Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Genetisch kommt nicht von Genen, sondern von Goethe

Erde|Umwelt Kommentare

Genetisch kommt nicht von Genen, sondern von Goethe
Fischer_rund.jpg
Die Fachwelt führt derzeit eine Debatte über die Frage, ob die Theorie der Evolution neu konzipiert werden muss oder alles beim Alten bleiben kann. Hatte Charles Darwin schon alles gewusst oder eben nicht – oder greift diese Debatte völlig ins Leere? Ein Kommentar von Ernst Peter Fischer

Die Evolution ist natürlich mehr als irgendeine Idee der Wissenschaft. Sie ist die Basis, auf der das Leben und seine von ihm hervorgebrachten Wesen verstanden werden. Deshalb lohnt ein Blick des gebildeten Laien auf die gelehrte Diskussion. Außerdem gibt es einen noch viel wichtigeren Grund.

Die Frage, ob die Theorie der Evolution überdacht und neu gefasst werden muss, werden bibeltreue Gegner des biologischen Gedankens gerne hören. Aber sie sollten sich nicht zu früh freuen, denn was die Fachwelt derzeit zum großen Gedanken von Charles Darwin erörtert, könnte zuletzt die Position der Wissenschaft stärken – jedenfalls meiner Überzeugung nach.

Die aktuelle Debatte über das richtige Verständnis der Artenvielfalt und ihres Werdens können in zwei kompakten Aufsätzen von Kevin Laland sowie Gregory Wray und Hopi Hoekstra nachgelesen werden (beide sind in der „Nature“ vom 9. Oktober erschienen). Laland plädiert vehement für ein Umdenken – „yes, urgently“ –, während Wray und Hoekstra meinen, „no, all is well“, alles in Ordnung. Die Befürworter eines „rethink“ der Fundamentaltheorie über die Entwicklung des Lebens vermissen im alten Rahmen des evolutionären Denkens etwas, das sie als entscheidend betrachten: Sie wollen die Prozesse, mit deren Hilfe Organismen wachsen und sich entwickeln, nicht nur als Ergebnis der Evolution, sondern als ihre Ursache verstehen. Für sie werden Lebewesen nicht einfach durch Gene programmiert. Für sie bringen Lebewesen im Laufe einer Entwicklung sich selbst und ihre Gene hervor und nehmen dabei auch Einfluss auf ihre Umgebung.

Genetisch oder nicht genetisch, das ist hier die Frage

Die Befürworter des Festhaltens an dem gewohnten Erklärungsrahmen möchten gerne bei einer genetischen (genzentrierten) Sicht der Dinge bleiben, wenn sie auch zugeben, dass es nicht-genetische Vorgänge gibt, die zur Entwicklung von Organismen beitragen.

Anzeige

An dieser Stelle darf man als Außenstehender fragen, was die diskutierenden Damen und Herren meinen, wenn sie das Attribut „genetisch“ benutzen. Nun, Sie meinen sicher etwas, das von Genen ausgelöst oder angestoßen wird. Aber das ist zu kurz gedacht. Denn „genetisch“ stammt von Goethe, der noch im 18. Jahrhundert mit diesem Wort die Eigenschaft des Lebens bezeichnete, ständig im Werden zu sein („wie Natur im Schaffen lebt“). Im konkreten Fall meinte er das Blühen von Pflanzen und das Hervorbringen von Blättern. Das Wort „Gen“ stammt aus dem 20. Jahrhundert und ist von Biologen eingeführt worden, die Goethes Texte noch gelesen hatten. Sie sahen in ihnen auch den Prozess, der dem Organismus zuletzt eine Eigenschaft verleiht, die dann als genetisch gilt. Aber dazu gehört mehr als ein Molekül. Dazu gehört das ganze Leben. „Genetisch“ handelt vom Werden allgemein, und wenn die heutigen Gentheorien auch die Möglichkeit liefern, dieses Entwickeln auf eine biochemische Basis zu stellen, so erschöpfen sie dabei nicht den ganzen Kosmos der Deutungen.

Die Debatte um das Verstehen des evolutionären – des genetischen – Gedankens zeigt, dass die Vielfalt des Lebens eine Vielfalt von Interpretationen verträgt. Sie zusammen machen das Lebendige der aktuellen Forschung aus. Darwin nannte das Auftauchen neuer Arten in der Geschichte des Planeten das Geheimnis der Geheimnisse. Er sprach nicht von einem Rätsel der Natur. Das hätten die Menschen auch längst gelöst. Von den Geheimnissen dürfen sie sich weiter staunend angezogen fühlen, denn „zum Erstaunen bin ich da“, wie der Genetiker Goethe geschrieben hat. Ein Leben lang.

 

Ernst Peter Fischer

ist Physiker, Biologe und habilitierter Wissenschaftshistoriker. Er hat mehr als 50 Bücher geschrieben – neben Biographien und Firmengeschichten über Themen, die von Atomphysik bis zu Hirnforschung reichen. „Die andere Bildung“ hat eine Auflage von mehr als 100.000 erreicht und ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. 2014 erscheint sein Buch „Die Verzauberung der Welt“. Darin beschreibt Fischer, wie und warum naturwissenschaftliche Erklärungen die Geheimnisse der Natur nicht aufheben, sondern erst vertiefen.

Vom Autor erschien zuletzt in bild der wissenschaft 4/14 “ Die wilden Sechziger„.

© wissenschaft.de – Ernst Peter Fischer
Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Mi|ni|ma|lis|mus  〈m.; –; unz.; Kunst〉 Stilrichtung, die sich auf (schmucklose) Grundformen u. elementare Bestandteile beschränkt; →a. Minimal Art … mehr

Mai|ling|lis|te  〈[m–] f. 19; IT〉 Liste mit E-Mail-Adressen registrierter Mitglieder, die dem Austausch von Informationen u. Meinungen (meist zu einem bestimmten Thema) dient [→ Mailing … mehr

Va|ri|a|ti|ons|rech|nung  〈[va–] f. 20; Math.〉 Verfahren zur Berechnung von Maximal- u. Minimalwerten einer Funktion, Teilgebiet der Analysis

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige