und das Fachmagazin „British Medical Journal” veröffentlicht nur noch klinische Studien, wenn auch sogenannte Rohdaten – also anonymisierte Patientendaten – vorliegen. In Deutschland fordert die „Berliner Erklärung 2012″: „Schluss mit der Verheimlichung von Studiendaten!” In der internationalen Bewegung fordern Wissenschaftler die Veröffentlichung aller Studien einschließlich anonymisierter Patientendaten. Unterzeichnen können alle Bürger Europas. Die EMA spielt mit. Seit 2010 hat die Behörde mehr als 1,6 Millionen Seiten Studienmaterial öffentlich gemacht.

Die Kritik an der Pharmaindustrie nahm Fahrt auf, als Regierungen auf der ganzen Welt vor vier Jahren das Grippemittel Tamiflu in großen Mengen einkauften – für den Fall einer Pandemie. 60 Prozent des Umsatzes in 2009 von insgesamt rund drei Milliarden Schweizer Franken, den die Firma Roche mit Tamiflu machte, stammten aus solchen Staatseinkäufen.

Heute ist bekannt, dass die Arznei anders bewertet worden wäre, wenn alle Daten auf dem Tisch gelegen hätten. Zu dieser Erkenntnis hat vor allem Peter Doshi beigetragen, ein junger Epidemiologe von der School of Pharmacy der University of Maryland in Baltimore. Gemeinsam mit Tom Jefferson recherchierte er unveröffentlichte Studiendaten, zum Beispiel bei der EMA und in Akten der FDA (Food and Drug Administration). Dazu kamen Tipps von Forschern und Ärzten.

So wirksam wie Aspirin

Eine von Roche unterstützte Meta-Analyse von 2003 besagt, dass Tamiflu über 50 Prozent der Komplikationen einer Grippe verhindern kann, etwa eine bakterielle Bronchitis. Doch die Nachforschungen von Doshi und seinem Mitstreiter ergaben, dass nur zwei der zehn Studien, die der Analyse zugrunde lagen, in Fachjournalen publiziert wurden. Die Wirksamkeit von Tamiflu ist damit fraglich. Da überrascht es nicht, dass Tamiflu in Studien, die 1999 zu seiner Zulassung in den USA führten, nur schwach wirksam war: Es konnte eine normale siebentägige Virusgrippe um einen Tag verkürzen. „Es ist in etwa so wirksam wie Aspirin”, kommentiert Doshi.

Bis heute kann niemand sagen, wie das Grippemittel genau wirkt, ob es einer Influenza vor allem in der Risikogruppe der älteren und immungeschwächten Personen vorbeugt und ob es gefährliche Nebenwirkungen hat. Aus Japan etwa gibt es eine Meldung, dass sich zwei Teenager unter dem Einfluss der Arznei das Leben nehmen wollten.

Die Firma Roche soll insgesamt 127 Studien zu Tamiflu durchgeführt haben. Inzwischen hat das Unternehmen die Daten an Doshi und Jefferson herausgegeben – nach mehrmaliger Aufforderung. Die beiden werten jetzt die Daten aus. Dieses Jahr wollen sie die Ergebnisse ihrer Analyse veröffentlichen.

Ein anderer Fall: Kürzlich haben unabhängige Wissenschaftler der Yale University aufgrund von Daten, die die Firma Medtronic ihnen überließ, aufgedeckt, dass das Protein-Implantat „rhBMP-2″, eingesetzt bei chronischem Rückenschmerz, keine Vorteile gegenüber herkömmlichen Therapien hat. Bislang hatten die Daten für eine Überlegenheit der Medtronic-Behandlung gesprochen.

Der Glaube an das Bewertungssystem von Arzneimitteln ist erschüttert: Oft wird offenbar Geld gemacht statt gesund gemacht. Was fehlt, sind vor allem Gesetze und Bußgelder, die die Pharmafirmen empfindlich treffen. Ohne diese werden die Unternehmen ihr Verhalten auf Dauer kaum ändern. •

von Kathrin Burger

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