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Bleiben die Kinder auf dem Gehweg?

Technik|Digitales

Bleiben die Kinder auf dem Gehweg?
Verkehrsforscher Markus Maurer ist davon überzeugt, dass sich das autonome Fahren auf den Straßen etablieren wird.

bild der wissenschaft: Herr Maurer, für uns ist Autofahren selbstverständlich. Doch Maschinen tun sich schwer damit. Warum sind wir so viel besser als der Computer?

Markus Maurer: Der Mensch ist keineswegs in allem besser. Eine Maschine ermüdet nicht, und ihre Leistung ist auch nicht von der Tagesform abhängig. Radarsensoren können die Geschwindigkeit bewegter Objekte viel besser messen als der Mensch, und maschinelle Sensoren liefern bis zu 360 Grad Rundumsicht. Entscheidend ist, dass der Mensch auf unvorhergesehene Situationen flexibel reagieren kann. Einem Computer hingegen müssen wir alle erdenklichen Fahrsituationen und Eventualitäten einprogrammieren. Das ist fast unmöglich – Informatiker sprechen in einem solchen Fall von einer offenen Menge von Ereignissen.

Man sollte meinen, dass die Zahl möglicher Fahrsituationen begrenzt ist.

Nicht wirklich. Es gibt Tausende von Unwägbarkeiten – etwa plötzliches Glatteis oder ein quer stehendes Fahrzeug. Wir Menschen sind gut darin, spielende Kinder am Straßenrand einzuschätzen. Werden sie auf die Straße laufen, oder bleiben sie auf dem Gehweg? Und selbst wenn wir die Situationen im deutschen Straßenverkehr halbwegs überschauen können, bleibt die Frage, ob sich der Autopilot in einem Land wie Indien zurechtfinden kann. Dort fehlen vielerorts Fahrbahnmarkierungen. Der Verkehr ist viel dichter. Und es gibt viele Mopeds und Motor-Rischkas. In Indien wird der Verkehr weniger durch Regeln bestimmt, sondern eher durch eine Art spontane Koordination zwischen den Teilnehmern.

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Ist autonomes Fahren denn überhaupt jemals denkbar?

Ich bin davon überzeugt. Ich gehe davon aus, dass wir uns dem autonomen Fahren in einem evolutionären Prozess annähern. Manche Automobilhersteller versprechen, autonome Fahrzeuge schon 2020 auf die Straßen zu bringen. Doch inzwischen sind einige Hersteller wie Nissan zurückgerudert. Ein erster Schritt wird der Staupilot für die Autobahn sein. Hersteller und Forscher werden nach und nach über viele Tausend Testkilometer Erfahrungen sammeln und sich dann langsam dem vollautomatisierten Fahren nähern. Das wird abgesehen von Nischenanwendungen wie dem automatischen Einparken noch mindestens 15 Jahre dauern.

Gibt es denn neben dem Stop-and-Go- Assistenten für den Stau oder dem Spurhalteassistenten schon konkrete Ideen für das autonome Fahren auf der Autobahn?

In der Tat. Der Lkw- und Sonderfahrzeughersteller MAN arbeitet derzeit in dem öffentlich geförderten Projekt „aFAS“ an einem Absicherungsfahrzeug, das hinter Wanderbaustellen herfährt und die herannahenden Fahrzeuge warnt. Mitunter fahren Autos oder Lkw auf solche Sicherungsfahrzeuge auf, und die Fahrer werden schwer verletzt. Ein autonomer Wagen ist also sinnvoll. Bislang muss in jedem autonomen Versuchsfahrzeug zur Sicherheit ein Mensch mitfahren. Mit dem Projekt von MAN soll jetzt erstmals ein Wagen auf einer öffentlichen Autobahn ganz ohne Aufsicht durch einen Menschen unterwegs sein. Das ist ein großer Schritt.

Allerdings ist eine Schleichfahrt hinter einer Baustelle eine sehr übersichtliche Fahrsituation. Wie sieht es mit komplexeren Manövern aus?

Derzeit wird die Komplexität des Fahrens stark diskutiert, beispielsweise in Situationen, in denen ein Schaden unvermeidbar ist. Ein Beispiel: Dem Auto kommen auf einer Straße ein Lkw und ein überholendes Motorrad entgegen. Auf dem Gehweg neben der Straße läuft ein Kind. Wohin soll das Auto ausweichen? Wie soll sich ein autonomes Fahrzeug entscheiden, um den Schaden möglichst gering zu halten? Wäre es ethisch vertretbar, mit dem Motorradfahrer zu kollidieren, um das Kind zu schützen? Am Bundesverkehrsministerium wurde vor einiger Zeit ein Runder Tisch zum autonomen Fahren eingerichtet, an dem in mehreren Arbeitsgruppen rechtliche, ethische und technische Aspekte diskutiert werden. Der Runde gehören Forscher, Politiker, Vertreter von Autoherstellern und Behörden an. Allen Beteiligten ist bewusst, dass schon ein einziger schwerer Unfall das automatisierte Fahren für lange Zeit in Verruf bringen kann. Die Diskussion auf breiter Basis ist deshalb besonders wichtig. Derzeit arbeite ich mit Förderung der Daimler und Benz Stiftung in einem deutsch-amerikanischen Konsortium unter anderem mit den beiden Forschern Patrick Lin und Chris Gerdes an einem Buch zum Thema Ethik und autonomes Fahren. Darin erörtern wir, welche ethischen Forderungen man an das autonome Fahren stellen muss – und wie sich das technisch umsetzen lässt.

Bei anderen Technologien, etwa in der Atomenergie, versuchen Experten das Risiko mithilfe von Eintrittswahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Ist das mit dem vollautomatisierten Fahren vergleichbar?

Meiner Ansicht nach gibt es nichts Vergleichbares. Ein Atomkraftwerk ist zweifellos ein komplexes System. Aber es ist statisch. Das Auto hingegen bewegt sich, die Umgebungsbedingungen ändern sich ständig. Hinzu kommt, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit des Autopilotensystems extrem klein sein muss, wenn man einen Defekt oder Unfall vermeiden will, weil ja zugleich Millionen von Autos mit dem Autopiloten unterwegs wären. Verglichen mit einem AKW sind natürlich die Schäden, die bei einem Autounfall entstehen, vergleichsweise klein.

Seit ein paar Jahren beschäftigen sich nicht mehr nur die großen Automobilkonzerne mit dem autonomen Fahren. Selbst der Software-Konzern Google mischt mit. Er hat sogar ein Auto ohne Lenkrad und Pedale gebaut.

Google ist zweifellos eines der wichtigsten Informatik-Unternehmen weltweit. Ihm ist einiges zuzutrauen. Aber seit dem Sommer ist man dort zurückhaltender geworden. 2017 sollten autonome Fahrzeuge ohne Fahrer auf den Markt kommen. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Offensichtlich hat man inzwischen auch bei Google die Hindernisse wahrgenommen. Viel mehr Sorge bereiten mir kleinere Start-up-Unternehmen, die vorpreschen und unausgereifte Technik auf die Straße lassen könnten. Sollte dann etwas passieren, könnte das alle Bemühungen um Jahre zurückwerfen. •

Das Gespräch führte Tim Schröder

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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Ge|dan|ken|ly|rik  〈f. 20; unz.; Lit.〉 Lyrik als betonter Ausdruck von Gedanken, (bes. weltanschaul.) Vorstellungen, Idealen usw., doch (im Unterschied zur Lehrdichtung) immer verbunden mit innerem, gefühlshaftem Erleben

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