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Grips im Zahn

Technik|Digitales

Grips im Zahn
Sie helfen Parkinson-Patienten, sitzen im Smartphone und überwachen Stromtrassen – „Smart Systems” erobern den Alltag.

Ein Medikamentenspender in der Zahnprothese? Das ist keine Spielerei. „Damit kann der Patient den Wirkstoff kontrolliert und kontinuierlich über die Mundschleimhaut aufnehmen”, erklärt Simon Herrlich, Wissenschaftler am Institut für Mikro- und Informationstechnik der Hahn-Schickard-Gesellschaft (HSG-IMIT) in Villingen-Schwenningen.

Hilfreich ist das zum Beispiel bei der Nervenkrankheit Parkinson. Den Patienten mangelt es an dem Botenstoff Dopamin, der hilft, Bewegungen willkürlich und unwillkürlich zu kontrollieren. Zur Therapie bekommen sie eine Vorstufe des Dopamins in Tablettenform verordnet. Wichtig ist, dass sie das Medikament exakt dosiert und stets zum richtigen Zeitpunkt schlucken, um ihren Körper in Balance zu halten. Denn zu viel Dopamin führt zu einem Übersteuern der Muskeln, zu wenig dagegen zu schlechter Beweglichkeit. „Bei fortgeschrittener Krankheit muss ein Parkinson-Patient bis zu acht Tabletten täglich einnehmen – und den Zeitpunkt dafür auf zehn Minuten genau einhalten”, nennt Herrlich das Problem. Hier hilft der neue Medikamentenspender des HSG-IMIT, der das Ergebnis eines israelisch-europäischen Entwicklungsprojekts mit neun beteiligten Partnern ist.

Der Speichel machts

Das „Buccal Dose” genannte System enthält viel Hightech auf kleinem Raum: Die wenige Millimeter große Kartusche gibt den Wirkstoff ab, der über die Mundschleimhaut in den Körper gelangt. Buccal Dose arbeitet energieautark. Die für das Pumpen notwendige Energie bezieht das System aus einer Osmose: Der Speichel löst ein Salz in einer winzigen Kammer der Kartusche auf. Während er durch eine teildurchlässige Membran in die Kammer eindringen kann, bleibt die Salzlösung darin gefangen. Die Kammer dehnt sich daher in Richtung einer benachbarten Kammer aus, in der sich der Wirkstoff befindet. Diese wird zusammengedrückt und gibt dabei den Wirkstoff ab.

Das alles muss wohldosiert geschehen, trotz des Wechsels von Temperatur und pH-Wert im Mundraum. Eine Basisstation, die sich irgendwo im Haus befindet, liest dazu ein in Buccal Dose integriertes Funketikett und den Füllstand der Kartusche ab, wodurch sich Daten wie die Abgaberate und das Ablaufdatum des Wirkstoffs ermitteln lassen. „Diese Daten werden via Smartphone an den Arzt übermittelt, sodass er bei Bedarf die Wirkstoff-Abgabe verändern kann”, erklärt Herrlich. Die Entwicklungsphase des Systems ist inzwischen abgeschlossen. Bald soll daraus ein Produkt werden.

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Der winzige Spender ist ein „Smart System”. Dieser Begriff hat sich in den letzten Jahren für unterschiedliche intelligente Technologien durchgesetzt. Smart Systems arbeiten möglichst unabhängig. Ihre Zutaten können Sensoren, Aktoren, Prozessoren, Algorithmen, ein Kommunikationsmodul und eine Einheit für die Energieversorgung sein – alles klein und kompakt.

Lichtstrom statt Batterie

Mit den Sensoren erfassen die Systeme ihre Umgebung, mit den Aktoren lösen sie Bewegungen aus. Prozessoren und Algorithmen sorgen dafür, dass das System richtig auf die Ergebnisse der Messungen reagiert. Per Kommunikationsmodul bezieht das System zusätzliche Daten aus anderen Quellen oder sendet seine Erkenntnisse an einen Empfänger. Dank der eigenen Energieversorgung funktioniert es oft unabhängig von Netzstrom oder Batterien. Dazu werden etwa Licht, Wärme, stoffliche Konzentrationsunterschiede oder Vibrationen in der Umgebung in elektrischen Strom verwandelt.

Die Smart Systems sind unterschiedlich komplex. „Die einfachsten Systeme sind in ihre Umgebung eingebettet, tauschen mit ihr also Informationen aus und verfügen über Sensoren, die Daten selbst verarbeiten können”, erklärt Holger Reinecke, Lehrstuhlinhaber für Prozesstechnologie an der Universität Freiburg und Leiter des Instituts für Mikrosystemtechnik (IMTEK) sowie des HSG-IMIT.

Das intelligente Zahnimplantat Buccal Dose ist ein Beispiel dafür, andere sind Airbags und das Antischleuderprogramm ESP im Auto. „Die zweite Generation der Smart Systems arbeitet vorausschauend und kann selbstständig reagieren, ist energieautark oder braucht zumindest nur wenig Energie”, erklärt Reinecke. Beispiele für Smart Systems der zweiten Generation sind Cochlea-Implantate für schwerhörige Menschen und Netzwerke von Umweltsensoren. Systeme der dritten Generation „stehen für sich allein, sind wartungsfrei und ständig verfügbar. Sie identifizieren sich selbst in Netzwerken und treten mit anderen Smart Systems in Verbindung. Solche Systeme sind noch Zukunftsmusik.

Das Smartphone siedelt Reinecke „irgendwo zwischen der ersten und zweiten Generation” an: Es aktualisiert sich selbst und liefert dem Nutzer Informationen, die auf seinen Aufenthaltsort zugeschnitten sind. Dafür nutzen moderne Mobiltelefone sowohl Sensoren wie Mikrofone und Kamera als auch Daten, die sie selbstständig aus dem Internet ziehen. Smarte Systeme der ersten Generation umgeben uns bereits, bei der zweiten und dritten Generation handelt es sich meist noch um Prototypen oder Labormuster. Treibende Kraft für die Entwicklung von Smart Systems ist die Mikrosystemtechnik. Seit sich immer mehr Funktionen auf einzelne Chips packen lassen, die in großen Mengen hergestellt werden, sprechen die Forscher und Ingenieure von intelligenten Systemen.

Was da im Kleinen möglich ist, verdeutlicht Holger Reinecke an einem Projekt, das er derzeit am IMTEK verfolgt: „In der Lebensmittellogistik oder bei der Herstellung von Medikamenten wäre es von Vorteil, wenn sich lückenlos und automatisch überwachen ließe, ob Waren oder Wirkstoffe immer bei geeigneten Umgebungsbedingungen gelagert wurden”. Dadurch ließen sich Frische und Qualität sicherstellen. Das ist mit der heute verfügbaren Technik nicht so einfach möglich.

Funkchip an der Wurst

Reinecke arbeitet mit seinem Team an einem energieautarken Funkchip, der – angeheftet etwa an verpackte Wurst oder Früchte – permanent Temperatur und Luftfeuchtigkeit erfasst. Auf dem Chip befindet sich eine Miniatur-Brennstoffzelle, die aus dem Sauerstoff der Luft und gespeichertem Wasserstoff Wasser erzeugt. Dabei wird Energie freigesetzt, die ausreicht, um Sensoren und Rechenlogik des Chips zu betreiben. Und: Die Brennstoffzelle ist beliebig oft wieder aufladbar. Das geht quasi nebenbei: Liest man den Chip per Funk aus, zieht er Energie aus den elektromagnetischen Wellen und spaltet damit das Wasser wieder in seine Ausgangsstoffe. Der Sauerstoff entweicht, der Wasserstoff wird erneut gespeichert. Das System namens „Minergy” kümmert sich also selbst um seine Energieversorgung.

„Bis Ende 2014 wollen wir mehrere Tausend Chips zur Erprobung an interessierte Unternehmen liefern”, sagt Reinecke. Im Labor forscht sein Team an der Vervollkommnung dieses Smart Systems: „ Da wir beim Auslesen des Chips Energie aus den Funkwellen beziehen, arbeitet er noch nicht völlig autark”, bemängelt der Wissenschaftler. „Deshalb wollen wir eine winzige Solarzelle auf den Chip aufbringen, die die Energie für die Spaltung des Wassers aus dem Sonnenlicht holt.” Der Energiekreislauf wäre damit geschlossen.

Auch bei der Realisierung der Energiewende können Smart Systems helfen, indem sie den Stromtransport durch Hochspannungsleitungen optimieren. In der Nähe von Chemnitz erprobt der Stromnetzbetreiber Mitnetz Strom derzeit eine neue Art der Überwachung von Freileitungen. Auf einer Teststrecke sind alle 500 Meter Sensoren angebracht, die ständig die Umgebungstemperatur, den Neigungswinkel der Leitung und deren seitliche Auslenkung durch den Wind erfassen.

Die Stromversorgung der Sensoren ist autark – sie sitzen ja sozusagen an der Quelle –, und ihre Messdaten übertragen sie wie in einer Eimerkette zum Löschen eines Brandes von Sensor zu Sensor bis zu einem Leitrechner. Die Messfühler sind beim Forschungsprojekt „Astrose” gemeinsam von mehreren Forschungseinrichtungen und Industriepartnern entwickelt worden. Beteiligt ist etwa das Berliner Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM).

„Jeder Netzbetreiber muss beim Durchleiten von Strom Sicherheitsreserven einkalkulieren”, erklärt Volker Großer, der das Projekt am IZM betreut. Und ein Mindestabstand der Leitungen zum Boden oder zu Gebäuden muss jederzeit garantiert sein. Das ist nicht einfach: Wenn besonders große Strommengen transportiert werden, oder im Sommer, wenn es heiß ist, erwärmen sich die Leitungen und dehnen sich aus. Dadurch hängen sie stärker durch. Entgegengesetzt wirkt der Wind, der die Leitungen kühlt. Verläuft eine Stromtrasse durch ein Waldstück, weht der Wind dort weniger stark als auf einem vielleicht nur wenige Hundert Meter entfernten freien Feld. Genaue lokale Windprognosen sind aber schwierig zu erstellen. Hier helfen die feinfühligen Sensoren, denn sie registrieren selbst kleine Unterschiede. Ein anderes Problem sind im Winter große Schneelasten, weil sie auf die Leitungsseile drücken und an den Strommasten ziehen – auch sie verraten sich durch die Neigung der Seile.

„Ein erster Freilandversuch mit den Sensoren verlief vielversprechend”, berichtet Fraunhofer-Forscher Großer. Die Firma Mitnetz Strom konnte auf einem Abschnitt der Testtrasse ein Fünftel mehr Strom durchleiten als sonst, ohne die vorgeschriebenen Sicherheitsreserven zu unterschreiten. Mit Blick auf die stark schwankende Einspeisung von Wind- und Solarstrom in die Versorgungsnetze ist das von großem wirtschaftlichem Interesse. Inzwischen hat Mitnetz Strom einen Langzeittest gestartet, bei dem die Messfühler ihre Witterungsbeständigkeit unter Beweis stellen sollen. Da sich die bestehenden Leitungen problemlos mit den Sensoren nachrüsten ließen, hofft Volker Großer auf das Interesse weiterer Stromnetzbetreiber.

Maschinen sprechen miteinander

Smart Systems durchdringen den Alltag immer mehr. „Sie bilden die Basis für das oft beschriebene Internet der Dinge”, sagt Thomas Köhler, Senior Manager bei der VDI/VDE Innovation und Technik in Berlin, dem gemeinsamen Innovationsdienstleister der beiden großen Ingenieurverbände VDI (Verein Deutscher Ingenieure) und VDE (Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik). In dieser Vision einer voll vernetzten Welt werden nicht nur Menschen mit Menschen und Systeme mit Systemen kommunizieren, sondern auch Menschen mit Systemen und umgekehrt. Smart Systems werden so zu einem maßgeblichen Wirtschaftsfaktor.

Thomas Köhler hat auf der Zahlenbasis des Jahres 2011 abgeschätzt, was Smart Systems für Europas Wirtschaft bedeuten: Demnach sind mit ihrer Entwicklung über 800 000 Mitarbeiter in rund 8000 Unternehmen mit beschäftigt. Forschung und Entwicklung machen im Schnitt 8 Prozent des Umsatzes aus, was in der Summe 6,9 Milliarden Euro entspricht.

Unter den Unternehmen sind zahlreiche Mittelständler, hinzu kommen noch die Wissenschaftler an Forschungseinrichtungen, die ihren Schwerpunkt auf Smart Systems gelegt haben. Köhler betont: „ Europa hat heute bei Forschung und Entwicklung von Smart Systems einen ausgesprochen guten Stand.” •

Der Wissenschaftsjournalist MICHEL VOGEL berichtet in bdw regelmäßig über neue Trends der Technik.

von Michael Vogel

Schub aus Südwest

Ein Schwerpunkt bei der Erforschung und Entwicklung von Smart Systems ist der Südwesten Deutschlands. Die Region vereint über 360 Firmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen und mehr als 1200 Wissenschaftler. Sie ist damit eines der größten Technologie-Netzwerke in Europa. Der Verband Mikrosystemtechnik Baden-Württemberg e.V. mit Sitz in Freiburg koordiniert und leitet die Aktivitäten innerhalb der Allianz. Ziel von MicroTEC Südwest ist es, die international führende Stellung Baden-Württembergs im Bereich der Mikrotechnologien zu stärken – bei Ausbildung, Forschung, Produktentwicklung und Fertigung.

Mehr zum Thema

Internet

Verband Mikrosystemtechnik Baden-Württemberg: www.microtec-suedwest.de

Institut für Mikrosystemtechnik der Uni Freiburg:: www.imtek.de

Kompakt

· Smart Systems erfassen selbstständig ihre Umgebung und reagieren darauf.

· Sie können zum Beispiel die Frische von Lebensmitteln sicherstellen.

· Idealerweise sorgen sie selbst für ihre Energieversorgung, zum Beispiel durch elektrischen Strom aus Wärme oder Bewegung.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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