Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Implantierte Epilepsie-Vorhersage

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

Implantierte Epilepsie-Vorhersage
bearbeitet_hinrstrom.jpg
Über die Aufzeichnung von Hirnströmen kann der Herd der Epilepsie im Gehirn bestimmt werden. Bild: Aschoeke, Wikipedia (GNU Lizenz)
Mediziner, Mathematiker und Physiker arbeiten daran, epileptische Anfälle im Vorfeld zu erkennen. Sie wollen ein System entwickeln, das die Patienten vor einem Anfall warnt. In knapp zwei Jahren soll das Prinzip erstmals an Epileptikern getestet werden. Auf längere Sicht soll ein Hirnimplantat nicht nur den Anfall vorhersagen, sondern auch automatisch Medikamente im Gehirn freisetzen, die ihn unterdrücken.

Wenn es im gesamten Körper kribbelt, ist es schon zu spät. Ein epileptischer Anfall bahnt sich an. Die Glieder zucken unkontrolliert, der Patient ist nicht mehr Herr seiner Bewegungen. Manchmal dauert der Krampfanfall nur einige Sekunden, manchmal minutenlang. Danach ist alles, als sei nichts gewesen. Dennoch schränkt eine Epilepsie das Leben stark ein: Viele Berufe kommen nicht infrage. Als Pilot, Taxi- oder Lkw-Fahrer würden bei einem Anfall Mitmenschen gefährdet. Epileptiker dürfen in der Regel nicht Auto fahren, und viele Sportarten sind für sie tabu. Beispielsweise wäre beim Schwimmen die Gefahr zu groß, während eines Anfalls zu ertrinken.

„Das sind sehr starke Beeinträchtigungen“, findet Andreas Schulze-Bonhage, Epileptologe vom Neurozentrum der Universitätsklinik Freiburg. „Wenn man ein Warnsystem für Anfälle hätte, könnten die Patienten ihr Leben anders gestalten. Sie könnten sich aus der Öffentlichkeit oder aus gefährlichen Situationen rechtzeitig zurückziehen und gezielt Medikamente einnehmen, um den Anfall zu unterdrücken. Das wäre eine Revolution der Therapie.“

Dieser Vision hat sich nicht nur der Freiburger Mediziner verschrieben. Etwa zwanzig Teams weltweit wollen anhand der Hirnströme die Krampfanfälle vorhersagen. Das Prinzip: Die Nervenzellen im Gehirn feuern bei einer Epilepsie in weiten Bereichen synchron, im gleichen Rhythmus. Dies verhindert eine normale Verarbeitung von Informationen, weshalb die Betroffenen ihre Bewegungen nicht mehr koordinieren können. Da dieser Gleichklang der Neuronen schon vor dem Anfall einsetzt, fahnden Mathematiker und Physiker mit Computerprogrammen unter anderem nach diesem Muster in den Hirnstromdaten.

Auf diese Weise lassen sich 60 bis 80 Prozent der Anfälle im Voraus erkennen, berichtet Schulze-Bonhage. Allerdings liegt dann die Zahl der falschen Vorhersagen bei ein bis zwei pro Tag. „Die Verfahren sind im Moment noch nicht gut genug, um sie für Patienten zu nutzen“, betont Christian Elger vom Interdisziplinären Zentrum für Komplexe Systeme der Universität Bonn. „Wir sind von der Patientenanwendung vier, fünf Jahre entfernt.“

Anzeige

Der Grund für die Fehleranfälligkeit der Vorhersagen ist, dass nicht jedes Muster in den Hirnstromdaten, das scheinbar auf einen sich anbahnenden Anfall hindeutet, letztlich auch auf einen solchen zurückgeht. Das Gehirn kann urplötzlich, ausgelöst durch minimale Effekte, von einem gesunden in einen krankhaften Zustand hinüberrutschen und umgekehrt. „Es ist wie der Flügelschlag eines Schmetterlings am Amazonas, der einen Taifun in Hongkong verursacht“, veranschaulicht Elger. Physiker sprechen von einem nichtlinearen System.

Sobald der Geist ermüdet oder in den Schlaf sinkt, spielen sich oft sogar ähnliche Vorgänge im Gehirn ab wie vor einem epileptischen Anfall – die Neuronen feuern ebenfalls synchron. Dadurch könnte es passieren, dass die Patienten vor dem Einschlafen fälschlich vor einem Anfall gewarnt werden.

Gegenwärtig werden die Hirnstrom-Aufzeichnungen vor einem chirurgischen Eingriff bei Patienten mit schwerer Epilepsie gewonnen. Ihnen werden hundert Elektroden in verschiedene Hirnareale gesetzt. Sieben bis zehn Tage liefern diese Sonden Messwerte. Je nach Patient ereignen sich in dem Zeitraum typischerweise eine Handvoll bis hundert Anfälle. So wird der Herd der Epilepsie ermittelt, der später in der Operation entfernt wird. Zudem verwenden Christian Egler und seine Fachkollegen diese Daten, um darin nachträglich nach Mustern für eine Anfallsvorhersage zu suchen. Die Patienten werden dabei nicht mit dem Ergebnis der Analyse konfrontiert.

Ab 2010 plant Schulze-Bonhage allerdings eine europaweite Studie, in der er den Patienten erstmals das Ergebnis der Vorhersage mitteilen will. Ein Arzt soll die Probanden eine bis eine halbe Stunde vor einem Anfall warnen, während diese rund um die Uhr ambulant betreut werden. „Man darf natürlich nicht leichtfertig ins Gehirn eingreifen“, mahnt sein Universitätskollege Jens Timmer vom Freiburger Zentrum für Datenanalyse und Modellbildung.

Eines Tages sollen die Elektroden im Gehirn durch ein fest implantiertes Alarmsystem ersetzt werden. Dieses Hirnimplantat soll den Anfall etwa eine Stunde vorher registrieren und dann automatisch akut wirksame Medikamente im betroffenen Areal freisetzen, die den Anfall unterdrücken. Dazu muss Epilepsiewarngerät besonders dicht sein, damit die Arzneien nicht unbeabsichtigt heraussickern. Außerdem müsse es entsprechend miniaturisiert werden. „Das wäre ein geschlossener Regelkreis. Wenn das Medikament nur im Gehirn abgegeben wird, wären die Nebenwirkungen geringer als heutzutage“, wirbt Schulze-Bonhage für seine Idee. Er schmiedet bereits Pläne mit Medizintechnikern seiner Universität.

ddp/wissenschaft.de – Susanne Donner
Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

He|spe|ri|din  auch:  Hes|pe|ri|din  〈n. 11; Biochem.〉 Glykosid aus den Fruchtschalen unreifer Orangen, pharmakolog. in Venen– u. Grippemitteln verwendet … mehr

ap|te|ry|got  〈Adj.; Zool.〉 flügellos [<grch. a … mehr

Mu|tis|mus  〈m.; –; unz.; Psych.〉 bei seelischen Störungen auftretende Sprachlosigkeit, obwohl organisch keine Behinderung vorliegt [zu lat. mutus … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige