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Wir entdecken den Alltag im Schützengraben

Geschichte|Archäologie

Wir entdecken den Alltag im Schützengraben
Seit rund zwei Jahrzehnten legen Archäologen die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs frei – darunter die französischen Wissenschaftler Michaël Landolt und Bernadette Schnitzler. Sie trugen die Funde zu einer beeindruckenden Ausstellung in Straßburg zusammen.

Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg. Das war für Sie der Anlass zu einer archäologischen Ausstellung. Wie kamen Sie auf die Idee?

Schnitzler: 2011 führte Michaël eine große Ausgrabung im elsässischen Carspach durch. Bei Straßenarbeiten waren dort die Reste eines vergessenen deutschen Unterstands ans Licht gekommen, des sogenannten Kilianstollens. Das Tunnelsystem verlief direkt hinter der deutschen Linie. 1918 geriet der Stollen so stark unter Beschuss, dass er einstürzte und 21 Soldaten in sich begrub. Landolt: Der zerstörte Teil der Tunnelanlage war in sehr gutem Zustand, seit 1918 unberührt, eine regelrechte Zeitkapsel. Das gibt es sehr selten. Wir haben im Stollen und in der Umgebung des Tunnels unglaublich viele Funde gemacht. Schnitzler: Diese und die Fundobjekte aus anderen Grabungen lieferten so viele Informationen über das Leben der Soldaten – da war uns klar: Zu diesem Thema müssen wir eine Ausstellung machen.

Über den Alltag der Soldaten ist vieles aus Fotos, Briefen oder Büchern wie Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ bekannt. Was liefert die Archäologie Neues?

Landolt: Unsere Grabungsergebnisse vervollständigen das bisherige Bild, decken aber auch neue Facetten auf. Nehmen Sie Remarque: Er schreibt, dass seine Hauptfigur Paul Bäumer an der Front meist Bohneneintopf mit Rindfleisch zu essen bekam. In Carspach haben wir hauptsächlich gekochte Rinderknochen gefunden. Zwei Hinweise – einmal literarisch, das andere Mal archäologisch – , die sich wunderbar ergänzen. An anderer Stelle sitzt Paul unter freiem Himmel auf dem Abort und spielt mit seinen Kameraden Karten. Wir haben einige Latrinen ausgegraben und die Exkrementreste untersuchen lassen sowie Proben aus dem Beckenbereich der Toten genommen. Demnach litten die meisten Soldaten an Spul-, Band- und Peitschenwürmern. Einmal fanden wir sogar einen Parasiten, der nur bei Ratten vorkommt. Vermutlich waren Speisen mit Rattenkot verunreinigt.

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Was überraschte Sie am meisten?

Landolt: Woher die Glasflaschen aus den Schützengräben kamen. Die Quellenlage zum Ersten Weltkrieg ist weniger gut, als man denkt. Zum einen geriet vieles in Vergessenheit, zum anderen wurden während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Archive zerstört – auch solche von Unternehmen, deren Produkte wir bei unseren Grabungen finden. Dazu gehören sehr viele Flaschen. Aus hygienischen Gründen durften die Soldaten damals nur abgefüllte Getränke trinken – etwa Mineralwasser, Limonade, aber auch Bier, Wein und Schnaps. Die Flaschen kamen von unterschiedlichen Herstellern in Deutschland. Bei den Grabungen tauchten allerdings auch einige auf von Brauereien aus Peru, Venezuela, Chile, Brasilien und Südafrika. Wir waren total verblüfft und dachten erst, die Flaschen seien importiert. Tatsächlich kamen sie aus Deutschland. Was heute kaum jemand weiß: Deutschland gehörte damals zu den größten Flaschenexporteuren weltweit. Die Seeblockade während des Kriegs verhinderte, die Flaschen zu verschiffen. Also nutzte man sie kurzerhand zur Versorgung der Soldaten. Schnitzler: Neben Feldgeschirr kamen auch viele zivile Teller, Tassen und Trinkgläser ans Licht. In keinem Heeresbericht werden solche persönlichen Dinge erwähnt. Sie waren Teil des Alltags in den Schützengräben, den wir nur noch von Fotografien kennen. Die letzte Zeit- zeugin, die britische Krankenschwester Florence Green, starb vor zwei Jahren. Apropos Geschirr: Unter den Gefäßen befanden sich sehr viele Senfgläser. Die Deutschen müssen Unmengen Senf verzehrt haben (lacht).

Rindfleisch und Senf – gab es noch andere typisch deutsche Entdeckungen?

Landolt: Die deutschen Soldaten rauchten viel Pfeife. In Carspach hatte allein ein Gefallener drei Pfeifen bei sich. Weihnachten 1915 bekamen die Soldaten sogar von der obersten Heeresleitung Porzellanpfeifen geschenkt, ebenso bei der Entlassung aus dem Kriegsdienst.

Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie einen Toten aus der Jungsteinzeit bergen oder einen, der ihr Urgroßvater gewesen sein könnte?

Landolt: Archäologen, mich eingeschlossen, zeigen allgemein wenig Scheu im Umgang mit menschlichen Überresten. Außerdem ist der Erste Weltkrieg für mich und meine Generation zeitlich sehr weit weg. Für meine Eltern und Großeltern ist das anders. Sie hätten bestimmt einen ganz anderen Bezug zu den Toten. Und trotzdem: Als ich bei der Grabung in Carspach die Skelette sah, mit Stiefeln an den Füßen, mit Armbanduhren am Handgelenk, alles Dinge, die es heute noch gibt, da ist mir richtig bewusst geworden: Da liegt einer wie du und ich, der geatmet und gelebt hat. Inzwischen geht mir das auch mit jungsteinzeitlichen Skeletten so. Seit der Grabung im Kilianstollen hat sich mein Umgang mit menschlichen Überresten gewandelt.

Haben Sie denn Nachfahren der Toten kennengelernt?

Schnitzler: Ja, die Angehörige eines Verschütteten aus dem Stollen. Seine Großnichte kam zur Ausstellungseröffnung und hat uns ein Foto ihres Großonkels überlassen. Wir haben uns lange unterhalten. Es war unglaublich ergreifend, über sie eine Verbindung zu den toten Männern aus dem Kilianstollen zu bekommen. Landolt: Mir ging es genauso. Allerdings kommt es selten vor, dass wir Angehörige kennenlernen oder überhaupt mit ihnen in Kontakt treten.

Warum?

Landolt: In Frankreich werden seit fast zwei Jahrzehnten Schauplätze des Ersten Weltkriegs ausgegraben, doch für die Kriegsgefallenen sind traditionell Organisationen wie der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zuständig. Sie bergen die Toten, sorgen für deren Wiederbestattung, ermitteln und kontaktieren die Hinterbliebenen. In Carspach haben wir eng mit dem deutschen und französischen Gräberdienst zusammengearbeitet und erwirkt, dass wir die Verschütteten nach archäologischen Gesichtspunkten bergen, untersuchen und dokumentieren durften. Mit dem Ergebnis waren alle sehr zufrieden.

Ist die Zusammenarbeit immer so gut?

Schnitzler: Erst kürzlich wurden bei Verdun wieder Gefallene entdeckt und ohne archäologische Begleitung geborgen. Die Leute von der Kriegsgräberfürsorge meinen es gut, haben aber oft wenig Erfahrung, wenn es um sachgerechtes Freilegen geht. Wenn beim Ausgraben Objekte und Knochen durcheinander geraten, können wir viele Gefallene nicht mehr identifizieren. Zudem sind die Erkennungsmarken in der Regel schwer zu entziffern. Die Marken aus Carspach mussten wir röntgen lassen, um die Namen zumindest teilweise lesen zu können. Manchmal war es uns erst mithilfe der Dienstabzeichen möglich, den Gefallenen zu identifizieren. Das ist echte Detektivarbeit. Leider sind die für Kriegsopfer zuständigen Organisationen noch nicht daran gewöhnt, mit Archäo-logen zusammenzuarbeiten. Das ist noch relativ neu. Landolt: Das französische Kultusministerium hat erst vor wenigen Wochen verkündet, dass die Hinterlassenschaften des Ersten und Zweiten Weltkriegs als archäologische Stätten zu behandeln sind und von Archäologen freigelegt werden müssen. Dazu gehören auch die Gefallenen. Auf der anderen Seite hat die Kriegsgräberfürsorge berechtigte Interessen, die Toten zu bergen. Wir müssen verstärkt zusammenarbeiten, damit wir allen Interessen gerecht werden.

Sie haben in Elsass und Lothringen sehr viele deutsche Stellungen ausgegraben. Arbeiten in Frankreich auch deutsche Archäologen an solchen Orten?

Landolt: Wenige. In Nordfrankreich und Belgien engagieren sich einige britische Archäologen, deutsche sind mir nicht bekannt – bis auf einen Kollegen vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Halle, Volker Demuth. Er hat in Quedlinburg vor einigen Jahren ein Kriegsgefangenenlager ausgegraben. Ansonsten befassen sich die meisten deutschen Forscher mit den Relikten des Zweiten Weltkriegs, etwa Bunkern, Konzentrationslagern oder dem Westwall. Schnitzler: Ich kenne nur Historiker aus Deutschland, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen. Landolt: Aber wir arbeiten inzwischen immer enger mit deutschen Archäologen zusammen. Momentan tauschen wir uns mit den Landesarchiven in Karlsruhe und Stuttgart aus, um Luftbilder und Feldpläne zu digitalisieren. Wir wollen versuchen, die alte Frontlinie genauer zu rekonstruieren. Nach Abschluss wollen wir unsere von der EU geförderte Arbeit online veröffentlichen. Dazu erstellen wir gerade eine 3D-Rekonstruktion des Kilianstollens. Zusammen mit zahlreichen Funden gibt es das 3D-Modell dann im Sommer 2014 im Militärischen Museum der Bundeswehr in Dresden zu sehen. •

Das Gespräch führte Karin Krapp.

Mehr zum Thema

Lesen

Bernadette Schnitzler, Michaël Landolt (Hrsg.) À l’est, du noveau! Archéologie de la Grande Guerre en Alsace et en Lorraine Editions des Musées de Strasbourg 2013, € 32,58

DAMALS Der Erste Weltkrieg Sonderband 2013, WBG, Darmstadt 2013, € 14,90

Ohne Titel

studierte Archäologie an der Universität Straßburg. Neben seinen Forschungen zur Eisenzeit in Elsass und Lothringen widmet er sich seit 2005 verstärkt den Fundplätzen jüngerer Konflikte wie dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Landolt (*1982) ist Archäologe am Pôle d‘ Archéologie Interdépartemental Rhenan in Schlettstadt.

Ohne Titel

studierte an der Universität Straßburg Gallo-Römische Archäologie. Seit 1981 ist sie Kuratorin des Straßburger Archäologischen Museums. Schnitzler (*1953) konzipierte viele Dauer- und Wechselausstellungen, zuletzt die Schau über die Archäologie des Ersten Weltkriegs „À l‘est, du nouveau!“

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