Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Geisterjagd im fernen Osten

Astronomie|Physik

Geisterjagd im fernen Osten
In China sollen neue Experimente die letzten Geheimnisse der Neutrinos lüften. Sie könnten klären, warum es überhaupt Materie gibt.

Stundenlang ist der Bus durch die südchinesische Provinz Sichuan gezockelt, vorbei an Gehöften kaum größer als Gartenschuppen, und an Bauern, die ihre Felder per Ochsenpflug beackern. Die Landschaft wird immer gebirgiger. Schließlich biegt der Fahrer in einen Tunnel ein – eine lange, schummerige Röhre mit grob verputzen Wänden, in den Fels gesprengt für Kolonnen von Lastwagen, die den Bauplatz eines gigantischen Staudamms ansteuern. Plötzlich, bei Tunnelkilometer 9, stoppt der Bus vor einem wuchtigen Metalltor. Dahinter steckt – ein auffälliger Kontrast zum schmuddeligen Baustellenambiente – ein Hightech-Hort der Grundlagenforschung: Jinping, das tiefste Untergrundlabor der Welt.

2400 Meter Fels schirmen die kargen Räume nahezu komplett gegen die Kosmische Strahlung ab, die laufend auf die Erde trifft. 2010 erst wurde Jinping eingeweiht. „Doch schon Ende 2014 wollen wir das Labor erweitern”, sagt Qian Yue, Teilchenforscher an der Tsinghua-Universität in Peking. „Aus drei engen Laborbunkern werden vier unterirdische Kathedralen mit einer Gesamtfläche größer als ein Fußballfeld.”

Dann werden hier die weltweit besten Bedingungen herrschen, um ein Klasse seltsamer Elementarteilchen unter die Lupe zu nehmen – die Neutrinos. Diese ultraleichten, nahezu lichtschnell fliegenden Elementarteilchen reagieren weder elektromagnetisch noch auf die Starke Wechselwirkung, die den Atomkern im Innersten zusammenhält. Das Einzige, worauf sie sporadisch ansprechen, ist die Schwache Kernkraft – jene Wechselwirkung, die radioaktive Prozesse auslöst. Die ausgeprägte Kontaktarmut führt dazu, dass Neutrinos kaum mit Materie interagieren. Selbst Sterne und Planeten sind Luft für sie, nur selten bleibt eines von ihnen in Materie „stecken”. Das macht die Teilchen für Wissenschaftler zu idealen Boten: Neutrinos tragen die Information über ihren Geburtsort etwa im Sonnen- oder Erdinnern ungehindert nach außen und geben sie erst in den Detektoren der Forscher preis. Die seltsamen Partikel könnten auch hinter einem der größten Rätsel der Physik stecken: Warum gibt es im Universum weniger Antimaterie als Materie? Wie konnte sich beim Urknall ein Materieüberschuss bilden, aus dem die Welt um uns herum besteht – Sterne, Planeten und wir selbst?

Ausspähen nach Dunkler Materie

Der Versuch, mit dem die Chinesen das Geheimnis lüften wollen, ist ambitioniert: Mitten im Berg planen sie, einen Detektor aus einer Tonne hochreinem Germanium zu installieren – 50 Mal so groß wie der größte bisherige Sensor gleicher Bauart. Zum einen soll das Gerät nach Dunkler Materie Ausschau halten. So nennen Experten winzige, bislang unentdeckte Teilchen, die in rauen Mengen durchs All geistern und kraft ihrer Gravitation auf ihre Umgebung einwirken können (bild der wissenschaft 12/2011, „Dunkle Materie”). Ohne sie, meinen viele Physiker, sei nicht zu erklären, warum Galaxien zusammenhalten und wie sich der Kosmos in seine heutige Gestalt entwickelt hat.

Anzeige

Zum anderen soll der Detektor auf einen hypothetischen radioaktiven Kernzerfall lauern, den neutrinolosen Doppel-Betazerfall. „In einem Germanium-Kern wandeln sich zwei Neutronen spontan in zwei Protonen um”, erläutert Bela Majorovits, Forscher am Max-Planck-Institut für Physik in München. „Dabei werden zwei Elektronen sowie zwei Neutrinos freigesetzt.”

Das Entscheidende: Die beiden Neutrinos sollten sich unverzüglich gegenseitig auslöschen (Annihilation). Das allerdings kann nur passieren, wenn sie ihre eigenen Antiteilchen sind – ein Novum in der Teilchenphysik. Laut Lehrbuch nämlich lässt sich jeder Teilchensorte ein Partner aus der Antiwelt zuordnen: Das Positron etwa ist das Pendant zum Elektron. Es besitzt gleiche Masse und identischen Spin, ist jedoch elektrisch umgekehrt gepolt – positiv statt negativ. Treffen Positron und Elektron aufeinander, zerstrahlen sie komplett in einem winzigen Energieblitz.

Doch ob auch Neutrinos dieser Teilchen-Dialektik folgen, ist umstritten. Viele Fachleute glauben, dass sich Neutrinos ebenso deutlich von ihren Antiteilchen unterscheiden wie Quarks und Elektronen. Andere Experten vermuten das Gegenteil: Neutrinos und Antineutrinos sollen identisch sein – mit gravierenden Folgen für die Kosmologie. „Wir wissen bislang noch nicht, warum im Urknall mehr Materie als Antimaterie entstanden ist”, sagt Majorovits. „ Doch es gibt Theorien, die den Materieüberschuss erklären können, und manche gehen davon aus, dass das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist.”

Störsignale funken dazwischen

Würde es den neutrinolosen Doppel-Betazerfall tatsächlich geben, wäre bewiesen, dass das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist – ein zentraler Fingerzeig, dass etwas dran ist an den spekulativen Theorien zum Materieüberschuss. Doch entsprechende Experimente sind schwierig. Denn die exotische Zerfallsart dürfte, wenn sie überhaupt vorkommt, extrem selten sein: Bei einem einzelnen Germanium-Kern müsste man 1025 Jahre warten, bis er zerfällt – das milliardenfache Alter des Universums.

Erst bei sehr vielen Germanium-Kernen hat man eine realistische Chance, dass einer davon den exotischen Zerfall zeigt. „Pro Kilogramm Detektormaterial rechnen wir mit weniger als einem Zerfall pro Jahr”, sagt Majorovits. Außerdem funken den Physikern allerlei Störsignale dazwischen: Teilchen aus der Kosmischen Strahlung hinterlassen irreführende Spuren im Detektor. Deshalb sind die Experimente tief in die Erde eingebaut. Kilometerdicke Felsschichten sollen die Kosmische Strahlung weitgehend abschirmen. Zusätzlich stecken die Detektoren in Schutzmänteln aus Kupfer, Teflon und tiefkalten Gasen. Sie sollen die Radioaktivität aus der Umgebung dämpfen.

Wirklich eine Sensation?

Trotz dieser Hemmnisse war bereits 2006 ein Forscher vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg mit einer Sensationsmeldung vorgeprescht: Demnach hatte das „ Moskau-Heidelberg-Experiment” – ein Detektor aus 11,5 Kilogramm Germanium – klare Spuren auf den ominösen Zerfall geliefert. Die Fachwelt zweifelte, doch jahrelang hing das Resultat im Raum. 2013 schließlich entlarvte GERDA (GERmanium Detector Array), ein 18-Kilo-Detektor im italienischen Gran-Sasso-Labor, das Ganze als Fehlalarm. „Nach eineinhalb Jahren Messungen haben wir noch kein Signal gesehen”, sagt GERDA- Projektleiter Majorovits. „Damit scheint ausgeschlossen, dass das Heidelberg-Moskau-Experiment den neutrinolosen Doppelbeta-Zerfall beobachtet hat.”

Dennoch versuchten es die Experten weiter, zum Beispiel mit einer erweiterten Version von GERDA – Detektormasse 40 Kilogramm. Doch auch die dürfte kaum genügen, weshalb die Forscher langfristig mit einem Ein-Tonnen-Detektor aus hochreinem Germanium liebäugeln. Denn erst ein solches Monstrum dürfte Gewissheit bringen, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist.

Eigentlich hatte Bela Majorovits geplant, den Superdetektor gemeinsam mit US-Physikern in Nordamerika zu bauen. Aber im Moment fällt es im Westen schwer, die dafür nötigen Forschungsgelder einzuwerben. Jetzt tritt ein neuer Partner auf den Plan – China. Nach seinem wirtschaftlichen Aufschwung will das Land nun auch in der Grundlagenforschung auftrumpfen, vor allem auf dem nobelpreisträchtigen Feld der Teilchenphysik.

Trotz sprudelnder Forschungsgelder – im Alleingang können die Chinesen das Megaprojekt nicht stemmen. Zum einen wären die Kosten von 500 Millionen Euro einfach zu hoch. Zum anderen fehlt in Fernost das technologische Know-how für ein derart komplexes Experiment. Deshalb werben Chinas Physiker eifrig um Kooperationspartner aus dem Westen – um die Mitwirkung von Spezialisten wie Majorovits.

Chinas größter Trumpf ist das Untergrundlabor Jinping. Es liegt 1000 Meter tiefer als das führende Labor in Europa und kann damit die störende Kosmische Strahlung effektiver abschirmen, insbesondere elektronenartige Teilchen namens Myonen. „Auf der Erdoberfläche schlagen in jeder Sekunde 140 Myonen pro Quadratmeter ein”, erläutert Xiang Liu von der Jiaotong-Universität in Shanghai. „Im Jinping-Labor ist die Strahlung um das Zigmillionenfache reduziert, hier kommt nur ein Myon pro Woche an.” In Europas größtem Untergrundlabor, das 1400 Meter tief im italienischen Gran-Sasso-Massiv liegt, zählt man pro Woche gut 150 Myonen.

Kernkraftwerke produzieren Neutrinos

Doch die Forscher müssen sich gedulden: Frühestens 2025 dürfte der Megadetektor fertig sein. Für den ersten Paukenschlag in der Neutrinophysik hatten die Chinesen aber schon 2012 gesorgt – mit dem Experiment Daya Bay in der Daya-Bucht nahe Hongkong. „Der Detektor liegt in der Nähe mehrerer Kernkraftwerke”, sagt der Physiker Shaomin Chen von der Tsinghua-Universität. „Die Reaktoren erzeugen eine große Zahl an Neutrinos, und wir haben untersucht, inwieweit sich diese Reaktorneutrinos auf dem Weg zu unserem Detektor in andere Neutrinoarten verwandeln.”

Die Experten kennen drei Sorten: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Dass sich Elektron- in Myon-Neutrinos sowie Myon- in Tau-Neutrinos verwandeln können, weiß die Fachwelt schon länger. Unklar jedoch war, ob es zu der spukhaften Metamorphose auch zwischen Elektron- und Tau-Neutrinos kommen kann. Um das Rätsel zu lösen, hatten die Chinesen ihr Experiment innerhalb weniger Jahre aus dem Boden gestampft und damit zwei Konkurrenzteams in Frankreich und Südkorea überholt. Die hatten zwar eher mit dem Bau ihrer Detektoren begonnen, aber mit dem Tempo der Chinesen nicht mithalten können.

2012 veröffentlichte das 160-köpfige Team ein überraschendes Resultat: „Die Fachwelt hatte angenommen, dass sich vielleicht ein Prozent der Neutrinos umwandelt”, sagt Chen. „Doch unser Wert liegt bei neun Prozent, also deutlich höher.” Damit sind die von Daya Bay entdeckten Verwandlungskünste so ausgeprägt, dass sie helfen könnten, das große Rätsel der verschwundenen Antimaterie zu lösen. „Unser Experiment legt nahe: Es könnte durchaus sein, dass die Neutrinos die entscheidende Rolle gespielt haben”, sagt Chen. „Nun gibt es die Chance, diese Hypothese mit künftigen Experimenten zu prüfen.”

Kollisionen in der Ursuppe

Kurz nach dem Urknall bestand das Universum aus einer „ Teilchensuppe”, die so heiß und dicht war, dass die Teilchen in ihr ständig kollidierten – auch die reichlich vorhandenen Neutrinos. Sollte es zwischen Neutrinos und Antineutrinos ein Ungleichgewicht gegeben haben, dann hätten sich die Partikel nicht alle komplett vernichtet, sondern ein Teil der Neutrinos wäre übriggeblieben. Diese Überlebenden hätten sich in Elektronen verwandelt und dann Protonen und Neutronen so verändert, dass sich ein stabiler Materieüberschuss bilden konnte.

Um Ideen wie diese zu prüfen, braucht es neue, weitergehende Neutrinoexperimente. Den ersten Schritt hat, angestachelt durch den Daya-Bay-Erfolg, wiederum China gemacht: JUNO (Jiangmen Underground Neutrino Observatory), ein 300 Millionen Euro teurer Detektor im Süden des Landes, soll herausfinden, welche der drei Neutrinosorten die schwerste und welche die leichteste ist – eine für die Fachwelt grundlegende Frage.

„Wir kennen zwar die Massenunterschiede zwischen den drei Sorten, aber weder die Absolutwerte noch die Rangfolge”, erläutert Achim Stahl, Professor an der RWTH Aachen und Mitglied im JUNO-Team. „Ist die zum Elektron-Neutrino gehörige Masse die schwerste oder aber die leichteste?” Genau das soll JUNO herausfinden, denn erst die Kenntnis dieser „Massenhierarchie” erlaubt es, spätere Experimente gezielt zu konstruieren und dann deren Daten zu interpretieren. Stahl sagt: „JUNO ist die letzte Vorstufe, bevor wir messen können, ob sich Neutrinos und Antineutrinos in ihrem Verhalten unterscheiden, um so den Materieüberschuss im Universum erklären zu können.” Der Aufwand ist beträchtlich. JUNO basiert auf einem unterirdischen 20 000-Tonnen-Tank, gefüllt mit einem Spezialöl. Neutrinos aus benachbarten Atommeilern sollen sporadisch mit den Atomkernen im Öl reagieren, wobei ein schwaches Leuchten entsteht. An der Innenwand des Tanks sind 16 000 hochempfindliche Lichtsensoren angebracht, die nach diesem Leuchten Ausschau halten. Stahl und seine Kollegen fahnden dabei nach charakteristische Schwankungen im Energiespektrum. Sie hoffen, aus ihnen auf die Massenhierarchie schließen zu können. Seit Ende 2014 laufen die Bauarbeiten. Ab 2019 soll JUNO Daten gewinnen, drei Jahre später könnten die ersten aussagekräftigen Ergebnisse vorliegen.

Und wie könnten die entscheidenden Folgeexperimente aussehen? Die Physiker träumen von regelrechten Neutrinofabriken: leistungsstarken Spezialbeschleunigern, die künstliche, hochintensive Neutrinostrahlen erzeugen. „Damit ließe sich die Frage nach einem unterschiedlichen Verhalten von Neutrinos und Antineutrinos endlich klären”, sagt Achim Stahl. „Allerdings würde eine Neutrino-fabrik viele Milliarden kosten.” Seit einiger Zeit liebäugelt das US-Forschungszentrum Fermilab mit dem Bau eines solchen Giganten. Vielleicht aber wagt auch China den Vorstoß, um im Eiltempo an die Weltspitze der Neutrinoforschung zu marschieren. •

von Frank Grotelüschen

Ohne Titel

FRANK GROTELÜSCHEN ist Physiker und freier Wissenschafts- journalist in Hamburg. In bild der wissenschaft 12/2013 schrieb er über das Rätsel der Gravitation.

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Dossiers
Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Puls|fre|quenz  〈f. 20; Med.〉 Anzahl der Pulsschläge pro Minute

Trau|er|wei|de  〈f. 19〉 1 〈Bot.〉 Weide mit herabhängenden Zweigen: Salis babylonica; Sy Hängeweide … mehr

E–Mo|bi|li|tät  〈f.; –; unz.; kurz für〉 Elektromobilität

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige