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Verräterische Pflanzen

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

Verräterische Pflanzen
Bruchstücke von Blättern, Blüten oder Samen können helfen, Gewaltverbrecher zu überführen.

Freitag, 19. Oktober 2012 im baden-württembergischen Adlerskirschenwald. Eine Pilzsammlerin findet einen Schädel ohne Unterkiefer. Er ist verwittert und hat rechts und links Einschlaglöcher. Sie ruft die Polizei. Eine Hundertschaft rückt aus. Das gesamte Waldstück wird nach weiteren Skelettteilen durchforstet. Hubschrauber kreisen über dem Gebiet. Nichts. Nicht einmal einen Fingerknöchel finden die Ermittler. Das große Rätselraten beginnt. Wer hat den Schädel dorthin gelegt? Woher stammt er? Wo ist der Rest des Skeletts? Wer ist der Tote?

Die Einschlaglöcher im Schädel rufen die Kriminalbeamten auf den Plan. Sie vermuten eine Schuss- oder Schlagverletzung. Im Labor suchen Physiker nach Schmauchspuren: negativ. Doch der Fund ist nach wie vor hochverdächtig. Zeugt er von einem Gewaltverbrechen – und wenn ja, was ist geschehen?

Im Schädelinnenraum, den Augenhöhlen und der Nasenhöhle finden die Beamten Erde und Pflanzenteile. Das organische Material gibt erste Anhaltspunkte zur Herkunft des Schädels. Er landet bei den Experten aus der forensischen Botanik.

Ein Blatt auf dem Autositz

Forensiker kennt man aus Fernsehkrimis: Anhand kleinster Spuren überführen die „Detectives“ von CSI und CIA Verbrecher – hier ein achtlos verlorenes Haar auf dem Teppich, dort eine Hautschuppe im Bad oder das berühmte Blatt auf dem Autositz. Die Probe geht ins Labor und kurz darauf liegt das Ergebnis vor.

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So einfach wie im Fernsehen läuft das Ganze in der Realität allerdings nicht ab. Eine DNA-Analyse dauert je nach Methode bis zu mehreren Stunden. Und ganze Blätter finden sich am Tatort selten. Meist gibt es dort nur Bruchstücke von pflanz- lichem Material. Dann sind forensische Botaniker wie Carsten Rüther und sein Team vom Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg gefragt. Anhand kleinster Merkmale können sie Proben, die für das ungeübte Auge aussehen wie irgendeine Beere oder ein Korn, einer Pflanzengruppe oder sogar einer Pflanzenart zuordnen.

„Meist haben wir es mit kleinsten Fragmenten von Pflanzenorganen zu tun wie Blatt-, Blüten- und Stammteilen oder Samen“, berichtet Rüther. „Sind charakteristische Merkmale vorhanden und eignen sie sich für eine Pflanzenzuordnung, merken wir sie uns – für den nächsten Fall. Das Gehirn ist neben der Vergleichssammlung unsere Hauptdatenbank, die stetig wächst.“ Das Problem: „Wir müssen das Material ohne seinen natürlichen Kontext analysieren. Wir wissen nicht, in welchem Lebensraum die Pflanze gewachsen ist: Feuchter oder trockener Boden? Geringer oder hoher Nährstoffgehalt? Wiese oder Wald?“

Ihren Anfang nahm die forensische Botanik 1935 mit einem der spektakulärsten Fälle des 20. Jahrhunderts: der Entführung von Charles Lindbergh Junior, Sohn der berühmten Flugpioniere Charles und Anne Lindbergh. Am Abend des 1. März 1932 verschwand das 20 Monate alte Kind auf mysteriöse Weise aus seinem Kinderbett im Elternhaus in Hopewell, New Jersey. Die Polizei fand dort neben einem Erpresserbrief Holzstücke einer wohl selbstgezimmerten Leiter.

Zwei Monate lebten die Lindberghs in Ungewissheit. Sie zahlten das geforderte Lösegeld, in der Hoffnung, ihren Sohn lebend wieder zu sehen. Doch am 12. Mai 1932 wurde der Leichnam des Jungen unweit vom Elternhaus geborgen. Der Knabe war durch eine schwere Schädelverletzung gestorben.

Verdächtige Zeichnungen

Drei Jahre später begann der Prozess gegen Bruno Richard Hauptmann wegen Mordes an Charles Lindbergh Jr. in Flemington in New Jersey. Er war überführt worden, weil er Scheine des Lösegeldes ausgegeben hatte. In seiner Wohnung in New York City fanden die Polizisten den Rest des Geldes sowie Zeichnungen zum Bau einer Holzleiter, und auf dem Dachboden entdeckten sie die eine Hälfte eines zersägten Holzbrettes. Experten bestätigten die Ähnlichkeit von Hauptmanns Handschrift mit der auf der Lösegeldforderung. Doch Hauptmann gestand die Tat nicht.

Arthur Koehler, Fachmann für Holzanatomie und Holzidentifikation, hatte von dem Fall gehört. Zum ersten Mal in der Geschichte ließ ein Richter mit ihm einen Botaniker als Experten vor Gericht aussagen. Damit war der forensischen Botanik der Weg bereitet.

Koehler nahm eine detaillierte Analyse des Leiterholzes vor: Die feinen Linien der Epithelzellen in den Harzkanälen wiesen auf eine Pinienart hin. Eine weitere Probe identifizierte er dank der dickwandigen Zellen entlang der Harzkanäle und der spiralartigen Zeichnungen entlang der Wasserleitungen der Bäume als Gewöhnliche Douglasie. Das dritte Holz, verwendet als Holzdübel, war Birke. Außerdem fand Koehler an den Leiterholzstücken vom Tatort Spuren von alten Nägeln mit rechteckigen Köpfen. Auf sein Anraten hin wurde das zersägte Holzbrett vom Dachboden mit den Leiterstücken verglichen. Jahresringe und Wuchsrichtung des Holzes waren zweifellos gleich. Koehlers Aussage trug zur Überführung des Mörders bei. Wenige Jahre später wurde Hauptmann hingerichtet.

Opfer einer schwarzen Messe?

Seitdem sind forensische Botaniker nicht mehr aus der Beweisführung wegzudenken. Die Methodik hat sich kaum verändert, nur die Technik hat sich verfeinert. Im Fall des Schädelfundes aus Baden-Württemberg nehmen die Experten Proben vom Fundort und vergleichen sie unter dem Lichtmikroskop mit dem Spurenmaterial aus dem Schädel: Nadeln, Blattwerk und Kleinstpartikel lassen vermuten, dass der Schädel aus einem bewaldeten Gebiet stammt. Vielleicht hatte hier eine schwarze Messe stattgefunden?

Friedhofs- oder Gartenvegetation können die Biologen nicht nachweisen. Auch die in der Probe gefundenen zylinderförmigen Humusteilchen können sie zunächst nicht einordnen. Erst später kommt Rüther dank seiner Erfahrung als Biologe und Botaniker auf die richtige Spur: Es ist Regenwurmkot, der in der vorgefundenen Form typischerweise in den obersten Schichten von saurem Waldboden vorkommt.

Weitere Untersuchungen folgen. Die kaum einen Zentimeter großen länglichen Strukturen mit je einer Narbe erweisen sich als Fichtenästchen-Abschnitte mit Nadelansatzstelle, die schuppenartigen und gebogenen Gebilde mit Stiel als winzige Fichtenblüten. Ein Abgleich mit Proben aus der Vergleichssammlung bestätigt die Befunde.

Die Pflanzensamen mit wabenartiger Oberfläche aus der Schädelprobe kann Carsten Rüther zunächst nicht zuordnen. „Wir Mikroskopiker, die nach charakteristischen Farben, Formen und Strukturen suchen, stoßen hier an unsere Grenzen“, sagt er. „Bei dem Schädelfund ist das nicht weiter tragisch, da wir im Spuren- und im Vergleichsmaterial vom Fundort viele übereinstimmende Pflanzenteile entdeckt haben. Die Spuren sprechen dafür, dass der Schädel schon länger im Wald lag – oder irgendwie anders Kontakt mit Waldvegetation hatte.“

Im Fernsehen würden die Forensiker nun Bilder von den Pflanzensamen machen und diese mit einer Datenbank im Computer abgleichen. In der Realität funktioniert das nicht. „ Pflanzensamen sind viel zu variabel. Ein Computer würde die Ähnlichkeiten wahrscheinlich nicht erkennen. Derzeit ist nur das menschliche Auge in der Lage, die Variabilität von biologischen Strukturen in seiner Gänze zu erfassen“, sagt Rüther.

Auch DNA-Analysen sind oft nicht möglich. Nur wenige Pflanzen sind vollständig charakterisiert, und die für die DNA-Analyse wichtigen Marker sind nur für einige Arten bekannt. Wie gut sich eine Pflanze in der forensischen Botanik nutzen lässt, hängt etwa von ihrer Häufigkeit, ihrer Verbreitung und ihrem Fortpflanzungssystem ab. Eichen etwa unterscheiden sich genetisch stark voneinander.

Ist genügend Material vorhanden, lässt sich ein Blatt manchmal sogar einem bestimmten Baum zuordnen. Gräser hingegen sind oft schon rein morphologisch schwer zu identifizieren. Genetische Analysen können die Probe zwar einer Art zuordnen, aber nur sehr selten einer individuellen Pflanze. Am einfachsten ist das bei den sogenannten „Inbreedern“ – das sind Pflanzen, die sich selbst befruchten. Die Nachkommen dieser Pflanzen ähneln ihrer Mutterpflanze genetisch sehr. Im Laufe der Zeit können dadurch große Flächen mit genetisch fast identischen Pflanzen entstehen.

Die Leiche am Fluss

Für die Forensische Botanik sind Inbreeder von großer Bedeutung, wie ein Fall aus den Niederlanden zeigt. Wim J. M. Koopman und seine Kollegen vom Institut „Plant Research International“ im niederländischen Wageningen wurden gerufen, als man eine Leiche in der Nähe eines Flusses entdeckte. Im Radkasten des Fahrzeugs des Tatverdächtigen fanden sich Samen von Vogelknöterich, einem Inbreeder. Die Wissenschaftler sammelten daraufhin Vogelknöterichsamen vom Leichenfundort, im Garten des Tatverdächtigen und in verschiedenen Regionen der Niederlande.

Zunächst überlegten sie, DNA aus den gesamten Samen zu extrahieren. „Doch das wäre mit der Technik, die wir nutzen wollten, schwierig gewesen“, sagt Koopman. „Samen haben nämlich zwei verschiedene ,Ploidiegrade‘: Der Pflanzen-Embryo, der nur einen kleinen Teil des Samens ausmacht, ist diploid, er hat zwei Chromosomensätze. Das Endosperm, das Gewebe, das dem Samen als Nahrungsquelle dient, ist dagegen triploid – es hat drei Chromosomensätze.“ Nähme man den ganzen Samen, würden sich die Ploidiegrade vermischen, mit der Folge, dass sich Probe und Vergleichsprobe nicht mehr auswerten lassen.

Problematisch waren auch die Proben vom Fundort: Alle möglichen Organismen könnten sie verunreinigt haben. Die Lösung war, Pflanzen aus den Vogelknöterich-Samen der Radkastenprobe zu ziehen. Das anschließend aus dem weichen Blattgewebe gewonnene Erbmaterial reichte für einen genetischen Fingerabdruck aus. Mit einem aufwändigen Verfahren, der sogenannten AFLP-Technik (von englisch: Amplified Fragment-Length Polymorphism), verglichen die Forscher die Radkastenproben mit den Vergleichsproben, die aus den verschiedenen Gegenden in den Niederlanden stammten.

Bei der AFLP-Technik wird die DNA zunächst in viele sehr kleine Stücke zerschnitten, und einige dieser Fragmente werden anschließend vervielfältigt. Diese Fragmente machen Wissenschaftler dann durch radioaktive oder fluoreszierende Markierung sichtbar. Das Ergebnis der Prozedur ist ein spezifisches DNA-Strichmuster, das sich bei genetisch identischen Pflanzen gleicht.

Eindeutiger Beweis

Den Wissenschaftlern half die Inbreeder-Eigenschaft des Vogelknöterichs: Da sich die Pflanzen über größere Flächen genetisch ähneln, mussten sie nicht die exakte Vogelknöterich-Pflanze finden, um die Radkastenprobe mit dem Tatort in Verbindung zu bringen. Denn alle Pflanzen im Umkreis des Leichenfundortes haben das gleiche Strichmuster. Und tatsächlich: Die Proben vom Leichenfundort und die aus den Samen im Radkasten gezogenen Pflanzen hatten den gleichen genetischen Fingerabdruck. Eindeutiger Beweis: Der mutmaßliche Täter war am Tatort.

Trotz dieses Erfolgs: Die AFLP-Technik ist aufwendig und erfordert sehr viel Zeit und Fachwissen. Viel einfacher wäre es daher, wenn es bereits ganze DNA- Sequenzen gäbe. Ein seit dem Jahr 2003 laufendes Projekt mit dem Namen „International Barcode of Life“ (kurz: iBOL) hat sich genau das zum Ziel gesetzt. In einer großen Datenbank sammeln Wissenschaftler aus der ganzen Welt unter Leitung des kanadischen Genome Board sogenannte DNA-Barcodes. Das sind kurze DNA-Sequenzen, die charakteristisch sind für eine spezielle Pflanzen- oder Tierart.

„Die Wissenschaftler hinterlegen mit den DNA-Barcodes auch geografische Informationen wie GPS-Daten der Fundorte“, erklärt Dirk Steinke vom Institut für Biodiversität in Ontario. So entsteht zusätzlich ein Verbreitungsatlas von Pflanzen und Tierarten. Gegenwärtig verzeichnet die Datenbank mehr als 350 000 Tierarten und 53 000 Pflanzenarten weltweit.

Für die Forensische Botanik sind solche Bibliotheken von großer Bedeutung. „In vielen Fällen sind die Proben zu klein, um sie anhand des Aussehens zu identifizieren. Wenn es eines Tages die DNA- Sequenzen in der iBOL-Datenbank gibt, könnte das viele neue Möglichkeiten eröffnen“, ist Koopman überzeugt. Schon heute nutzen Wissenschaftler auf der ganzen Welt das DNA-Barcoding, um Verbrecher zu überführen.

Tipp von einem Rechtsanwalt

In Stuttgart hat Carsten Rüther die unbekannten Pflanzensamen mit der wabenartigen Oberfläche mittlerweile mit einigen Proben aus der Vergleichssammlung abgeglichen. „Da kommt uns die Erfahrung zugute. Ich wusste, dass die holzigen Vertreter der Rosengewächse eine solche Oberfläche haben“, berichtet er. „Dann habe ich überlegt, welche Arten im Wald wachsen und habe nach einem Abgleich erkannt, dass es sich nur um Himbeere oder Brombeere handeln kann, also um die Gattung Rubus.“

Schädel und Bericht gehen zurück zur zuständigen Polizeidienststelle und von dort weiter zur Gerichtsmedizin nach Göttingen. Einem Hinweis eines Rechtsanwalts aus der Region folgend überprüfen die Rechtsmediziner das Alter des Schädels. Resultat: Der Knochen gehört zu einer wohl 20 bis 30 Jahre alten Frau, die höchstwahrscheinlich schon vor 1948 gestorben ist.

Es stellt sich heraus, dass ein Angehöriger eines Mandanten des Anwalts den Schädel auf seinem Feld gefunden und an sich genommen hatte. Der Mandant vergrub den Schädel später aus Angst vor der Polizei im Wald – wo er fünf Jahre danach zufällig von der Pilzsammlerin gefunden wurde. Erst dann vertraute sich der Mann einem Anwalt an. Inzwischen wird vermutet, dass die Frau das Opfer eines Gewaltverbrechens mit nationalsozialistischem Hintergrund in den letzten Kriegstagen geworden ist. •

Text von Sonja Klein, Fotos von Wolfram Scheible

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