Während es an der Gültigkeit dieses Zusammenhangs bei mittleren und hohen Dosen keinen Zweifel gibt und deren Schädlichkeit unumstritten ist, mehren sich die Hinweise darauf, dass niedrige Dosen Schutzreaktionen im Körper auslösen, die Schäden an der DNA verhindern, reparieren oder gar beseitigen können. Die DNA ist die Trägerin des Erbgutes und befindet sich im Kern jeder Körperzelle.
Nach derzeitigem Wissen entsteht Krebs durch mehrere aufeinanderfolgende, nicht oder falsch reparierte Schädigungen der DNA einer Zelle. “Neuere experimentelle Daten zeigen, dass allein durch giftige Substanzen, die ununterbrochen im menschlichen Stoffwechsel erzeugt werden, etwa in jeder zehnten Körperzelle ein ernster DNA-Schaden pro Tag verursacht wird”, sagt Feinendegen. Wenn man zugrundelegt, dass ein menschlicher Körper etwa 20 bis 40 Billionen Zellen hat und somit jeden Tag in einem Menschen mehrere Billionen ernste DNA-Schäden verursacht werden, “dann führt diese immense Zahl zu der Frage, warum in einem intakten Organismus die Entstehung von Krebs bezogen auf eine Zelle ein so ungemein seltenes Ereignis ist”, ergänzt Feinendegen. Bereits die Entstehung einer einzigen Krebszelle kann bei einem Menschen eine Krebserkrankung auslösen.
Den Weg zu einer Antwort weisen viele wissenschaftliche Untersuchungen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten. Zum Beispiel ergab eine statistische Untersuchung bei Arbeitern der Kanadischen Kernkraftindustrie, die fortwährend einer geringen radioaktiven Strahlung ausgesetzt waren, ein signifikant reduziertes Krebsrisiko. Dies gilt für Strahlendosen, die nicht mehr als dem 20-fachen der durchschnittlichen Hintergrundstrahlung entsprechen. Bei Arbeitern, die über längere Zeit mehr als dem 40-fachen der natürlichen Hintergrundstrahlung ausgesetzt waren, stieg das Krebsrisiko. Der allgegenwärtigen Hintergrundstrahlung ist jeder Mensch ausgesetzt. Sie stammt zum Teil aus dem Weltall und zum Teil aus dem Zerfall des radioaktiven Edelgases Radon, das ständig aus dem Erdinnern hochsteigt.
Die Untersuchungen belegen, dass geringe Strahlendosen mehrere Abwehrmechanismen im Körper anregen, die nacheinander wirken. Die erste Abwehrstufe sorgt für den Abbau von reaktiven Sauerstoff tragenden chemischen Verbindungen. Diese werden nicht nur durch den normalen Stoffwechsel, sondern auch durch radioaktive sowie durch Röntgenstrahlung erzeugt. Diese chemischen Verbindungen sind es, die schließlich die meisten der bereits erwähnten ernsten DNA-Schäden verursachen. Bei Schäden, die trotzdem entstehen, setzt die zweite Abwehrstufe an. Dies ist der stets aktive DNA-Reparaturmechanismus der Zellen. Auch seine Aktivität wird durch geringe Strahlendosen weiter angeregt. Allerdings zeigen die Untersuchungen, dass diese Anregung mit zunehmendem Alter nachlässt.
Versagt auch dieser Schutzmechanismus, dann kommt die dritte Abwehrstufe zum Zuge: Die geschädigte Zelle tötet sich selbst. Anders als bei den ersten beiden Stufen, wird dieser Schutzmechanismus auch durch mittlere und hohe Dosen angeregt. Die vierte Abwehrstufe ist das Immunsystem, das ebenfalls durch geringe Strahlendosen angeregt werden kann. Es spürt Krebszellen auf und zerstört sie. In Tierexperimenten dauerte die Anregung des Immunsystems bis zu mehreren Monaten nach einer Bestrahlung mit geringen Dosen an. Allerdings belegen die Versuche auch, dass höhere Dosen den Effekt umkehren und das Immunsystem schwächen.
“Aufgrund all dieser Befunde diskutiert man gegenwärtig international, ob die proportionale Dosis-Wirkungsbeziehung für den Strahlenschutz auch für kleine Dosen beibehalten werden soll”, sagt Feinendegen. “Doch von den etablierten Strahlenschutzgremien wird dies bisher öffentlich ignoriert. Ich persönlich plädiere dafür, im Strahlenschutz eine Dosis-Schwelle einzuführen, unterhalb der keine Schutzaktivitäten mehr nötig sind. Diese Schwelle sollte in einem Konsensusverfahren wissenschaftlich wohlbegründet erarbeitet werden. Dabei muss unter anderem auch berücksichtigt werden, dass die verschiedenen Schutzmechanismen vom Erbgut kontrolliert werden und deshalb bei jedem Menschen ein wenig anders wirken.”