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Die Wissenschaft braucht mehr Demokratie

Allgemein

Die Wissenschaft braucht mehr Demokratie
Durch ein Mehr an Öffentlichkeit ist die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr, fürchtet Günter Stock, Präsident der Union deutscher Wissenschaftsakademien. Uwe Schneidewind, Chef des Wuppertal Instituts, fordert dagegen sogar eine stärkere öffentliche Einflussnahme.

Man ist besorgt in Kreisen der Wissenschaft: „Diejenigen, die eine ‚Demokratisierung der Wissenschaft‘ einfordern, sind … bestrebt, Partikularinteressen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen durch Einflussnahme auf die öffentliche Meinung und mittels partizipativer Strukturen in den Entscheidungsgremien durchzusetzen.“ So brachte es jüngst Günter Stock, langjähriger Präsident der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Präsident der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, auf dem Leibniztag auf den Punkt.

Gemeint sind zweifellos Initiativen wie die „ Zivilgesellschaftliche Plattform ForschungsWende“. Zu deren Gründung fanden sich vor zwei Jahren 50 Vertreter von Umweltverbänden, Kirchen, Gewerkschaften, Verbraucherschutz und entwicklungspolitischen Organisationen zusammen. Sie wollen die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit voranbringen – und das auch bei Forschungsvorhaben, über die heute vornehmlich Vertreter(innen) aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft entscheiden, zivilgesellschaftliche Akteure jedoch außen vor bleiben.

Durch die Einbindung der Zivilgesellschaft sieht Akademiepräsident Stock die Autonomie der Wissenschaft in Gefahr: Innovation sei zur Sicherung unserer Lebensgrundlage ebenso notwendig wie die gleichzeitige Freiheit insbesondere der Grundlagen-, nicht-programmorientierten Forschung: Denn diese Forschung führe – so Stock – zu den eigentlichen wissenschaftlichen Durchbrüchen, und bedürfe daher geradezu der Autonomie und Grundsicherung. Die demokratische Verpflichtung der Wissenschaft beschränkt sich nach Stock auf eine Rechenschaftspflicht. „Die Wissenschaft hat schon lange gelernt, über ihre Ziele und Ergebnisse transparent und öffentlich Rechenschaft abzulegen und diese zu diskutieren – gerade auch im Diskurs mit Nicht-Fachleuten“, argumentiert Stock.

Stock hält jedes weitergehende Ansinnen für eine große Bedrohung, die er sogar in das Umfeld totalitärer Einflussnahme auf die Wissenschaft rückt: „Nein, mit der ‚Demokratisierung von Wissenschaft‘ ist hingegen etwas ganz anderes gemeint, nämlich dass die Gewährung von Forschungsmitteln und die Definition von Forschungszielen sehr viel stärker an einem wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Interesse ausgerichtet werden soll. (….) Im 20. Jahrhundert haben wir in Deutschland zweimal auf bittere Weise erfahren, was es bedeutet, wenn Forschung und Wissenschaft ausschließlich in den Dienst sogenannter gesellschaftlicher Interessen gestellt werden.“

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Das Stock’sche Schreckensszenario: „Plakativ formuliert könnte Folgendes eintreten: Gesellschaftlich relevante Gruppen halten Einzug in den Hauptausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft, um dort – unter anderem im Rhythmus von Landtagswahlen – Forschungsziele zu definieren. Immerhin gibt es für diese Art der Definition von Forschung schon eine akademische Debatte und auch Begrifflichkeiten: So sprechen wir von ‚ transformativer Wissenschaft‘ sowie von ‚Solutionismus‘. – Grund genug, sorgfältig aufzupassen.“

Der Konflikt um das Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie spitzt sich zu. Führende Wissenschaftsorganisationen scheinen sich einig zu sein: Wissenschaft habe völlig autonom zu sein. Damit nutze sie der Gesellschaft am meisten.

Eine solche Perspektive ist naiv, wenn man sich die bestehenden Einflussnahmen auf und Verengungen in der wissenschaftlichen Praxis ansieht. Es ist also höchste Zeit für eine aufgeklärte Debatte über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft in der Demokratie. Moderne Gesellschaften sind Wissensgesellschaften. Zunehmend fordern die unbeabsichtigten Nebenfolgen der Wissenschaft die Gesellschaft heraus: Die Überschreitung ökologischer Grenzen eines ganzen Planeten, die rapide Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen, die tief in die Lebenspraxis hineinreichenden Wirkungen moderner Informationstechnologien.

Ohne wissenschaftliche Durchdringung hätten alle diese Entwicklungen nicht diesen Verlauf genommen. Wissenschafts- und Forschungspolitik fördern sie sogar. In „Joint Technology Initiatives“ zwischen Wissenschaft und Industrie auf europäischer Ebene, in „Hightech-Strategien“ auf nationaler Ebene sowie in vielfältigen „Technologieclustern“ auf regionaler Ebene. Gleichzeitig werden die kritischen Stimmen im Wissenschaftssystem leiser. In den Wirtschaftswissenschaften herrscht schon fast Sprachlosigkeit angesichts der Grenzen des bestehenden ökonomischen Modells, und eine kritische Technik- und Risikoforschung ist in Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen auf dem Rückzug.

Die Pluralität der Ansprüche an die Wissenschaft wird umso wertvoller, je stärker sich Wissenschaft wirtschaftlich-gesellschaftlichen Sachzwängen unterordnet; umso wichtiger wird es, dass aus möglichst vielen Perspektiven Anforderungen an Wissenschaft formuliert werden. Nur diese Pluralität sichert eine wirklich freie Wissenschaft – so der Soziologe Rudolf Stichweh. Denn genau das ist der Grund, warum die Autonomie der Wissenschaft Verfassungsrang genießt: Sie soll die Autonomie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor machtvoller Vereinnahmung durch Einzelinteressen sicherstellen. Doch genau diese Vereinnahmung geschieht in verfeinerter Form durch die Prozesse der Ökonomisierung und einseitiger Exzellenzorientierung.

Vielfältige und anders gelagerte Entwicklungsmöglichkeiten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stellen sich nur durch Pluralität ein. Etwas, das heute schmerzlich in vielen Disziplinen fehlt! Angesichts globaler Umweltherausforderungen, neuer Gefahren für den Weltfrieden und neuer Dimensionen von Macht- und Überwachungsstrukturen durch die Möglichkeiten der digitalen Medien ist eine umfassend demokratisch und pluralistisch orientierte Wissenschaft aber wichtiger denn je.

Eine Demokratisierung von Wissenschaft bedeutet nicht bloß, über Forschungsergebnisse zu informieren, wie es derzeit in der Wissenschaftskommunikation erfolgt. Es geht vielmehr darum, Bürgerinnen und Bürger sowie möglichst vielfältige Akteure der organisierten Zivilgesellschaft über Unternehmen und Wirtschaftsverbände hinaus in Forschungsprozesse einzubeziehen. Stichworte sind hier das „Co-Design“, also die gemeinsame Definition von Forschungsfragen und Perspektiven mit der Zivilgesellschaft, und die „Co-Production“ – die gemeinsame Wissensproduktion mit gesellschaftlichen Akteuren. Gerade das Verständnis komplexer Transformationsprozesse ist auf das Wissen dieser Akteure angewiesen.

Die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind neue Formen der Beteiligung und Einbindung von Zivilgesellschaft in die Gestaltung von Forschungsprogrammen, die breitere Vertretung von pluralen Perspektiven in Hochschulräten und Aufsichtsgremien großer Forschungsorganisationen. Und auch einem Hauptausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft würde die Rechtfertigungspflicht gegenüber nicht-wissenschaftlichen gesellschaftlichen Perspektiven intellektuell nicht schaden, sondern nützen.

Mut macht, dass diese Prozesse auf dem Weg sind. Co-Design und Co-Production werden in den internationalen Programmen der Global Change-Forschung diskutiert, das 8. EU-Forschungsrahmenprogramm macht „die großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ mit einer aufgeklärten Perspektive stark, und das Bundesforschungsministerium sowie mehrere Landeswissenschaftsministerien erproben neue Formen der pluralen Beteiligung bei der Definition von Forschungsprogrammen. Deutschland wäre es zu wünschen, dass seine Wissenschaftsakademien zum lebendigen Reflexionsort und Impulsgeber dieser Debatten und nicht zu ihrem Stolperpfad werden. •

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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Ar|sen  〈n. 11; unz.; chem. Zeichen: As〉 chem. Element, Ordnungszahl 33 [zu grch. arsenikon … mehr

Mund|har|mo|ni|ka  〈f. 10; Pl. a.: –ni|ken; Mus.〉 volkstüml. Blasinstrument, kleiner, flacher Kasten mit Metallzungen, die durch Blasen u. Einziehen von Luft (durch Luftkanäle) in Schwingungen versetzt werden

Tat|ein|heit  〈f. 20; unz.; Rechtsw.〉 Verletzung mehrerer Strafgesetze durch dieselbe Handlung; Sy Idealkonkurrenz; … mehr

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