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Was tote Schweine auf dem Meeresgrund zu suchen haben

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

Was tote Schweine auf dem Meeresgrund zu suchen haben
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Die Vorgänge bei der Bildung einer Wasserleiche werden an Schweinekadavern im Meer untersucht. Die Fotos zeigen den Zustand einer Tierleiche an Tag 5, Tag 8 und Tag 16. Fotos: Victoria Experimental Network Under the Sea (VENUS)
Wasserleichen sind problematisch für Forensiker – sie geben kaum etwas über ihre Todesursache oder den Todeszeitpunkt preis. Deswegen setzt eine kanadische Wissenschaftlerin jetzt auf tote Schweine: Sie versenkt die Kadaver im Meer, um die Vorgänge bei der Bildung einer Wasserleiche genau dokumentieren zu können. Erste Ergebnisse gibt es bereits.

Sie gehören nicht gerade zu den gängigen Sehenswürdigkeiten, die der Meeresgrund für Taucher bereithält – außer im Saanich Inlet, einem Meeresarm vor der Küste von Vancouver Island: Dort kommen den Wassersportlern nicht nur Korallen, Fische und anderes Meeresgetier vor die Augen, sondern auch Schweineleichen. Akkurat platziert und mit Gewichten beschwert verbringen die Kadaver mehrere Wochen unter Wasser, und zwar im Dienst der Wissenschaft: Die Schweine sollen Rechtsmedizinern helfen, zu verstehen, was unter Wasser mit toten Körpern passiert.

Initiatorin dieses ungewöhnlichen Projektes ist die kanadische Zoologin Gail Anderson. Begonnen hat sie damit vor acht Jahren mit insgesamt sechs Schweinen, berichtet das Magazin „bild der wissenschaft“. Der Auslöser war ein befreundeter Polizist, der immer wieder vor ein und demselben Problem stand: Wurde eine Wasserleiche entdeckt, konnte er den Angehörigen kaum etwas über die Todesumstände sagen, nicht einmal, ob es sich um einen Unfall, einen Freitod oder um einen Mord handelte.

Denn Wasserleichen stellen die Forensik immer noch vor schier unlösbare Rätsel. Während es sonst Temperatur, Art der Verletzungen, der Verwesungsstatus und die Besiedelung mit Insekten sind, die den Wissenschaftlern bei der Suche nach Todesursache und -zeitpunkt helfen, ist nichts davon auf die Situation unter Wasser übertragbar. Dort verändern sich ständig Strömungen, Salzgehalt, Druck und Umgebungstemperatur, felsige Untergründe wechseln sich mit sandigen ab und die vielfältige Meeresfauna tut ihr übriges. All das führt dazu, dass nicht einmal kurz nach dem Tod der Sterbezeitpunkt sicher bestimmt werden kann.

Was fehlt, ist daher ein kontrollierter Vergleich. Genau hier kommen Andersons Schweineleichen ins Spiel: Sie oder vielmehr ihr Zerfall werden als Teil des Unterwasserobservatoriums „VENUS“ (Victoria Experimental Network Under the Sea) intensiv beobachtet. Schweine besitzen nämlich eine Haut, die der des Menschen sehr ähnlich ist, und auch ihre Organe und sogar ihre Darmflora entsprechen grob denen des Menschen. Zweimal täglich verfolgt Gail Anderson daher per Kameraübertragung aus 90 Metern Tiefe, wie Seesterne, Krebse und Fische an ihrer Schweineleiche knabbern und nagen. „Manche spielen richtig mit ihr“, kommentiert sie beim Anblick einiger Krabben, die an den Beinen des Kadavers zu schaukeln scheinen.

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Zusätzlich registriert VENUS sekündlich Temperatur, Salzgehalt und Druck unter Wasser – Daten, die Anderson später helfen, die Veränderungen an den toten Schweinekörpern zu katalogisieren. Typischerweise sind es auf sandigem Untergrund etwa drei Wochen, bis von dem Gewebe des Schweins nichts mehr übrig ist, auf felsigem etwas länger. „Im Sand kommen die Krabben rasch, weil sie hier leben. Auf Felsen dauert es deutlich länger“, berichtet Anderson. Auch die Knochen verschwinden mit der Zeit – demineralisiert vom Salzwasser lösen sie sich komplett auf.

Und auch sonst hat die Wissenschaftlerin bereits einiges von ihren Schweinen erfahren. So kann sie mittlerweile die Entstehung verschiedene Wundmuster beurteilen: „Alle Versuchen haben gezeigt, dass Meerestiere am hinteren Körperende zu fressen anfangen. Der Kopf ist jedes Mal bis zuletzt unberührt“. Sogar die offene Eintrittsstelle des Projektils, mit dem die Tiere getötet werden, bleibt unangetastet – etwas, das an Land undenkbar wäre. Denn hier sind es gerade Körperöffnungen und Schusswunden, für die sich Tiere, allen voran die Insekten, als erstes interessieren. Wenn also eine ansonsten unversehrte Wasserleiche Verletzungen im Gesicht aufweist, deutet das eher auf Mord hin, schließt Anderson laut „bild der wissenschaft“ aus diesen Ergebnissen.

Um wirklich dokumentieren zu können, was unter unterschiedlichen Bedingungen mit den Körpern unter Wasser passiert, bräuchte es allerdings sehr viel mehr Schweine auf dem Meeresgrund – und sehr viel mehr Kapazitäten für die Beobachtung. Anderson schwebt eine Art „Body-Farm“ unter Wasser vor, ähnlich wie es sie an den Universitäten von Tennessee und West Carolinas bereits gibt. Dort verwesen Leichen von Körperspendern auf Freigeländen, manche in der Sonne, andere im Schatten, einige in Autos, wieder andere in Folie gehüllt. Bisher fehlen der Wissenschaftlerin dafür jedoch die Mittel.

Den nächsten Schritt, nämlich menschliche Leichen auf den Meeresgrund zu befördern, will Gail Anderson im Moment hingegen noch nicht tun – obwohl das nach kanadischem Recht kein Problem wäre, solange sich die Verstorbenen freiwillig zur Verfügung stellen und die Familie einverstanden ist. „So weit ist die Gesellschaft noch nicht, dass sie das verstünde“, bedauert sie.

Cornelia Reichert: „Die Stellvertreter“, in: bild der wissenschaft 11/2008 ddp/wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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