Die Bogengänge bilden im Innenohr von Säugetieren eine Art Labyrinth aus ringförmigen Schläuchen. Sie sind Teil des Gleichgewichtsorgans und dienen zur Feststellung und Regulierung von Drehbewegungen. Bei vielen fossilen Schädeln sind die Strukturen der Bogengänge gut erhalten. Sie lassen sich durch computertomographische Aufnahmen gut abbilden. So stellten Anthropologen fest, dass der halbkreisförmige hintere Bogengang beim Neandertaler tiefer als bei sämtlichen anderen Arten der Gattung Homo liegt. Dadurch avancierten diese Merkmale des Innenohrs zu einem angeblich besonders trennscharfen Merkmal bei der Bestimmung von menschlichen Fossilien. „Aus diesem Grund waren wir so überrascht, als wir bei unseren Untersuchungen auf ein Neandertaler-typisches Innenohr gestoßen sind”, berichtet Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis.
Er und seine Kollegen haben diese Merkmale bei einem fossilen Schädel festgestellt, der aus einem Fundort im Norden Chinas stammt. Analysen hatten ihn auf ein Alter von etwa 100.000 Jahren datiert. Seine übrigen Merkmale und Beifunde wiesen ihn als einen archaischen Menschen aus – es handelte sich definitiv nicht um einen Neandertaler, sagen die Forscher. „Wir erwarteten, dass die CT-Scans uns Bogengänge präsentieren, wie sie auch der moderne Mensch besitzt – doch was wir sahen, waren die angeblich typischen Kennzeichen des Neandertalers”, sagt Trinkaus.
Anthropologie ist und bleibt knifflig
Folglich können die Eigenschaften des Innenohrs nun nicht mehr als ein eindeutiges Kriterium des Neandertalers gelten. Doch was bedeuten diese Ergebnisse? Das fragen sich die Anthropologen nun offenbar auch. Man könnte annehmen, dass sie auf eine Verbindung – einen Genfluss – zwischen den Neandertalern im Westen Eurasiens und den archaischen Menschen in China hindeuten. Doch die Forscher betonen, dass die wirklichen Hintergründe der Gemeinsamkeit bislang im Dunkeln bleiben. „Das Ergebnis stellt allerdings einige Annahmen über die Ausbreitungswege und Verbindungen archaischer Menschenformen in Frage”, sagt Trinkaus.
Ihm zufolge geht aus den Studienergebnissen aber zumindest eine Botschaft klar hervor: „Sie belegen, dass die Entwicklungsgeschichte des Menschen keinen simplen Mustern folgte”, so der Anthropologe. „Die Erforschung der menschlichen Evolution war schon immer knifflig, unsere Ergebnisse tragen nun zur Verwirrung bei. Sie legen nahe, dass die Endphase der menschlichen Evolution einer Art Labyrinth aus Entwicklungslinien glich”, resümiert Trinkaus.