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„Es“ ist anders, als Sie denken

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

„Es“ ist anders, als Sie denken
Der südafrikanische Psychoanalytiker und Neurowissenschaftler Mark Solms stellt Freuds Modell von Ich und Es auf den Kopf.

Sie haben vor rund 15 Jahren die Neuropsychoanalyse ins Leben gerufen, Herr Professor Solms. Was bringt die Fusion von Neurowissenschaft und Psychoanalyse?

Mark Solms: Sie profitieren voneinander. Die Neurowissenschaft hat sich mit ihren Konzepten und Theorien zu weit von der Komplexität unseres Seelenleben entfernt. Es ist zwar sinnvoll, dass Neurowissenschaftler die kog-nitiven Prozesse im Gehirn präzise untersuchen. Zugleich ist es aber notwendig, die Einzelbefunde in Bezug zum tatsächlichen Erleben zu setzen. Die Psychoanalyse bereichert die Neurowissenschaft, weil sie genau das tut: Sie betrachtet das Seelenleben als Ganzes.

Und inwiefern profitiert die Psychoanalyse?

Die psychoanalytische Methode ist – ungeachtet ihrer Fehler – gut darin, Fragen zu stellen, Probleme zu identifizieren, Möglichkeiten aufzuzeigen und Erklärungen vorzuschlagen. Doch viele dieser Thesen lassen sich nicht verifizieren oder falsifizieren. Da kann die Neurowissenschaft helfen.

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Viele Kritiker zweifeln an der Seriosität und Wirksamkeit der Psychoanalyse wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit. Wie stehen Sie dazu?

Als die Psychoanalyse vor über 100 Jahren entwickelt wurde, hatten die meisten ihrer Vertreter einen wissenschaftlichen Hintergrund. Das hat sich über die Jahre geändert. Die Psychoanalyse ist zu einem Beruf geworden, den man erlernt, um eine Praxis zu betreiben. Viele, die das tut, haben keinerlei wissenschaftliches Interesse. In Deutschland muss man Psychologie oder Medizin studiert haben, um Psychoanalytiker zu werden. Aber in England und anderen Ländern kann man auch Künstler oder Philosoph sein. Das ist in Ordnung, doch ich denke, wenn das Fundament der Psychoanalyse nicht wissenschaftlich ist, dann ist das ein Problem. Die Neuropsychoanalyse eröffnet neue Möglichkeiten, um die psychoanalytischen Theorien wissenschaftlich zu begründen.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo die Psychoanalyse an ihre Grenzen stößt?

Ja. Es gibt zwei konkurrierende Theorien darüber, wie sich Moral entwickelt – die eine stammt von Sigmund Freud, die andere von der Kinderanalytikerin Melanie Klein. Nach der Freud‘schen These entwickelt sich im Alter von fünf bis sechs Jahren das Über-Ich. Da begreifen Kinder, dass es Regeln gibt, die man befolgen muss, um in einer sozialen Gruppe zurecht zu kommen. Der Klein’sche Ansatz besagt, dass der Mensch bereits mit dem Beginn des Lebens einen Sinn für Moral besitzt. Das Problem ist: Man kann Patienten nicht fragen, wann sich bei ihnen Moral entwickelt hat. Und man kann auch kein Baby fragen: Hast du gerade Schuldgefühle?

Und da kommt die Neurowissenschaft ins Spiel?

Genau. Man hat fünfjährige Kinder in eine moralische Situation gebracht und mithilfe von bildgebenden Verfahren geschaut, welche Hirnregionen dabei aktiv sind. Es stellte sich heraus, dass bei Schuldgefühlen der präfrontale Cortex beteiligt ist. Dann hat man bei jüngeren Kindern nachgesehen und keine solche Aktivierung festgestellt. Das lässt zumindest Zweifel aufkommen, dass kleinere Kinder Schuld empfinden.

Sie haben kürzlich den Aufsatz „Das bewusste Es“ veröffentlicht, in dem Sie konstatieren, dass sich Freud bei seinem zentralen Konzept von Ich und Es geirrt hat. Was ist Ihre These?

Das ist tatsächlich der größte Fehler Freuds, der mir seit der Beschäftigung mit seiner Arbeit untergekommen ist. Bisher dachte man, dass für unbewusste Vorstellungen dieselbe Hirnregion zuständig ist wie für unterdrückte Triebe. Beides zusammen nannte Freud das Es. Tatsächlich aber sind das Unbewusste und die unterdrückten Triebe zweierlei. Mehr noch: Die Teile des Gehirns, in denen die Triebe entstehen – das obere Stammhirn und das limbische System –, generieren sogar das Bewusstsein. Das heißt: Das Es ist uns bewusst, zum Beispiel die Affekte. Cortikale Prozesse hingegen – was Freud als „Ich“ bezeichnete und wozu auch unser biografisches Gedächtnis gehört – sind nur dann bewusst, wenn sie vom Stammhirn, also vom Es, aktiviert werden. Ansonsten ist uns das Ich unbewusst.

Akzeptieren Ihre Kollegen die neue These?

Ich würde sagen, die Rückmeldungen sind zu 95 Prozent positiv. Das hat mich selbst überrascht. Ich hätte mehr Widerstand erwartet, aber der kam nicht.

Bis jetzt …

Okay, es könnte natürlich sein, dass die Kollegen noch dabei sind, den Schock zu verdauen. (lacht)

Verändert Ihre Erkenntnis die Psycho- analyse als Therapie?

Wir setzen uns in der neuropsychoanalytischen Arbeit zunächst mit den grundlegenden Theorien auseinander und versuchen zu verstehen, wie die Psyche funktioniert. Wir haben noch keine Untersuchungen gemacht, wie diese oder jene Behandlung wirkt. Aus dem, was ich über das bewusste Es gesagt habe, folgt aber einiges für die Praxis: Bisher versuchen wir, mit den bewussten Gedanken, dem Ich, das Es zu ergründen, um herauszufinden, was in den Tiefen des Geistes vor sich geht. Doch wenn uns diese Tiefen eigentlich bewusst sind, und das Ich unbewusst ist, passiert in der Therapie etwas ganz anderes.

Nämlich?

Es geht nicht primär darum, den Patienten das Unbewusste bewusst zu machen. Vielmehr sind ihnen die eigenen Emotionen bewusst – sogar zu bewusst. Sie wissen nicht, wie sie mit den überbordenden Emotionen umgehen sollen. Die Aufgabe der Psychoanalytiker ist es, Wege aufzuzeigen, wie ihre Patienten die Emotionen in den Griff bekommen können. Dafür müssen sie erarbeiten, warum sie welche Gefühle haben. Ich denke, viele Analytiker tun das ohnehin – weil sie merken, dass es funktioniert.

Sie arbeiten auch an einer Neuinterpretation der Depression. Was ist Ihr Ansatz?

Seit den 1980er-Jahren werden Depressionen standardmäßig mit Medikamenten behandelt, die auf der Basis des Botenstoffs Serotonin wirken, mit sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs, Selective serotonin reuptake inhibitors). Wir haben uns die neurowissenschaftlichen Fakten angeschaut und gefragt, warum diese Mittel gegen Depressionen helfen sollten. Serotonin hat nicht speziell etwas mit Depressionen zu tun. Es ist ein allgemeiner Stimmungsregulator.

Aber die Mittel scheinen zu wirken.

Nun, es ist kein Zufall, dass SSRIs bei Depressionen, Zwangsstörungen, Angststörungen und genereller Verstimmtheit verabreicht werden – also so ziemlich bei allem. Das war unser Ausgangspunkt. Wir wollten wissen: Welche Hirnfunktionen genau sind bei der Entstehung von Depressionen involviert?

Wie sind Sie vorgegangen?

Im psychoanalytischen Verständnis hat eine Depression etwas mit Trennung und Verlust zu tun. Freud bezeichnet den Zustand als eine Form von Trauer. Das Diagnosemanual der psychischen Krankheiten besagt, dass man bei Depressionen schlechter Stimmung und antriebslos ist, keine Freude verspürt und weint. Nur wenn man all das empfindet, aber gerade einen Menschen verloren hat, spricht man nicht von einer Depression. Das zeigt doch, dass der Zustand dem der Trauer ziemlich ähnlich ist. Und über Trauer im Gehirn wissen wir einiges: Trennung und Verlust gehen mit einem veränderten Opioid-Spiegel einher und infolgedessen mit dem Absturz des Dopamin-Spiegels. Wir haben in Tierversuchen und bei Patienten untersucht, was passiert, wenn wir Medikamente geben, die den Opioid-Level erhöhen. Das Ergebnis: ein deutlicher Rückgang der depressiven Stimmung. Im Übrigen haben Studien gezeigt, dass die Serotonin-Medikamente nicht viel besser wirken als Placebos. Und Placebos helfen, indem sie den Opioid-Spiegel erhöhen.

Was denken Sie über Burn-out: Ist das eine Art Depression?

Burn-out ist eng verwandt mit Depressionen – und scheint auch etwas mit dem Gefühl von Verlust zu tun zu haben, im abstrakteren Sinn. Ich beobachte das oft in Südafrika. Ärzte und Politiker stürzen sich in die Arbeit, müssen dann aber feststellen, dass sie ihre Ziele nicht erreichen können. Daraufhin verlieren sie ihr Selbstvertrauen, ihren Enthusiasmus, ihre Energie und ihre Ideale – das, was ihnen Halt und Sicherheit im Leben gegeben hat.

Burn-out scheint aber vor allem ein deutsches Phänomen zu sein. Was könnte der Grund dafür sein?

Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt das daran, dass die Deutschen so hohe Ideale haben … •

Das Gespräch führte Cornelia Varwig

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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