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Man degradiert Ärzte zu Totengräbern

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Man degradiert Ärzte zu Totengräbern
Mitte 2015 entscheidet der Bundestag über diverse Gesetzesentwürfe zum Umgang mit dem Sterbewunsch kranker Patienten. Der Hirnforscher Niels Birbaumer kritisiert Patientenverfügungen und Sterbehilfe.

bild der wissenschaft: In Deutschland können Menschen per Patientenverfügung darüber bestimmen, dass ihnen im Fall einer schweren, unheilbaren Krankheit keine lebensverlängernden Maßnahmen zuteil werden. Was ist daran auszusetzen?

Niels Birbaumer: Man unterschreibt eine Patientenverfügung zu einem Zeitpunkt, an dem man gar nicht absehen kann, wie es einem mit einer schweren Erkrankung gehen könnte. Viele Menschen denken, dass Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson völlig unglücklich machen. Doch die Lebensqualität von Patienten mit chronischen neurologischen Erkrankungen ist oft hoch.

Wie sieht die Situation solcher Patienten denn aus?

Natürlich gibt es Krankheitsphasen, in denen es den Patienten schlecht geht. In frühen Phasen haben Menschen mit Parkinson oft Depressionen. Und auch Alzheimer-Patienten geht es am Anfang nicht gut, wenn sie merken, dass ihr Gedächtnis sie im Stich lässt. Später steigt ihre Lebensqualität aber oft wieder. Sie ist genauso wie bei Parkinson-Patienten oft hoch.

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Sie arbeiten mit Menschen, die an Amyotropher Lateralsklerose erkrankt sind. Diese „Locked-In-Patienten“ sind völlig gelähmt in ihrem Körper eingeschlossen. Das muss doch ein furchtbarer Zustand sein.

In den Monaten, in denen den Patienten durch die Lähmung der Muskulatur die Luft ausgeht, ist ihre Lebensqualität tatsächlich miserabel. Viele wollen nicht mehr leben. Aber sobald sie künstlich beatmet werden, steigt ihre Lebensqualität. Überhaupt nimmt sie überraschenderweise mit dem Fortschreiten der Erkrankung wieder zu. Der Locked-In-Zustand ist keine Katastrophe.

Wie erklären Sie sich, dass diese Patienten oft so zufrieden sind?

Unser Gehirn ist äußerst plastisch. Es kann sich auch an schwierige Situationen anpassen und zum Glücklichsein zurückfinden. Das Gehirn reagiert dann stärker auf positive soziale Reize wie Familie und Freunde. Das konnten wir bei unseren Locked-In-Patienten durch Untersuchungen im Kernspintomografen feststellen.

Was trägt am meisten zu einer besseren Lebensqualität bei?

Wichtig sind vor allem eine gute Betreuung und Pflege der Patienten. Dazu gehört eine gute psychologische Betreuung, aber auch, dass die Beziehungen in der Familie liebevoll sind. Bei guter Pflege durch Personal und Familie ist die Lebensqualität hoch. Ob jemand mit Locked-In, Alzheimer oder Parkinson glücklich ist, hängt also vor allem davon ab, welche soziale Zuwendung er bekommt.

Viele haben große Probleme mit der Vorstellung, an Geräte zur künstlichen Verlängerung des Lebens angeschlossen zu werden. Können Sie das nicht nachvollziehen?

Die Abhängigkeit von medizinischen Geräten ist nichts Schlechtes – das verstehen die meisten gesunden Menschen aber nicht. Wer akut betroffen ist, bewertet solche Geräte dagegen in den meisten Fällen positiv. Zum Zeitpunkt ihrer Unterschrift auf der Patientenverfügung wissen die Betreffenden nicht, was es bedeutet, künstlich beatmet zu werden, wenn man zuvor ein halbes Jahr lang fast erstickt wäre.

Manche argumentieren, es sei ein Akt der Autonomie, eine Patientenverfügung zu unterschreiben.

Was hat es denn mit freier Entscheidung zu tun, wenn ein gesunder Mensch eine Patientenverfügung unterschreibt, die Jahre danach nur deshalb in Kraft tritt, weil er sie als fortgeschrittener Alzheimer-Patient nicht mehr zurücknehmen kann? Und das, obwohl er vielleicht gerade mit seinem Leben ganz zufrieden ist? Auch einen Locked-In-Patienten oder einen Patienten mit Parkinson können Sie nicht fragen. Ihm dreht man dann die Luft ab oder die Nahrungszufuhr. Mit einer Patientenverfügung degradiert man Ärzte zu Totengräbern.

Warum unterschreiben denn manche Patienten eine entsprechende Verfügung?

Der öffentliche Druck auf ihnen ist groß, aus dem Leben zu scheiden. Die Versicherungen und Beerdigungsinstitute wollen natürlich, dass diese Menschen schnell sterben. Groß ist der Druck auch von Seiten mancher Ärzte, die die Intensivpatienten loswerden möchten, und manchmal sogar seitens der Familie.

Wie handeln Sie selbst, wenn ein Patient mit Locked-In eine Patientenverfügung unterzeichnet hat, laut der er nicht am Leben erhalten werden möchte?

Ich werfe sie weg – natürlich mit dem Einverständnis des Patienten. Wir erklären ihm sehr genau, dass er eine große Chance auf eine hohe Lebensqualität hat. Sein Einverständnis, die Patientenverfügung auszusetzen oder später erneut zu formulieren, kann er uns über sogenannte Computer-Hirn-Schnittstellen mitteilen. Mit deren Hilfe können wir die mit Gedanken einhergehenden Hirnaktivitäten messen und von einer Software in Sprache umsetzen lassen. Damit kann der Patient jederzeit über sein Schicksal entscheiden.

Was tun Sie, wenn ein Patient nach wie vor sterben möchte?

Natürlich sind wir bereit, einem Patienten beim Sterben zu helfen, wenn er das möchte. Ich selbst kann das allerdings nicht tun, sondern muss einen Arzt hinzuziehen. Das hat in den letzten 35 Jahren der Betreuung aber keiner verlangt. Die Lebensqualität der Patienten ist, wie gesagt, in der Regel hoch.

Gibt es Erkrankungen, bei denen Ihre Haltung zu Sterbehilfe und Patienten- verfügungen eine andere ist?

Bei Krebspatienten würde ich die Situation anders sehen. Wenn ein Krebspatient im Endstadium unerträg- liche Schmerzen hat, bin ich der letzte, der gegen Sterbehilfe ist. Ich bin ja nicht der Papst! Aber eigentlich dürften unerträgliche Schmerzen heute kein Grund für eine Sterbehilfe mehr sein. Man kann die Schmerzen bei Krebs in den Griff bekommen. Und hier komme ich noch einmal auf die neurologischen Erkrankungen zurück: Auch eine mit Parkinson oder Alzheimer einhergehende Depression kann man behandeln. Ich kann doch einen Menschen nicht umbringen, nur weil er depressiv ist! •

Das Gespräch führte Christian Wolf

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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