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Gestrandet in Sibirien – Urzeitgenom wirft neues Licht auf Menschheitsgeschichte

Geschichte|Archäologie

Gestrandet in Sibirien – Urzeitgenom wirft neues Licht auf Menschheitsgeschichte
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Der Anthropologe Svante Pääbo begutachtet den fossilen Oberschenkelknochen (Bence Viola, MPI EVA)
Ein 45.000 Jahre alter Oberschenkelknochen liefert neue Einblicke in die Geschichte des Homo sapiens in Eurasien. Denn der in Westsibirien entdeckte Knochen ist nicht nur das älteste direkt datierte Relikt eines modernen Menschen außerhalb Afrikas und des Nahen Ostens. Er gehörte zudem einem Mann, der rätselhafterweise weder zu den direkten Vorfahren der Europäer noch zu denen der Ozeanier gehört, wie Genanalysen zeigen.

Der Oberschenkelknochen wurde im Jahr 2008 am Flussufer in der Nähe des Dorfes Ust‘-Ishim in Westsibirien entdeckt. Schnell zeigte sich, dass es sich nicht um ein Relikt der Neuzeit, sondern um einen fossilen Knochen handelte. “Anhand der Form und Beschaffenheit des Knochens können wir sagen, dass es sich bei seinem Besitzer um einen frühen modernen Menschen handelte”, erklärt Bence Viola vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Radiokohlenstoff(14C)-Datierungen ergaben zudem, dass der Knochen mindestens 45.000 Jahre alt sein muss. Damit aber ist dieser urzeitliche Bewohner Sibiriens der ältesten direkt datierte Vertreter des Homo sapiens außerhalb Afrikas und des Nahen Ostens, wie die Forscher berichten. Der Mensch von Ust‘-Ishim lebte zu einer Zeit, in der unsere Vorfahren gerade erst begannen, Europa und Asien zu besiedeln.

Eine dritte Gruppe von Auswanderern?

Um herauszufinden, wie dieser frühe Mensch in diese Gegend kam und mit welchen Menschengruppen er näher verwandt war, entnahmen die Forscher Knochenproben und analysierten das darin konservierte Erbgut des Urzeit-Menschen. Dabei stellten sie fest, dass der Knochen aus Ust‘-Ishim einer männlichen Person gehörte. Seine DNA-Sequenzen verglichen die Wissenschaftler dann mit der DNA von heute lebenden Menschen aus 53 verschiedenen Populationen. Wie sich zeigte, war der Mann von Ust‘-Ishim eindeutig bereits ein Eurasier, er ist enger mit den heute auf diesem Kontinent lebenden Menschen verwandt als mit Afrikanern. Dennoch stand er offenbar noch ganz an der Wurzel der aus Afrika nach Eurasien eingewanderten Menschen, denn er teilt mit allen eurasischen Bevölkerungsgruppen etwa gleich viele Gene, wie die Forscher berichten.

Gängiger Theorie nach wanderten die ersten anatomisch modernen Menschen aus Afrika auf zwei Wegen nach Asien ein: Eine erste Gruppe zog vor mehr als 50.000 Jahren entlang der Küsten bis nach Südostasien und Ozeanien. Später folgte eine zweite Auswanderungswelle, die nach Norden zog und Europa und das asiatische Festland besiedelte. Von der geografischen Lage seines Fundorts und seinem Alter her müsste der Mann von Ust’-Ishim eigentlich zu dieser zweiten, nördlichen Gruppe gehören – doch seine Gene sprechen dagegen, wie die Forscher erklären. Seiner DNA nach ist dieser Urzeit-Mann nicht enger mit den Bewohnern Zentralasiens verwandt wie mit den Nachfahren der ersten Ozeanier. Das könnte darauf hindeuten, dass es noch mindestens eine dritte Gruppe früher Auswanderer aus Afrika gab. “Möglicherweise gehörte der Mann aus Ust’-Ishim einer Population früher Migranten in Richtung Europa und Zentralasien an, die keine Nachkommen in heute lebenden Populationen hinterlassen haben”, mutmaßt Koautor Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Späte Vermischung mit Neandertalern

Der Mann aus Ust’-Ishim lebte zu einer Zeit, als es in Eurasien noch Neandertaler gab. Von unseren Vorfahren ist bereits bekannt, dass sie sich auf ihrem Weg nach Europa auch mit diesen vermischten und gemeinsame Nachkommen zeugten. Diese “Seitensprünge” hinterließen rund 1,6 bis 1,8 Prozent Neandertaler-DNA im Erbgut der heutigen Europäer. Wie die Genanalysen ergaben, trug auch der Mann von Ust’-Ishim bereits Neandertaler-DNA in sich – mit rund 2,3 Prozent nur wenig mehr als wir heute. Deutliche Unterschiede gab es jedoch in der Länge dieser genetischen Relikte: Sie sind im Genom dieses frühen Menschen viel länger als bei heute lebenden – ein Hinweis darauf, dass diese Fragmente seit der Vermischung weniger Zeit hatten, durch Rekombination zerstückelt zu werden, wie die Wissenschaftler erklären.

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„Wir schätzen, dass sich die Vorfahren des Ust’-Ishim Mannes und die Neandertaler vor etwa 50.000 bis 60.000 Jahren miteinander kreuzten”, berichten die Forscher. Das aber wirft ein neues Licht auf diese zwischenartlichen Kreuzungen. Denn bisher nahm man an, dass diese Vermischung im Nahen Osten stattfand, bevor der moderne Mensch nach Asien und Europa weiterzog. Die Gene des Mannes von Ust’-Ishim legen aber nun nahe, dass dies erst später geschah, nachdem der Homo sapiens Eurasien bereits erreicht hatte.

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Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
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