Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Der kosmische Fluss

Astronomie|Physik

Der kosmische Fluss
Galaxien bilden ein gewaltiges Strömungsmuster im All. Diese universelle Dynamik beginnen Kosmologen jetzt in großem Maßstab zu kartieren.

Alles im Universum ist in Bewegung: Die Erde kreist um die Sonne, die Sonne um das Zentrum der Milchstraße – und diese schießt mit etwa 300 Kilometer pro Sekunde auf die benachbarte Andromeda-Galaxie zu. In etwa vier Milliarden Jahren wird sie mit ihr verschmelzen. Doch es wirken noch andere Himmelskörper mit ihrer Schwerkraft auf die Milchstraße ein. So zwingen ihr die rund 2000 Galaxien im Virgo-Haufen eine Geschwindigkeitskomponente von 140 Kilometern pro Sekunde auf.

Alle Galaxien im Universum sind diesem Gravitationsgezerre ausgesetzt und wirken wechselseitig aufeinander ein. Hinzu kommt die Schwerkraft der Dunklen Materie, die fünf Mal so viel zur Gesamtmasse im All beiträgt wie alle Sterne, Gas und Staub zusammen. Die Summe all dieser Kraftkomponenten führt zu einem Strömungsmuster, dem sämtliche Galaxien folgen.

Direkt beobachten lassen sich diese Bewegungen wegen der großen Entfernungen nicht. Hélène Courtois von der Universität Lyon und Brent Tully von der University of Hawaii haben jedoch einen Weg gefunden, die über Jahrmilliarden hinweg dauernden Abläufe zu berechnen und in einem Zeitrafferfilm zu veranschaulichen. Das Zwischenergebnis ihres Großprojekts mit dem Namen Cosmic Flows ist im Internet zu sehen: http://irfu.cea.fr/cosmography.

Die Galaxien sind nicht gleichmäßig im Universum verstreut, sondern haben sich in großen Gruppen angesammelt, die wiederum Teil eines gigantischen Netzes sind. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist auch die unsichtbare Dunkle Materie in den Regionen mit hoher Galaxienzahl verdichtet. Sie gehört also ebenfalls zum kosmischen Netz.

Anzeige

Die Bewegungen der Galaxien haben zwei Ursachen. Zum einen entfernen sich fast alle Sternsysteme von uns, weil sich das Universum ausdehnt – ähnlich wie der Abstand zwischen Ameisen auf einem Gummituch wächst, wenn man es auseinanderzieht. Zum anderen krabbeln die Tierchen selbst auf dem expandierenden Tuch herum, ähnlich wie die Galaxien unter dem Einfluss der Schwerkraft umherfliegen. Diese sogenannte Pekuliarbewegung ist es, für die sich Courtois und Tully interessieren. Sie von der permanenten Expansion zu trennen ist eine knifflige Aufgabe in dem Projekt Cosmic Flows.

Grundlage ist das in den 1930er-Jahren von Edwin Hubble gefundene Gesetz, dass die Galaxien sich umso schneller von uns fortbewegen, je weiter sie entfernt sind. Misst man in einem Galaxienspektrum diese Fluchtgeschwindigkeit, so lässt sich mit dem Hubble-Gesetz die Entfernung ausrechnen. Das beschreibt aber nur die Geschwindigkeitskomponente der Expansion des Universums. Nun bestimmt man mit anderen Methoden die Entfernungen der Galaxie. Wenn dieser Wert von demjenigen der Hubble-Expansion abweicht, so ist die Ursache hierfür die Pekuliargeschwindigkeit, die durch die Schwerkraftwirkung anderer Galaxien zustande kommt.

Wie Ameisen auf einem Gummituch

Courtois und Tully greifen für ihre Analyse auf bereits vorhandene Daten zurück und vermessen selbst viele weitere Galaxien. Ihr kürzlich veröffentlichtes Zwischenergebnis ist beeindruckend. Um es anschaulich darstellen zu können, hat Courtois’ Kollege Daniel Pomarède ein Grafikprogramm entwickelt, das die räumliche Verteilung der Galaxien bis in etwa 400 Millionen Lichtjahre Entfernung zeigt. Daraus berechnen die Forscher deren Pekuliarbewegungen, die sie in einem Zeitraffervideo verdeutlichen. Diese neue Form der Darstellung nennt Courtois „Kosmografie”.

Unsere Milchstraße bildet zusammen mit der Andromeda-Galaxie und dem Dreiecksnebel (M 33) sowie kleineren Sternsystemen die Lokale Gruppe (bild der wissenschaft 8/2011, „Zwerge im Vorgarten” ). Sie ist mit zehn Millionen Lichtjahren Durchmesser recht klein und von der Expansion des Universums nicht betroffen. Ihre Mitglieder streben auf die Milchstraße oder die Andromeda-Galaxie zu.

Die Lokale Gruppe ist nur ein kleiner Baustein in dem riesigen Netz, das das Universum durchzieht. Wie Schaumblasen umschließt es riesige Leerräume, die mit ihrer nicht vorhandenen Schwerkraft ebenfalls zu dem gesamten Bewegungsmuster der Galaxien beitragen. An den Kreuzungspunkten dieser länglichen Filamente und „Wände” sitzen die besonders mächtigen Galaxienhaufen wie der aus mehr als Tausend Mitgliedern bestehende Haufen im Sternbild Coma Berenices. Er ist Teil der Großen Mauer, die mit 500 Millionen Lichtjahren Länge zu den größten bekannten Strukturen im Universum gehört. Der Centaurus-Superhaufen bildet den Knotenpunkt von sogar fünf mächtigen Filamenten.

Das Video zeigt eindrucksvoll, wie die Galaxien durch dieses kosmische Netz zu einigen wenigen Superhaufen streben. Besonders der aus mehreren Zehntausend Galaxien bestehende Große Attraktor, der seinem Namen hier alle Ehre macht, wirkt wie ein gigantischer Staubsauger.

Auf großer Fahrt durch Raum und Zeit

Die Milchstraße bewegt sich mit der Lokalen Gruppe auf den Virgo-Haufen zu, biegt dann gleichsam in das Virgo- Filament ein, um auf den zweiten „kosmischen Staubsauger” zuzustreben, den Antlia-Centaurus-Superhaufen. Von dort führt der Weg zum Großen Attraktor.

Wie stark sich die Superhaufen in Zukunft weiter verdichten werden, hängt von der Expansion des Universums ab. Auf kleinen Skalen wie der Lokalen Gruppe überwiegt die Schwerkraft und hält die Galaxien gegenüber der Expansion zusammen. Doch auf sehr großen Skalen dominiert die Raumausdehnung, die bewirkt, dass sich die Galaxienhaufen voneinander entfernen. Um im Ameisen-Bild zu bleiben: Die Krabbeltiere sind nicht schnell genug, um zu verhindern, dass sie auf dem sich dehnenden Gummituch immer weiter auseinander rücken. „Deswegen wird unsere Milchstraße wahrscheinlich nie den Großen Attraktor erreichen”, sagt Hélène Courtois. „Gegenwärtig streben wir mit 400 Kilometern pro Sekunde auf ihn zu, doch die Expansion entfernt uns mit 4000 Kilometern pro Sekunde voneinander.”

Noch reichen die Beobachtungsdaten nicht weit genug, um die Wirkung von zwei anderen bekannten Superhaufen – der Großen Mauer und Perseus-Pisces – mit einzubeziehen. Das wollen Courtois und Tully im nächsten Schritt tun, wenn sie Galaxien bis in 1,5 Milliarden Lichtjahren Entfernung vermessen. Hierfür haben sie allein an zwei Radioteleskopen mehr als 1000 Beobachtungsstunden reserviert. Viele weitere Nächte an anderen Instrumenten werden hinzukommen. •

von Thomas Bührke

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Erb|bau|er  〈m. 16〉 1 Bauer mit vererblichem Landbesitz od. mit vererblichem Nutzungsrecht fremden Landes 2 〈im MA〉 leibeigener Bauer, der mit dem Land vererbt wurde … mehr

Ele|men|tar|ana|ly|se  〈f. 19; Chem.〉 Bestimmung der Bestandteile, bes. des Kohlen– u. Wasserstoffgehaltes organischer Verbindungen durch Wägung der bei der Verbrennung einer Substanz entstehenden Mengen an Kohlendioxid u. Wasser

Aqua|far|ming  〈n. 15; unz.〉 Art der Fischzucht in Gehegen im Meerwasser [<lat. aqua … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige