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Der Stoff der Superlative

Astronomie|Physik Technik|Digitales

Der Stoff der Superlative
Vor zehn Jahren gelang es erstmals, zweidimensionale Kristalle aus Kohlenstoff herzustellen: Graphen. Seitdem verblüfft das Material die Forscher mit einer Fülle erstaunlicher Eigenschaften.

Zum Schluss unseres Gesprächs gerät der nüchterne Wissenschaftler ins Schwärmen. „Wenn die Karosserie eines Autos mit Graphen beschichtet wäre, könnte man den Lack nicht einmal mit einem spitzen Diamantsplitter beschädigen“, sagt Rolf Mülhaupt, Leiter des Materialforschungszentrums (FMF) der Universität Freiburg. Das extrem harte Material, das Mülhaupt zum Träumen bringt, besteht aus einer einzigen Lage Kohlenstoff-Atome, die wie Bienenwaben in regelmäßigen Sechsecken angeordnet sind. Physiker sprechen von einem zweidimensionalen Kristall – dem ersten und bislang einzigen, der ihnen für Experimente zur Verfügung steht.

Manche halten Graphen für ein wahres „Wundermaterial“. Doch der Freiburger Forscher hat wie viele seiner Kollegen vor nichts mehr Angst, als dass die Erwartungen zu hoch geschraubt werden – und Graphen am Ende ebenso wenig technischen Nutzen bringen könnte wie die einst hochgelobten Kohlenstoff-Nanoröhrchen und die fußballförmigen Buckminster-Fullerene, die „Bucky Balls“. Auch diese ebenfalls aus Kohlenstoff bestehenden Materialien galten einmal als Wundermaterialien (siehe Beitrag „Diamant & Co: wenig wundervoll“, ab S. 98).

Tesafilm für den Superhelden

Doch die Wissenschaftswelt ist fasziniert vom Graphen. Der Stuttgarter Physiknobelpreisträger Klaus von Klitzing etwa freut sich immer noch wie ein kleiner Junge, wenn er den Stoff mit derselben simplen Methode herstellt, die schon Konstantin Novoselov und Andre Geim nutzten (siehe Kasten „Wie das Graphen in die Welt kam“, S. 88). Die beiden aus Russland stammenden Physiker waren die Ersten, die vor zehn Jahren Graphen in nennenswerter Menge erzeugt haben – mit einem Klebestreifen und einem Block aus Graphit. Damit lassen sich eine bis wenige Schichten von Kohlenstoff gewinnen, die sogar mit dem Auge sichtbar sind. „Das ist tatsächlich Graphen“, staunt von Klitzing, Direktor des Stuttgarter Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung. Die Forschung an Graphen ist an seinem Institut derzeit ein Schwerpunkt.

„Graphen“, heißt es in einem Beitrag der Max-Planck-Gesellschaft, „ist eher eine Materialplattform als ein Material, eine Spielwiese für Forscher, ein wandlungsfähiger Superheld unter den Materialien, der je nach Erscheinungsform unterschiedliche Kräfte entwickelt.“ „Es ist so eine wunderbare Physik“, sagt Klitzings Institutskollege Jurgen Smet, der die Forschungsgruppe Festkörper-Nanophysik leitet. Wenn Wissenschaftler so außer sich geraten, muss es um etwas wirklich Einzigartiges gehen.

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Und das regt die Fantasie an. Die kurioseste Art, um Graphen zu erzeugen, haben Forscher der Universität des Saarlandes in Saarbrücken getestet. Sie drückten verschwitzte Fingerkuppen auf eine Folie, als ginge es um eine erkennungsdienstliche Behandlung auf der Polizeiwache. Dann wanderte die so präparierte Folie in einen Vakuumofen, in dem die Flüssigkeit bei rund 700 Grad Celsius verdampfte. Übrig blieb eine Schicht Graphen in Form eines Fingerabdrucks. Damit hatten Hermann Sachdev, Privatdozent für Anorganische Chemie, und sein Team bewiesen, dass Graphen sich aus menschlichem Schweiß herstellen lässt, weil darin Kohlenstoff-Verbindungen stecken.

„Es funktioniert mit allen Flüssigkeiten, die dieses Element enthalten“, sagt Sachdev – was nahe legt, dass über kurz oder lang Verfahren entwickelt werden, mit denen sich Graphen sehr kostengünstig herstellen lässt. Heute ist der Stoff fast unbezahlbar. Der Preis für ein Kilogramm von defektfreiem, einlagigem Graphen würde wohl bei weit über 1000 Euro liegen, schätzt Mülhaupt – wenn es denn überhaupt so viel davon gäbe. Denn bisher haben sämtliche Forschergruppen in der ganzen Welt zusammen bei Weitem noch nicht so viel Graphen produziert.

Bis die beiden Pioniere aus Russland vor zehn Jahren die eigenartige Substanz zum ersten Mal herstellten, galt Kohlenstoff in zweidimensionaler Form als instabil. Doch Novoselov und Geim, die an der britischen Universität Manchester forschen, bewiesen das Gegenteil. Sie entdeckten zudem einige der bemerkenswerten Eigenschaften des Materials, die Forscheraugen noch heute strahlen lassen: Es leitet Wärme und elektrischen Strom extrem gut, ist durchsichtig, sehr widerstandsfähig und kann enorme Zugkräfte aushalten, ohne zu reißen. Auf der Basis von Graphen könnten sich beispielsweise elektrisch leitende Kunststoffe, hoch effektives Wärmedämmmaterial und abriebfeste Autoreifen herstellen lassen.

Ein Lift in den Weltraum

„Ein Quadratkilometer Graphen wiegt nur einige Hundert Gramm“, sagt der Freiburger Chemiker Mülhaupt. Die Festigkeit des einzigartigen Materials ist, obwohl es weniger als einen halben Nanometer dünn und deshalb durchsichtig ist, der aller anderen bekannten Werkstoffe über- legen. „Selbst eine darüber trampelnde Elefantenherde könnte der Kohlenstoffhaut nichts anhaben“, sagt der Materialforscher. US-amerikanische Wissenschaftler der Columbia-Universität in New York haben ausgerechnet, dass ein Seil aus Graphen, das von einem geostationären Satelliten in 36 000 Kilometer Höhe bis zur Erdoberfläche reicht, fest genug wäre, um tonnenschwere Lasten in den Erdorbit zu ziehen. Damit ließe sich womöglich die Idee eines Lifts in den Weltraum realisieren, der teure Raketenstarts überflüssig machen würde.

Doch bisher kann man nur kleinflächige Folien aus Graphen fertigen, etwa durch ein Verfahren namens Chemical Vapor Deposition (CVP, chemische Gasphasenabscheidung). Unter Vakuum wird dazu eine Kohlenstoff-Verbindung atomar fein zerstäubt. Die Atome landen auf einer Folie und bilden dort, wenn die Experimentatoren es richtig machen, eine bienenwabenförmige Struktur aus Kohlenstoff. Das koreanische Unternehmen Samsung bevorzugt als Unterlage Kupfer, denn das wirkt wie ein Wegweiser für die Graphen-Bildung.

Auch die Klebeband-Methode, wie sie Klaus von Klitzing gerne demonstriert, lässt sich für die Herstellung nutzen. Der Klebstoff und das transparente Band werden nach dem Abziehen des Graphens vom Graphit aufgelöst, sodass nur die wabenförmige Struktur übrig bleibt. Alternativ geht es auch mit Schwefelsäure, die von einem Graphitblock einzelne Graphen-Schichten gewissermaßen abschält. Die Saarbrücker Forscher um Hermann Sachdev setzen auf kohlenstoffhaltige Flüssigkeiten – zum Beispiel das Lösemittel Aceton, das unter anderem in Nagellackentferner enthalten ist. Das, so glauben sie, könnte einen Durchbruch zu niedrigen Herstellungskosten bringen. Zudem halten sie die Methode für großtechnisch anwendbar, wenn sie weiter verbessert wird. Dass sie robust ist, habe der Fingerabdrucktest bewiesen. Daher sei sie auch für eine Massenproduktion geeignet.

Es knallt ordentlich

Vielleicht gilt das auch für ein Verfahren, bei dem es ordentlich knallt. Forscher der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin und Braunschweig erzeugen Graphen per Explosion. Die Hitze von etlichen Hundert Grad Celsius sorgt zusammen mit dem Detonationsdruck dafür, dass aus Graphitoxid Kohlenstoff-Waben werden. Mit Plasma, einem Gemisch aus geladenen Ionen und Elektronen, lassen sich Graphit- Flocken herstellen, die aus mehreren Atomlagen bestehen und daher streng genommen eigentlich kein Graphen sind. „Sie sind als Schmiermittel interessant“, sagt BAM-Forscher Asmus Meyer-Plath, Leiter der Arbeitsgruppe. Die Flocken schützen einen Motor besser als jedes Öl.

Sichtbar wird Graphen erst unter einem Rasterkraftmikroskop. Eine extrem feine Spitze, die an einem beweglichen Federelement befestigt ist, tastet die Oberfläche des Materials ab. Sie hüpft gewissermaßen über die einzelnen Atome hinweg, die sich darauf befinden. Diese Bewegung wird optisch zig tausendfach verstärkt und per Computer zu einem Bild zusammengefügt.

Weil Graphen durchsichtig ist und elektrischen Strom leitet, könnte es transparentes Indium-Zinn-Oxid (ITO, benannt nach dem englischen Indium Tin Oxide) ersetzen, das für Elektroden in Flüssigkristall-Bildschirmen, organischen Leuchtdioden und Touchscreens genutzt wird. Die chemische Verbindung ist teuer, weil Indium selten ist. Der Rohstoff für Graphen ist dagegen unbegrenzt verfügbar.

Eine Milliarde Euro für die Forschung

Die phänomenalen Aussichten haben auch die Europäische Union auf den Plan gerufen. Sie wählte die Erforschung des Materials zu einem der beiden ersten „Flagship“-Projekte, die mit jeweils einer Milliarde Euro über zehn Jahre gefördert wird. Rund 140 Organisationen in 23 europäischen Ländern sind daran beteiligt. Um die Effektivität der Forschung zu steigern, haben sich vier deutsche Institute zur FUNGraphen-Arbeitsgruppe zusammengeschlossen. FUNGraphen bedeutet so viel wie funktionalisiertes Graphen – also ein Material, das so aufbereitet ist, dass es sich technisch nutzen lässt. Außer dem FMF in Freiburg sind das ebenfalls in der Schwarzwaldmetropole angesiedelte Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM, der Lehrstuhl für Polymere Werkstoffe an der Universität Bayreuth und die Materialexperten der BAM an der Arbeitsgruppe beteiligt.

Eine der verblüffendsten Eigenschaften von Graphen tritt zutage, wenn man Kunststoff mit geringen Mengen davon versetzt. Er wird dann, wie BAM-Forscher herausgefunden haben, schwer entflammbar. Sie glauben, dass die Kohlenstoff-Waben umweltunverträgliche halogenierte Flammschutzmittel ablösen könnten. Vor allem Bauteile aus Kunststoff, die in sensiblen Bereichen wie Flugzeugkabinen oder öffentlichen Verkehrsmitteln eingesetzt werden, dürfen nicht leicht brennen.

Auch die Freiburger FMF-Forscher engagieren sich in der Kunststoff-Veredlung. Sie haben Graphen- und Kunststoff-Moleküle miteinander verknüpft. Das Resultat: Plötzlich leitet das Material, das sonst ein Isolator ist, elektrischen Strom. Es hält deutlich höhere Temperaturen aus als üblich, hat eine größere Festigkeit und verträgt sich mit menschlichem Gewebe, das auf viele andere Fremdstoffe mit Entzündungen reagiert. Kurzum: Es ein idealer Baustoff für medizinische Implantate.

Doch nicht nur im menschlichen Körper, sondern auch in Wohn- und Geschäftsgebäuden könnte Graphen Einzug halten. Denn einem Team um den Bayreuther Materialforscher Volker Altstädt gelang es, die Porengröße von Dämmstoffen durch Zugabe von Graphen zu verkleinern. Dadurch verringert sich der Wärmetransport. Als Dämmmaterial eingesetzt hält Graphen die Wärme im Winter drinnen und im Sommer draußen. Außerdem reflektieren die Kristalle die Wärmestrahlung, die von der Heizung ausgeht, was sie noch wirkungsvoller macht.

Die größten Veränderungen ließen sich durch Graphen jedoch in der Mikroelektronik bewirken. Einen Vorgeschmack gaben Forscher des US-Konzerns IBM. Sie bauten aus Graphen ein Funkmodul und übertrugen so per Funk die drei Buchstaben des Firmennamens. Allerdings war der Sender noch kein lupenreines Graphen-Bauteil, sondern eine Kombination mit einem herkömmlichen Siliziumchip. Insgesamt beanspruchte er eine Fläche von etwa einem halben Quadratmillimeter. Die Übertragungsrate lag bei bescheidenen 20 Megabit pro Sekunde – was aber nicht am Graphen lag, sondern am Teststand. Ziel der IBM-Forscher ist es, ein „extrem preisgünstiges, ultrakompaktes Kommunikationssystem“ zu entwickeln. In späteren Versuchen erreichten sie bereits deutlich höhere Geschwindigkeiten im zweistelligen Gigabit-Bereich.

So hohe Verarbeitungsgeschwindigkeiten sind möglich, weil die Elektronen extrem flott durch das Graphen flitzen können – so schnell, wie durch kein anderes Material. In reiner Form leitet Graphen Strom besser als ein Kupferkabel. Zum Halbleiter wird der Stoff erst durch gezielte Manipulation. So hat ein internationales Team, zu dem Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität sowie des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam gehörten, je drei der sechs Kohlenstoff-Atome eines Graphen-Sechsecks gegen Stickstoff-Atome ausgetauscht. Dadurch entstand „triazinbasiertes graphitisches Kohlenstoffnitrid“ – eine Substanz mit Halbleiter-Eigenschaften. Max-Planck-Forscher aus Mainz haben eine andere Lösung gefunden. Sie benutzen wenige Nanometer schmale Streifen aus Graphen, die allein wegen ihrer Form Halbleiter-Merkmale aufweisen. Die Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Polymerforschung bauen diese „Bandnudeln“ Sechseck für Sechseck auf: ein mühsames und zeitraubendes Verfahren. Doch die Forscher hoffen, es beschleunigen zu können, indem sie die Graphen-Streifen aus einer Lösung abscheiden.

Solarzellen mit Rekordwirkungsgrad

Aus ihnen ließen sich nicht nur Transistoren herstellen, sondern auch Solarzellen. Eine der vielen erstaunlichen Eigenschaften des zweidimensionalen Ausnahmematerials ist seine Fähigkeit, Licht zu absorbieren. Im Gegensatz zu anderen Werkstoffen, die für die Herstellung von Solarzellen genutzt werden, sammeln „Graphen-Nudeln“ ein sehr breites Spektrum des Sonnenlichts ein, wodurch höhere Wirkungsgrade zu erwarten sind. Forscher des Instituto de Ciencias Fotónicas (IFCO) an der Technischen Universität Barcelona halten 60 Prozent Effizienz für möglich – mehr als das Doppelte des Wirkungsgrads der derzeit besten Silizium-Solarzellen. In Experimenten haben sie herausgefunden, dass jedes Lichtquant in Graphen mehrere Elektronen mobilisiert. Bei Silizium ist es nur eines pro Photon. Bei einem Test erreichten die Spanier bereits einen Wirkungsgrad von 50 Prozent. IFCO-Forscher Frank Koppens glaubt, dass sich der Prozess auch umkehren lässt, um leistungsfähigere Restlichtverstärker herzustellen, die sich etwa in Nachtsichtgeräten einsetzen ließen.

Am chinesischen Nationalen Zentrum für Nanowissenschaften und -technologien in Peking produziert der Chemiker Linjie Zhi Graphen fast am Fließband: Er pinselt eine Kohlenstoff-Verbindung auf eine Kunststofffolie. Die darin befindlichen Sauerstoff-Atome saugt er mit Wasserstoff gewissermaßen heraus. Übrig bleibt ein relativ breites Gebilde aus Graphen.

Manipuliert für Superbatterien

Das Experimentieren mit Graphen hat Zhi am Mainzer Max-Planck-Institut gelernt. Seit seiner Rückkehr nach China arbeitet er eng mit seinen einstigen Kollegen zusammen und liefert ihnen auch Proben für Experimente. Beiden Teams geht es darum, einzelne Atome aus den Sechseckstrukturen zu stoßen und durch andere zu ersetzen – etwa durch Stickstoff, Sauerstoff oder eine sogenannte Hydroxyl-Gruppe: ein Molekül aus je einem Wasserstoff- und Sauerstoff-Atom. Aus übereinander geschichteten und gegeneinander isolierten Schichten von manipuliertem Graphen werden sich, so die Hoffnung des deutsch-chinesischen Teams, Batterien für Elektroautos bauen lassen, die in wenigen Minuten aufgeladen werden können. Heute dauert das Laden leerer Akkus bis zu zehn Stunden.

Auch als Anode in Lithium-Ionen-Batterien könnte Graphen künftig Dienst tun. Heute bestehen die Akkus meist aus Graphit, also aus Myriaden übereinandergestapelter Graphen-Schichten. Doch Graphen-Türmchen nach deutsch-chinesischem Rezept lassen Elektronen weitaus schneller hindurch brausen als ein Graphitklotz. Entsprechend flott geht das Laden und Entladen. Allerdings: Noch ist das Verfahren im Laborstadium und weit entfernt von der Praxisreife.

Forscher am Lawrence Berkeley National Laboratory in Kalifornien setzen dagegen auf Schwefel-Lithium-Batterien. Die haben zwar eine unschlagbar hohe Speicherkapazität, aber ihr Material ist so spröde, dass es schon bei leichten Stößen zerbricht, also für den Einsatz im Auto ungeeignet ist. Zudem neigt der Schwefel dazu, in den Elektrolyt auszubüxen, der die Elektroden trennt. Das verhindern die Kalifornier, indem sie die Schwefelelektrode mit einem Graphen-Netz überziehen. Das ist so dünn, dass es die Funktion des Schwefels nicht stört, doch kräftig genug, um die Wanderlust der Schwefel-Atome zu hemmen. Und es umschließt die Elektrode wie ein Korsett, sodass sie nicht bricht. Prototypen der Super-Akkus gibt es bereits.

Ähnlich weit ist die Entwicklung von Superkondensatoren aus Graphen. Sie schlagen die Brücke zwischen konventionellen Kondensatoren und aufladbaren Batterien. Superkondensatoren können nur etwa ein Zehntel der Energie pro Volumen speichern wie Batterien, die Energie dafür 10 bis 100 Mal so schnell abgeben oder aufnehmen. Sie überstehen auch deutlich mehr Lade- und Entladezyklen. Jurgen Smet vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung hat solche Superkondensatoren in seinem Stuttgarter Labor gebaut, indem er Graphen mit einer Flüssigkeit bestrich, die positiv geladene Lithium-Ionen enthielt. Beim Anlegen einer Spannung wanderten Elektronen aus den metallischen Kontakten des Kondensators in das Material ein. „Der Abstand zwischen den Ionen und den Elektronen im Graphen beträgt nur einen Nanometer“, betont Smet. Wegen dieser extrem kurzen Distanz kann die Anordnung enorm viel Ladung speichern, wenn man viele solcher Nanokondensatoren parallel schaltet.

Empfindlich wie eine Mimose

„Graphen vereint eine ungewöhnliche Zahl von Superlativen“, sagt Max-Planck-Wissenschaftler Smet. Es lässt sich in der Mikroelektronik wie Rostschutzfarbe nutzen – zum Schutz von Eisen-Siliciden, die in speziellen Transistoren als Kontakte eingesetzt werden, weil sie traumhaft gute elektrische Leiter sind. Doch sie sind empfindlich wie eine Mimose. Wenn das eisenhaltige Material mit Sauerstoff in Berührung kommt, beginnt es rasch zu rosten. Physiker der Universität Wien überziehen die Kontakte deshalb mit Graphen, das die Leitfähigkeit nicht beeinträchtigt.

Die transparenten Kohlenstoff-Matten, deren Aussehen an Kaninchendraht und an Netze von Fußballtoren erinnert, sollen auch Bestandteil der organischen Elektronik werden, etwa von organischen Leuchtdioden. Um das zu realisieren, kooperieren Forscher des Ludwigshafener Chemieriesen BASF mit dem Graphen-Forschungszentrum der Staatlichen Universität Singapur. Ziel ist es, die Leuchtmittel aus Kunststoff, die weniger Strom verbrauchen als herkömmliche Leuchtdioden, durch die Kombination mit Graphen noch effektiver zu machen. Auch mit dem Mainzer Max-Planck-Institut für Polymerforschung arbeitet der Chemiekonzern zusammen. 2012 wurde in Mainz ein gemeinsames Forschungslabor für Graphen eröffnet – ein Beleg für das große Interesse, das die Industrie an dem außergewöhnlichen Stoff hat.

Mehr Effizienz ist auch das Ziel bei Wandlern, die optische Signale aus Lichtwellenleitern in computerlesbare Bits übersetzen und umgekehrt. Die sogenannten Photosensoren arbeiten recht gemächlich. Würden sie auf der Basis von Graphen gebaut, wären sie um ein Vielfaches schneller, haben Forscher der Technischen Universität Wien herausgefunden. Sie kombinierten einen Siliziumchip mit einem Photosensor auf Graphen-Basis, der winzig klein ist. 20 000 Stück davon passen auf eine daumennagelgroße Fläche. Spezialsensoren etwa aus Germanium sind ähnlich schnell, wandeln aber nur ein begrenztes Lichtspektrum um. Graphen dagegen schafft die ganze Palette.

An pfiffigen Ideen und forschen Ansätzen, den neuen Superstoff technisch nutzbar zu machen, mangelt es also nicht. Dennoch wird Graphen nicht über Nacht die Welt revolutionieren. Bei vielen Anwendungen wird es noch etliche Jahre dauern, bis sie das Labor verlassen können, andere könnten sich schließlich als untauglich erweisen. Eines aber steht fest: Die Physik ist durch das Graphen um ein ergiebiges Experimentierfeld und einen wunderbaren Stoff reicher geworden. •

WOLFGANG KEMPKENS, bdw-Autor für Technologiethemen, hofft auf Verbesserungen durch Graphen: Autoreifen, die länger halten, und eine bessere Dämmung für sein Haus. Der Stuttgarter Fotograf WOLFRAM SCHEIBLE erlag der Einfachheit des Graphen. Um sie abzubilden, legten sich die Forscher für ihn ins nasse Gras.

Text von Wolfgang Kempkens Fotos von Wolfram Scheible

Eigenschaften von Graphen

Dicke

knapp 0,3 Nanometer

Dichte

Das dichte Gitter lässt selbst das kleinste Gasatom, Helium, nicht passieren. Dabei wiegt ein Quadratmeter Graphen nur 0,77 Milligramm.

Zugfestigkeit

100 Mal so fest wie eine vergleichbar dünne Lage des stärksten Stahls. Ein Quadratmeter Graphen könnte 4 Kilogramm tragen.

Transparenz

Das fast durchsichtige Graphen absorbiert weniger als 3 Prozent des einfallenden Lichts – unabhängig von dessen Farbe.

Elektrische Leitfähigkeit

Modifiziertes Graphen leitet elektrischen Strom bis zu 1,6 Mal so gut wie vergleichbar dünnes Kupfer.

Wärmeleitfähigkeit

Graphen leitet Wärme etwa 10 Mal so gut wie eine ähnlich dünne Kupferfolie.

Und das Beste an Graphen: Die Eigenschaften des Werkstoffs lassen sich leicht verändern und den Anforderungen ganz verschiedener Anwendungen anpassen.

Kompakt

· Graphen ist der einzige bislang bekannte echte zweidimensionale Kristall.

· Sein breites Spektrum an ungewöhnlichen Eigen- schaften weckt die Hoffnung auf vielfältige technische Anwendungen. Sie sind aber allesamt noch Zukunftsmusik.

· Dem Weg in die Anwendung stehen Schwierigkeiten entgegen, kristallines Graphen in großer Menge zu gewinnen.

Wie das Graphen in die Welt kam

Auf diese Nachricht hatten die Physiker nicht gewartet: Vor zehn Jahren, am 22. Oktober 2004, verkündeten Konstantin Novoselov und Andre Geim im Fachblatt Science, sie hätten erstmals Graphen hergestellt und vermessen. Damit unterliefen sie alle Erwartungen – waren die Physiker doch bis dahin überzeugt, dass die zweidimensionale Struktur nicht stabil sei. Einer Theorie zufolge sollte sie „Falten“ werfen und sich selbst zerstören. Viele erfolglose Versuche zur Herstellung eines solchen Stoffs schienen die Theorie zu bestätigen.

Tatsächlich entpuppte sich der vermeintlich labile Stoff als eines der stabilsten Materialien der Welt. Und die Verblüffung war komplett über die Leichtigkeit, mit der die beiden Forscher an der Universität Manchester vorgingen: Die Anleitung schien eher aus einem Experimentierkasten zu stammen als aus einem Spitzenlabor.

Die Herstellung von Graphen war nicht das erste unorthodoxe Experiment der beiden Physiker: Jahre zuvor hatte Geim einen Frosch in einem Magnetfeld zum Schweben gebracht und dafür den Ig-Nobelpreis bekommen, eine satirischen Auszeichnung. Diesmal brauchten die Forscher nur einen simplen Alltagsgegenstand – Tesafilm. Sie klebten einen Streifen auf ein Stück hochreines Graphit und zogen ihn ab: An ihm war eine dünne Schicht haften geblieben. Diese Methode hatten Forscher schon vorher genutzt, um Graphitblöcke zu säubern, die Klebestreifen aber achtlos weggeworfen. Erst Novoselov und Geim erkannten das Potenzial: Löst man mittels Tesafilm weitere Lagen von der Schicht ab, lässt sie sich immer weiter ausdünnen, bis nur noch eine Lage übrig bleibt. Die Physiker klebten Tesafilm nach Tesafilm auf und zogen ihn wieder ab, bis kaum noch wahrnehmbare Flocken von Graphit haften blieben.

Doch wie sollten sie das transparente Graphen finden und nachweisen – wenn es denn überhaupt existierte? Hierzu hafteten sie das Klebeband auf eine Siliziumplatte und übertrugen so die Flocken darauf. Wie eine Blu-ray Disc reflektierte die Platte Licht in violetter Farbe. Die kaum wahrnehmbaren Graphit-Flocken verrieten sich, indem sie das reflektierte Licht minimal von violett zu blau veränderten. Nun konnten die beiden Forscher die Flocken anpeilen und untersuchen. An ihrem Rand entdeckten sie die denkbar dünnste Schicht von Graphit: Graphen.

2010 erhielten Novoselov und Geim den Nobelpreis für Physik – und das Komitee rühmte die „Verspieltheit“ ihrer Experimente, mit der sie sich in „die Annalen der Wissenschaft“ geschrieben hätten.

Mit einer Klebefolie wird Graphit gespalten – Start der Graphen-Herstellung.

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