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Der Zauber-Reaktor

Astronomie|Physik Technik|Digitales

Der Zauber-Reaktor
In Belgien soll die weltweit erste Anlage gebaut werden, die große Mengen radioaktiven Müll mithilfe von Neutronen unschädlich macht. von Wolfgang Kempkens

Hamid Ait Abderrahim ist ein Zauberer. Aber er holt keine Kaninchen aus dem Zylinder und zersägt auch keine Jungfrau. Ait Abderrahim ist zu Höherem berufen. Er zaubert ein riesiges Menschheitsproblem weg: radioaktiven Abfall. Dazu braucht er keinen Zauberstab, sondern jede Menge Technik. Und er leistet auch nichts Magisches. Es ist einfache Physik. Der Müll, der Zehntausende von Jahren radioaktiv strahlt, wird durch Beschuss mit Neutronen zu Abfall, der nur noch wenige Hundert Jahre lang sicher eingeschlossen werden muss. Dann ist er weitaus harmloser, da er zwar immer noch radioaktiv strahlt, aber nicht mehr toxisch auf den Körper wirkt. Hunderttausende Tonnen des gefährlichen Rückstands aus der Atomstromproduktion haben sich weltweit angesammelt.

Bevor Abderrahim seinen Zaubertrick anwenden kann, muss der Müll allerdings behandelt werden. Die lange Zeit gefährlichen Materialien werden von den übrigen getrennt. Dazu gehört Americium, das nach 7000 Jahren erst zur Hälfte zerfallen ist. Neptunium braucht dafür rund zwei Millionen Jahren, auch diverse Curium-Isotope strahlen sehr lange. Dazu kommen noch Plutonium und Uran – Elemente, die erneut als Reaktorbrennstoff verwendet werden können.

Atome werden zerlegt

Abderrahim ist Direktor des Projekts „Myrrha” am Institute for Advanced Nuclear Systems im belgischen Kernforschungszentrum in Mol bei Antwerpen. Er vollführt sein Kunststück in einer Anlage, die nach der Frau des mythischen keltischen Königs Artus benannt ist: Guinevere. Mit ihr hat er bewiesen, dass sich ein bestimmter Reaktortyp durch Ankopplen eines Teilchenbeschleunigers sicher und zuverlässig unterhalb der kritischen Schwelle betreiben lässt.

Zur Umwandlung lange strahlender Bestandteile in kurzlebige Elemente wird der Atommüll mit Neutronen beschossen, die in dem betagten Forschungsreaktor Venus entstehen. Die Neutronen zerlegen die Atome des Americiums in zwei Teile, die nicht mehr strahlen. Weitere Bestandteile des Mülls fangen Neutronen auf und bauen sie in ihren Atomkern ein. Dadurch verwandeln sie sich in andere Elemente, die kürzer oder gar nicht mehr strahlen. „ Transmutation” heißt dieser physikalische Vorgang, von dessen Gelingen die Alchemisten des Mittelalters vergeblich träumten, als sie Blei und andere billige Materialien in Gold verwandeln wollten.

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Weil Guinevere so erfolgreich ist, hat die Europäische Union beschlossen, sich am Bau von Myrrha zu beteiligen, dem weltweit ersten Reaktor, in dem Atommüll in größeren Mengen unschädlich gemacht werden soll. Ende 2013 wurden die ersten Aufträge vergeben. Nach gegenwärtigem Planungsstand soll der Bau 2015 beginnen, 2024 soll der Reaktor fertig sein. Seinen Namen bekam die Transmutationsanlage nach der Mutter des Adonis aus der griechischen Mythologie.

Anders als in der derzeitigen Versuchsanordnung werden die Neutronen im Kühlmittel des Reaktors erzeugt. Es besteht aus einer heißen Blei-Wismut- Mischung, die flüssig ist wie Wasser. Ausgelöst wird die Neutronenschwemme von Protonen, die in einem externen Teilchenbeschleuniger erzeugt und mit hoher Geschwindigkeit in den Reaktor geschossen werden. Die Neutronen, die beim Aufprall der Protonen in großen Mengen entstehen, haben zwei Aufgaben: Sie spalten im Reaktorkern Plutonium, das aus abgebrannten Reaktor-Brennelementen gewonnen wurde, und frisches Uran.

Die gefährlichen Spaltprodukte werden praktisch im gleichen Arbeitsgang entschärft, ebenso zusätzlich eingefüllte atomare Abfälle. Die bei diesen Prozessen entstehende Wärmeenergie wird über das Kühlmittel nach außen transportiert und ließe sich in einer künftigen industriellen Anlage zur Stromerzeugung nutzen.

Der meiste Müll ist harmlos

Der Anteil des lange strahlenden Materials im Atommüll ist recht gering. Wenn der Uran-Brennstoff verbraucht ist – es also zu wenige Atome gibt, die sich noch spalten lassen –, sind von einer Tonne Ausgangsmaterial noch 935 Kilogramm Uran übrig. Dazu kommen 12 Kilogramm Plutonium und knapp 2 Kilogramm extrem lange strahlender Atommüll. Der Rest ist harmlos oder zerfällt in wenigen Jahren. In einem großen Reaktor stecken rund 100 Tonnen des Uran-Brennstoffs.

Anders als normale Kernreaktoren kann sich Myrrha nicht selbstständig machen, also nicht „durchgehen”. Wenn dem externen Teilchenbeschleuniger der Strom abgedreht wird, schlafen alle Aktivitäten im Reaktorkern schlagartig ein.

Abgetrennt werden die strahlenden Elemente in Wiederaufarbeitungsanlagen, wie sie etwa in Großbritannien, Frankreich, Russland, Japan und den USA betrieben werden. Ursprünglich waren sie gebaut worden, um Plutonium und Uran vom Müll zu trennen – Elemente, die sich erneut als Brennstoff in Kernreaktoren nutzen lassen. Jetzt müssten sie um eine Stufe erweitert werden, die lange und kurz strahlenden Müll voneinander trennen. Ein weiteres Ziel der Wiederaufarbeitung war die Reduzierung der Halbwertszeit des Atommülls. Das ist die Zeit, in der die Hälfte der Atome in weniger gefährliche zerfallen ist. Das Plutonium-Isotop Pu-239 hat eine Halbwertszeit von über 24 000 Jahren. Beim Zerfall senden langlebige radioaktive Isotope Alpha-, Beta- oder Gammastrahlen aus, die allesamt gesundheitsgefährdend bis tödlich sind.

Transmutation zur Vernichtung von Atommüll ist eine Methode, die auf einer Idee des amerikanischen Atomphysikers Ernest Lawrence basiert, der auch das Zyklotron erfunden hat und dafür 1939 den Nobelpreis für Physik erhielt. Der italienische Physik-Nobelpreisträger Carlo Rubbia, der viele Jahre Chef des Europäischen Kernforschungszentrums CERN in Genf war, nutzte das Verfahren Mitte der 1990er-Jahre, um mithilfe von Neutronen aus einem Beschleuniger Uran- in Plutonium-Atomkerne zu verwandeln. Ursprünglich wollte Rubbia Thorium einsetzen, das sich durch Neutroneneinfang in spaltbares Uran umwandeln lässt. Doch das wurde nie realisiert.

Mit voller Power auf die Erbse

Der russische Physiker Andrei Sacharow, wie Lawrence und Rubbia Nobelpreisträger, hat sich eine andere Lösung ausgedacht, um Strom zu erzeugen und Atommüll zu vernichten. Er setzte in den 1950er-Jahren auf den Hybridreaktor: einen Zwitter, in dem manche Atomkerne gespalten werden und andere miteinander verschmelzen. Diese Idee wird vor allem am kalifornischen Lawrence Livermore National Laboratory, rund 50 Kilometer östlich von San Francisco, verfolgt. Vor mehr als zehn Jahren entstand dort die National Ignition Facility (NIF) – eine riesige Forschungsanlage, in der zunächst das nachgeahmt werden sollte, was in der Sonne geschieht. 192 der weltweit stärksten Laser sind in der NIF auf ein Ziel gerichtet, das nicht größer ist als eine Erbse. Dort befindet sich ein tiefgefrorenes Körnchen aus den Wasserstoff-Isotopen Deuterium und Tritium, das für den Bruchteil einer Sekunde von allen Lasern gleichzeitig beschossen wird. Die Temperatur darin steigt schlagartig auf über 100 Millionen Grad Celsius. In dieser höllischen Atmosphäre verschmelzen die Isotope zu Helium. Dabei entsteht Energie. Im Herbst 2013 schafften es die Forscher erstmals, mehr Energie aus der Kernfusion zu erzeugen, als sie in die verschmelzenden Atomkerne hineingesteckt hatten – allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Begehrte Neutronen

Das ist zwar eine wissenschaftliche Sensation, aber noch kein echter Durchbruch zu einem Fusionsreaktor. Darin müssten die Isotope kontinuierlich miteinander verschmelzen. Ziel der Forscher in Livermore ist es nicht, die Energie zu nutzen, die bei diesem Prozess erzeugt wird, sondern vielmehr die entstehenden Neutronen. Sie sollen in einen Reaktor geleitet werden, in dem sich Uran und Plutonium befinden. Deren Menge ist so klein, dass es keine Kettenreaktion geben kann. Sobald der Nachschub an Neutronen stoppt, enden auch die Kernspaltungen.

Wie Myrrha kann ein solcher Hybridreaktor nicht „durchgehen”. Und es gibt noch eine Parallele: Er lässt sich auch zur Vernichtung von Atommüll einsetzen. Ähnliche Pläne hat Yuanxi Wang, Dekan der Schule für Kernphysik und Kerntechnologie in Hefei, einer Fünf-Millionen-Einwohner-Stadt im Südosten Chinas. Der dortige Fusionsreaktor East Tokamak, der allerdings mehr Energie verschlingt als er erzeugt, soll Neutronen liefern, die dann in einem benachbarten Reaktor Atomkerne spalten. Dieser Reaktor muss allerdings erst noch gebaut werden. Die Chinesen wollen ihn nutzen, um ihr Atommüllproblem zu entschärfen.

Darum geht es auch japanischen Wissenschaftlern in einem Forschungsprogramm zur Transmutation. Sie nutzen einen Teilchenbeschleuniger im Forschungszentrum J-PARC in Tokai bei Tokio, um versuchsweise radioaktiv strahlenden Abfall in kurzlebigere Stoffe umzuwandeln.

Bevor wissenschaftliche „Zauberer” Atommüll in großer Menge entschärfen, könnten aber noch Jahre oder Jahrzehnte vergehen. Vielleicht fällt die große Show auch aus. Denn die Trennung von Atommüll und Wertstoffen in Wiederaufarbeitungsanlagen ist zumindest in Deutschland höchst umstritten. Und die Kosten könnten den Projekten den Rest geben. Myrrha etwa verschlingt rund eine Milliarde Euro. Die Vernichtungskapazität liegt bei weniger als einer Tonne pro Jahr. •

Der Wissenschaftsjournalist WOLFGANG KEMPKENS hat Elektrotechnik studiert und sich auf Reaktortechnik spezialisiert.

Kompakt

· Lang strahlende Bestandteile des Atommülls lassen sich durch Neutronenbeschuss in kurzlebige Elemente umwandeln.

· Der weltweit erste Reaktor, in dem dieses Verfahren in großem Stil angewandt wird, soll bis 2024 fertig sein.

Mehr zum Thema

Internet

So funktioniert die Transmutation von Atommülll (Info der Deutschen Physikalischen Gesellschaft): www.dpg-physik.de/veroeffentlichung/ physik_konkret/pix/Physik_Konkret_14.pdf

Das Experiment „Guinevere” am Studienzentrum für Kernenergie in Mol: www.euronuclear.org/e-news/e-news-25/ GUINEVERE.htm

Infos zum geplanten Forschungsreaktor „Myrrha”: myrrha.sckcen.be

National Ignition Facility in Livermore, Kalifornien: lasers.llnl.gov

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