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Magnet im Ohr

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Magnet im Ohr
Die technische Optimierung des Menschen erreicht neue Dimensionen – vor allem in der Medizin. Und die Gemeinde der Enthusiasten wächst.

In einem sind sich Stefan Greiner und Thomas Stieglitz einig: Der Mensch hat nicht erst gestern begonnen, Schnittstellen zwischen seinem Körper und technischen Konstrukten zu schaffen. Schon vor vielen Hundert Jahren benutzten Behinderte Prothesen aus Holz, um verloren gegangene Gliedmaßen zu ersetzen. Doch hier endet auch schon die Einigkeit der beiden Herren, bittet man sie um ihre Meinung zum Thema „Verschmelzung von Mensch und Maschine” .

„Natürlich haben wir Visionen für die kommenden Jahrzehnte”, sagt der Ingenieur und Neuro-Techniker Stieglitz von der Universität Freiburg. „Wir wollen, dass Gelähmte wieder laufen können, und wir wollen, dass ein Handamputierter eine künstliche Hand wie eine natürliche nutzen kann.” Dafür braucht es Schnittstellen zwischen Mensch und Technik.

Jüngst hat Stieglitz mit seinen Kollegen einem Unterarm-Amputierten mittels einer künstlichen Prothese haptisches Fühlen ermöglicht, indem er Nerven des Patienten mit zwei hauchdünnen Elektroden elektrisch reizte. Die Elektroden übertrugen daraufhin Sensordaten der künstlichen Hand über die Nervenleitungen im Körper zum Gehirn. So bekam der Patient Informationen über Form und Beschaffenheit von Objekten, die er griff – selbst wenn er sie nicht sah.

„Aber über einen Cyborg”, einen Mensch-Maschine-Mix, der seine biologisch gegebenen Fähigkeiten erweitert, sagt Stieglitz, „ machen wir uns sicher keine Gedanken”. Ganz anders Stefan Greiner: „Das Zeitalter des Cyborgs hat schon begonnen”, meint er. An der Universität Osnabrück plant Greiner eine Doktorarbeit zu schreiben über „Sensory Augmentation” – die Erweiterung der Sinne. Ihm geht es nicht nur darum, menschliche Wahrnehmungen von außen zu manipulieren, etwa mit Smartphones und anderen Gadgets. Er will die Fähigkeiten des Menschen auch von innen verbessern – mithilfe von Implantaten. Doch die heutigen Prototypen eines Cyborgs werden von profanen Problemen ausgebremst. Kürzlich hatte sich Greiner einen Magneten in eine Fingerkuppe einpflanzen lassen, der ihm die Wahrnehmung elektromagnetischer Wellen ermöglichte. „Ich habe Kabel in Wänden und Diebstahlsicherungen in Bibliotheken durch ein Vibrieren gespürt.” Ein, wenn auch primitiver, sechster Sinn. Jetzt ist der Magnet wieder draußen, „ weil er zur Seite gewandert ist und mich beim Klettern gestört hat”.

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Interne Kopfhörer als Ersatz fürs Augenlicht

Doch langfristig sehen die Anhänger der Cyborg-Szene derlei Probleme allenfalls als unpraktische Petitesse und nicht als Hindernis. Bestärkt fühlen sie sich durch jüngste Entwicklungen mit Kultcharakter. Der „Biohacker” Rich Lee etwa hat sich Magnete in die Ohren implantieren lassen. Diese internen „Kopfhörer” empfangen Signale von einer Magnetspule am Hals, die mit einem MP3-Player verbunden ist. Nun will Lee die Implantate mit dem GPS-System seines Smartphones zusammenbringen, sodass Informationen zur räumlichen Orientierung direkt in seinen Kopf wandern. Langfristig sollen die Implantate als Basis dienen für ein Echo-Lokationssystem, wie Fledermäuse es haben. Solch ein System kann Lee bitter gebrauchen: Wegen einer Augenerkrankung droht er irgendwann zu erblinden.

Eine andere trickreiche Erfindung sind unter die Haut gelegte RFID-Chips, die mit allen möglichen elektronischen Geräten kommunizieren können. Einige der Proto-Cyborgs öffnen damit Türen oder entsperren ihren Computer. Sie könnten sich damit theoretisch auch an Bezahlsysteme anschließen.

Noch mehr: Der „Eyeborg” Neil Harbisson, geboren mit einer kompletten Farbenblindheit, hat sich im Schädel eine Antenne befestigen lassen, die längs und mittig über den Kopf reicht und die Farben der Welt erkennt – sogar das für uns unsichtbare Ultraviolett- und Infrarotlicht. Jede Farbe wird verwandelt in einen bestimmten Ton, den nur Harbisson wahrnehmen kann. Er hört Farben. Für seinen Pass hat sich Harbisson samt Antenne ablichten lassen. Außerdem hat er die „Cyborg Foundation” gegründet – eine Stiftung, die Menschen helfen soll, ihre Sinne auszubauen.

Diese Initiative beseelt Leute wie Stefan Greiner. Der junge Mann sieht den Menschen als „Wesen, das man gar nicht mehr von der Technik lösen kann”. Den Körper begreift er „ausschließlich aus der Perspektive der Schnittstelle”. „Ich verdränge ja nicht, dass an einem Cyborg geforscht wird”, kommentiert Thomas Stieglitz. Gut möglich sei auch, dass man irgendwann den Körper aufrüsten kann. „Ich glaube aber nicht, dass das ohne Nebenwirkungen geht.” Stieglitz warnt: Wahrscheinlich hat uns die Evolution aus gutem Grund mit genau den Sinnen ausgestattet, die wir haben. Unsere Kapazitäten sind begrenzt. Wenn wir einen weiteren Sinn hinzufügen, geht das auf Kosten der Robustheit und der Zuverlässigkeit des gesamten Sinnessystems, vor allem in schwierigen Situationen. „Wir werden fehleranfälliger.”

Die Suche nach der besten Schnittstelle

Solche Bedenken hindern Christian Elger von der Universität Bonn keineswegs am visionären Denken. An der Schnittstelle zwischen Gehirn und Maschine, davon ist der Neurologe überzeugt, werde sich in den kommenden 50 Jahren Revolutionäres tun. Angesichts der weltweit laufenden Forschung „werden wir viel genauer als heute wissen, was wo im Gehirn passiert”. Und das hat Folgen für den Menschen.

Elger erwartet viel von „Brain-Computer-Interfaces” – Hightech-Geräten, die das Gehirn mit Chips, Rechnern oder anderen Maschinen verbinden. Sie werden ins Gehirn oder unter die Schädeldecke implantiert und detektieren dort elektrische Potenziale und elektromagnetische Wellen, die Gedanken begleiten. Schon heute können querschnittsgelähmte Affen lernen, ihre Extremitäten über solche Brain-Computer-Interfaces zu steuern. Das Problem: Durch die nach außen führenden Kabel kommt es oft zu Infektionen. Aber in ein paar Jahrzehnten, prognostiziert Elger, „ wird es Miniatur-Systeme geben, die die Feldpotenziale der aktiven Nervenzellen für die Gedankensteuerung messen. Sie geben ihre Signale mit einer Technik nach außen, die ähnlich wie Bluetooth funktioniert. Und sie werden sich über die Wärmeproduktion des Gehirns selbst mit Energie versorgen.” Kabel? Überflüssig!

„Die minimal-invasiven Interfaces der Zukunft verarbeiten die gedanklichen Steuersignale und leiten sie an die Muskeln weiter”, glaubt Elger. Er geht davon aus, „dass dann Gelähmte wieder laufen können”. Krankheitsbedingte Ausfälle von Hirnleistungen ließen sich viel besser therapieren als heute. Auch Gesunde könnten profitieren. „Die Menschen werden Computerprogramme mit ihren Gedanken bedienen, indem sie ganz bestimmte Hirnregionen aktivieren”, meint Elger. Menschen mit Headsets, die die Bioelektrizität der beteiligten Nervenzellen empfangen, gehörten mittel- bis langfristig zum Alltag, ist er überzeugt: „Ich werde dann Kraft meiner Gedanken zum Beispiel mein Haus aufschließen können.”

Der Bonner Visionär hält es auch für möglich, statt ein Headset zu nutzen, „sehr, sehr kleine Signalempfänger samt Verstärkern unter die Haut am Schädel zu verpflanzen”. Derlei Fantasien werden befeuert durch Großprojekte der Forschung zu „ Electroceuticals” (EC). Mit ihnen winkt – oder droht – uns die atemberaubendste Schnittstelle zwischen Mensch und Technik überhaupt.

EC sind mikrochipkontrollierte Elektrodenbündel im Nanoformat. Die winzigen Wunderwerke sollen, in den Körper implantiert, einzelne Nervenzellen stimulieren oder dämpfen. Gerade hat der Pharmakonzern Glaxo-SmithKline ein Forschungskonsortium zur Entwicklung von EC gestartet. Die Idee ist bestechend. An fast jeder Funktion des Körpers, etwa beim Regulieren des Blutdrucks, des Hungers oder der Stimmung, sind Impulse von Nervenzellen beteiligt. EC mit der Dimension einzelner Nervenzellen sollen die Signale modulieren und so Krankheiten nebenwirkungsfrei heilen.

Gaspedal für die Nervenaktivität

Um das umsetzen zu können, müssen die Wissenschaftler zuerst die exakten Aktivierungspotenziale entschlüsseln, die beispielsweise den Blutdruck regulieren. Und sie müssen herausfinden, wie sich die Potenziale der Nervenzellen bei hohem Blutdruck verändern. Ein Sisyphus-Job, denn dafür müssen alle Nervennetzwerke in Körper und Gehirn verstanden sein. Und das dürfte Jahrzehnte dauern. Ist das gelungen, müssen im zweiten Schritt jene EC entwickelt werden, die die Aktivierung einzelner Nervenzellen messen und entsprechend intelligent deren Aktivität je nach Bedarf anheizen oder bremsen. Stieglitz sieht hier ein großes Potenzial, genau wie Julian Savulescu (siehe Interview ab S. 24). Der Medziner und Philosoph von der Universität Oxford ahnt, dass die Möglichkeiten dieser ultimativen Mensch-Technik-Schnittstelle weit über medizinische Anwendungen hinausgehen werden. Auch angesichts eines milliardenschweren Hirnforschungsprojekts der Europäischen Gemeinschaft wähnt er die Forschung „auf der Spur des heiligen Grals der Neurowissenschaften: der strategischen Kontrolle einzelner Nervenzellen”.

Menschen könnten Electroceuticals nutzen, um sich zu verbessern, zum Beispiel zu Zwecken der Selbstkontrolle – oder um ihr Belohnungssystem gezielt zu aktivieren, wenn sie etwas lernen. „Um mehr Spaß beim Lernen zu haben”, wie Christian Elger hofft. Oder um ihre Lernfähigkeiten und kognitiven Fähigkeiten insgesamt auszubauen.

Bis es so weit sein wird, heißt es für die Forscher: dicke Bretter bohren. Und: Die Kehrseiten eingehend diskutieren. Selbst ein glühender Schnittstellen-Optimist wie Elger sieht Risiken. Die Menschen würden immer mehr zu Getriebenen: „Die größte Gefahr ist, dass wir in Wissende und Unwissende unterteilt werden – also in Menschen, die diese Systeme nutzen, und in andere, die das nicht können oder wollen. Das könnte die Gesellschaft spalten.” •

von Klaus Wilhelm

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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