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Jeder Krebs ist anders

Gesundheit|Medizin

Jeder Krebs ist anders
Forscher analysieren das Erbgut von Patienten, um für sie maßgeschneiderte Therapien zu entwickeln.

Auf den ersten Blick wirkt das Labor am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg unspektakulär. Doch das Brummen von 14 kubischen Maschinen lässt ahnen, dass hier etwas Großes passiert. Es sind Lesemaschinen, sogenannte Sequenzierer, die rund um die Uhr Buchstabe für Buchstabe den 3,2 Milliarden Basenpaare umfassenden Erbgut-Text des menschlichen Genoms entziffern.

Die Heidelberger Forscher wollen Krebspatienten mithilfe von Genom-Analysen maßgeschneiderte Therapien anbieten. Um die Achillesferse eines Tumors zu finden, vergleichen sie das Erbgut der gesunden Zellen eines Patienten mit dem seiner Tumorzellen. Die Ärzte sprechen von „personalisierter Onkologie”.

Künftig wollen die Forscher allen 10 000 Krebspatienten, die jährlich das NCT (Nationales Centrum für Tumorerkrankungen) aufsuchen, eine Sequenzierung anbieten. Das NCT ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums und des Heidelberger Universitätsklinikums. Vor zehn Jahren hätte das Projekt wie Science- Fiction gewirkt. Erst 2003 wurde das menschliche Genom im Rahmen des internationalen Humangenomprojekts vollständig entziffert. Die Analyse hatte 13 Jahre gedauert und 2,7 Milliarden US-Dollar gekostet. Heute liegt das entzifferte Erbgut eines Menschen in ein bis zwei Tagen vor. Die reinen Sequenzier-Kosten sind auf etwa 1000 US-Dollar gesunken. Für die Gesamtanalyse inklusive Interpretation rechnen die Heidelberger Forscher mit etwa 9000 Euro pro Krebspatient.

Sicher und schnell

„Wir nähern uns über Patienten, bei denen alle Standard-Therapien versagt haben, der Routine”, sagt Christof von Kalle, Sprecher des NCT-Direktoriums. Im Visier der Erbgutdetektive standen zunächst Patienten mit meist tödlich verlaufenden Bauchspeicheldrüsen-Tumoren und schwer therapierbaren Hirntumoren. Hinzugekommen sind Erwachsene, die vor dem 50. Lebensjahr an Krebs erkrankten. Für sie ist ein Hinweis im Erbgut der Tumorzellen oft der letzte Lichtblick.

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Damit die Ärzte künftig allen Patienten eine vollständige Erbgut-Analyse anbieten können, haben DKFZ und NCT die „ Heidelberger Initiative für personalisierte Onkologie” gegründet. Darin arbeiten Genetiker, Bioinformatiker und Ärzte zusammen. „ Wir testen zum Beispiel, ob sich die Erbgut-Analyse im klinischen Alltag durchführen lässt”, sagt der Krebsmediziner Hanno Glimm aus dem Team von Christof von Kalle. Die Ärzte brauchen ein qualitativ gesichertes und schnelles Ergebnis. Derzeit vergehen meist vier bis sechs Wochen, bis das entzifferte Erbgut eines Tumors komplett ausgewertet und interpretiert ist.

Die zweite Frage, die Glimm und seine Kollegen bewegt: Nutzt das entzifferte Tumor-Genom den Patienten überhaupt? „Etwa ein Drittel der Patienten hat genetische Veränderungen, die eine experimentelle Therapie sinnvoll erscheinen lassen”, sagt Hanno Glimm. „Die Ergebnisse diskutieren wir mit den beteiligten Molekularbiologen, Pathologen und behandelnden Ärzten.” Am Schluss steht eine Therapieempfehlung für den Patienten.

Hanno Glimm leitet eines der Projekte, in dem das Erbgut aus den Tumorzellen von jungen Erwachsenen entziffert wird. Bei mittlerweile 100 Patienten haben die Forscher alle Erbgutbereiche analysiert, die in Körpereiweiße übersetzt werden. „Manchmal finden wir bei einer Krebsart überraschend eine Veränderung in einem eiweißkodierenden Gen, die bislang als typisch für andere Krebsarten galt und bei der es bereits ein Medikament gegen das veränderte Eiweiß gibt”, sagt Glimm. Häufig entdeckten die Forscher auch neue Veränderungen, die ein Eiweiß eines bekannten krebsverursachenden Signalwegs innerhalb der Zellen betreffen, für den es bereits blockierende Medikamente gibt.

Der Blick ins Genom von Krebszellen hat laut Peter Lichter schon für viele Überraschungen gesorgt. Der Leiter der Abteilung Molekulare Genetik am DKFZ koordiniert den deutschen Beitrag innerhalb des Internationalen Krebsgenomkonsortiums (ICGC). Das ICGC startete 2008 mit dem Ziel, bei 50 Krebsarten das Erbgut von 25 000 Krebspatienten zu entschlüsseln. Unter Lichters Leitung werden die Forscher bis 2015 über 500 Kinder mit einem Hirntumor untersuchen. Lichters Zwischenfazit: Eine Reihe neuer Krebs-Gene und ein bislang bei Hirntumoren unbekanntes Chaos im Erbgut der Krebszellen bei einigen der Patienten. Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass jeder Tumor anders ist. „Bisher haben wir alle Tumore mit ähnlichen Gewebeeigenschaften gleich behandelt”, sagt der Genetiker. Doch die Genom-Analysen offenbarten, dass eine individuelle Behandlung wichtig ist. Hinter dem sogenannten Medulloblastom, einem Tumor des Kleinhirns, etwa stecken mindestens vier Erkrankungen mit unterschiedlichen genetischen Ursachen, die verschiedene Behandlungen erfordern, aber auch unterschiedliche Heilungschancen haben.

Der Krebs wird blockiert

Stefan Pfister ist Kinderarzt am Universitätsklinikum und Krebsforscher am DKFZ. Er plant für eine der vier Medulloblastom-Untergruppen eine klinische Studie mit einem seit Kurzem zugelassenen Hautkrebs-Medikament. Anders als die bisher übliche unspezifische Therapie mit Zellgiften und Bestrahlung blockiert das neue Medikament das Botenmolekül SMO. Es übermittelt ein Teilungssignal an den Zellkern. In den Tumorzellen ist dieser Signalweg dauerhaft aktiv.

Wie Pfister und seine Kollegen nun anhand der Genom-Analysen herausfanden, war der Signalweg in den Tumorzellen durch unterschiedliche Mutationen eingeschaltet. Aktivieren diese genetischen Veränderungen Botenmoleküle, die SMO nachgeschaltet sind, kann das Medikament gar nicht wirken. „Wir müssen jetzt anhand von Gen-Tests jene Patienten herausfiltern, bei denen die Behandlung erfolgversprechend ist”, sagt Pfister.

In Deutschland sind laut dem Verband forschender Arzneimittelhersteller mittlerweile 28 personalisierte Krebswirkstoffe auf dem Markt, für die ein genbasierter Test vor der Anwendung empfohlen oder verpflichtend ist. Den Anfang machten um die Jahrtausendwende Trastuzumab gegen Brustkrebs und Imatinib gegen chronische myeloische Leukämie (CML), eine Blutkrebsart. Heute überleben dank der Fortschritte in der Krebstherapie immer mehr Menschen die ersten fünf Jahre nach der Diagnose. Doch ein Drittel der Patienten erliegt der Krankheit. Das muss sich ändern.

Bislang sind etwa 140 Gene bekannt, die, wenn sie mutiert sind, Zellen entarten lassen. Sie könnten Zielscheibe für weitere Medikamente sein. Doch welche Kombination von Gen-Defekten hat im Einzelfall normale Zellen in Tumorzellen verwandelt? Wie beeinflusst das persönliche Spektrum der genetischen Veränderungen, ob ein Medikament wirkt? Das muss noch erforscht werden.

Schwierig ist der Umgang mit den großen Datenmengen, die Gen-Analysen mit sich bringen. „Um sein persönliches Genom zu speichern, bräuchte man 100 Smartphones mit einem Speicher von je 32 Gigabyte”, rechnet Roland Eils vor. Der Bioinformatiker wacht am DKFZ über 1000 Tumor-Genome, deren Daten auf den Rechnern der Abteilung für theoretische Bioinformatik liegen. Speicherplatz hätte er für 4000 Genome. „Das würde nicht reichen, um den 10 000 neuen Krebspatienten, die jährlich zum NCT kommen, eine Analyse anbieten zu können”. Der Datenspeicher muss also noch massiv ausgebaut werden.

Ein weiteres Problem ist die Rechenzeit für die Genom-Analyse – Zeit, die Krebspatienten nicht haben. Milliarden Erbgutschnipsel müssen mindestens 30 Mal abgelesen werden, damit sich keine Fehler einschleichen, und anschließend in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt werden. Dann muss bei jedem Patienten das Erbgut seiner Tumorzellen mit dem seiner normalen Zellen verglichen werden. Anschließend beginnt die Suche nach der Nadel im Heuhaufen: In den bis zu 100 000 tumorspezifischen Mutationen müssen jene 5 bis 8 Veränderungen gefunden werden, die den Krebs ausgelöst haben und die Zellen unkontrolliert wuchern lassen.

Moralischer Sprengstoff

Die vollständige Erbgut-Analyse birgt auch ethische und rechtliche Probleme. Sollen Ärzte es einem Krebspatienten mitteilen, wenn sie im Erbgut seiner gesunden Zellen zufällig Anlagen für Erbkrankheiten wie Chorea Huntington finden oder ein erhöhtes Risiko für andere Krankheiten feststellen? „Wir klären unsere Patienten über diese Analyse auf und fragen sie vorher ausdrücklich, ob sie therapierbare Zusatzbefunde erfahren wollen” , sagt von Kalle.

Mit der Entschlüsselung des individuellen Tumor-Erbguts in der Klinik hat eine weitere Etappe im Kampf gegen Krebs begonnen. Sollte der von dem ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon für 1996 vorausgesagte Sieg über den Krebs irgendwann tatsächlich möglich sein? Christof von Kalle ist optimistisch: „Wir sind längst noch nicht so weit, alles zu verstehen. Aber das, was wir verstehen, kann schon vielen Patienten helfen.” •

Als bdw-Autorin HELMINE BRAITMAIER neun Jahre alt war, starb ihre Großmutter an Krebs. Heute hätten ihr die Ärzte vielleicht helfen können.

von Helmine Braitmaier

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