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Wie das Gehirn moralische Entscheidungen trifft

Allgemein

Wie das Gehirn moralische Entscheidungen trifft
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Moralische Entscheidungen basieren auf Verstand und Gefühl, zeigen Hirnscans. Bild: Fastfission, wikipedia.org
Manche Situationen stürzen Menschen in moralische Dilemmas: Sollen sie etwa ein Leben opfern, um fünf andere zu retten? Wie sie sich entscheiden, hängt nicht nur vom Verstand ab, konnten Hirnforscher jetzt mit Hilfe von Menschen mit Hirnverletzungen zeigen: Auch die Emotionen spielen eine wesentliche Rolle. Dabei sind Gefühle und Vernunft Partner, nicht Gegner.

Es gibt Situationen, die stürzen einen bereits beim bloßen Gedanken daran in ein moralisches Dilemma. Was würden man zum Bespiel tun, wenn eine Straßenbahn außer Kontrolle einen Berg herunterrast und fünf Menschen vor dem Wagen auf den Gleisen stehen? Und wenn es möglich wäre, eine Weiche umzustellen, dabei jedoch eine Person auf dem Nachbargleis ums Leben käme –¬ sollte man die Weiche umstellen? Oder dürfte man einen dicken Mann auf die Schienen stoßen, so dass er den rasenden Zug aufhält?

Keine Frage: Legt man eine Art ethische Kosten-Nutzen-Rechnung zugrunde, wären beide Aktionen besser als einfach abzuwarten. Umfragen ergaben allerdings, dass die beiden Alternativen für die meisten trotz derselben 5-zu-1-Abwägung nicht gleichwertig sind. So würde es der Mehrheit leichter fallen, die Weiche umzustellen als einen Unbeteiligten in den sicheren Tod zu schubsen, schreibt das Magazin „bild der wissenschaft“ in seiner Januar-Ausgabe. Doch woran liegt das? Warum fällt die Vorstellung, den Tod eines Menschen sozusagen als notwendiges Übel in Kauf zu nehmen, leichter als die, ihn als Mittel zum Zweck zu benutzen?

Die entscheidende Rolle bei solchen Entscheidungen spielen die Gefühle, werden viele wohl rein intuitiv antworten. Und genau das ist mittlerweile auch durch eine Reihe von Hirnscans belegt, in denen US-Forscher um Joshua Green aus Princeton die Gehirnaktivität von Freiwilligen überwachten, während diese sich verschiedene Situationen vorstellten. Immer dann, wenn die Probanden an ein sogenanntes persönliches moralisches Dilemma dachten – wie etwa das Straßenbahn-Beispiel –werden in ihrem Gehirn Areale aktiv, die Emotionen erzeugen und verarbeiten.

Noch genauer eingrenzen lässt sich der für derartige moralische Entscheidungen zuständige Bereich, wenn man Menschen mit Hirnschädigungen untersucht, wie es zwei Forscherteams um Michael Koenigs von der University of Iowa und Elisa Ciaramelli aus Toronto tun. Besonders im Fokus der Wissenschaftler steht dabei das mittlere untere Stirnhirn, auch VMPFC genannt. Es liegt über den Augen und verarbeitet beziehungsweise emotionale Reaktionen.

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Wie wichtig der VMPFC ist, sieht man beispielsweise daran, dass sich die Persönlichkeit von Menschen mit einer Verletzung des Stirnhirns zum Teil dramatisch verändert: Sie neigen zu Gefühlsarmut, Mangel an Einfühlungsvermögen, zeigen kaum noch Mitleid, Scham oder Schuldgefühle und tendieren dazu, soziale Normen zu missachten. Viele fallen zudem durch Wutausbrüche, riskante Handlungen und Finanzgeschäfte sowie kriminelle Akte auf. Auch ihre Entscheidungsfähigkeit ist beeinträchtigt, vor allem dann, wenn es um komplexe Situationen geht, in denen das „Bauchgefühl“ eine wichtige Rolle spielt. Rein logische Zusammenhänge können sie dagegen ebenso gut beurteilen wie Gesunde.

Auf das Straßenbahn-Dilemma oder ähnliche Situationen reagieren solche Menschen allerdings vollkommen anders als der Durchschnitt – sie würden bedenkenlos den dicken Passanten opfern, konnten Koenigs und Ciaramelli nachweisen. Für die Forscher ist das ein wichtiger Beweis dafür, dass Emotionen eine Schlüsselrolle bei moralischen Entscheidungen spielen, berichtet „bild der wissenschaft“.

Was die Sache jedoch verkompliziert, ist die Entdeckung, dass der VMPFC nicht der einzige Verantwortliche für emotionale Reaktionen ist. Denn genau die Menschen, die das Straßenbahn-Problem vollkommen kühl und logisch angehen, werden emotional, wenn sie sich unfair behandelt fühlen. Das zeigt ein Spiel, in dem zwei Teilnehmer Geldbeträge untereinander aufteilen und mit dem solche Situationen typischerweise simuliert werden. Dabei kommt es immer wieder vor, dass einer der beiden Mitspieler auf sein Geld verzichtet – vor allem dann, wenn der andere ihm nur einen kleinen Betrag zugesteht und sich selbst am großen Batzen bedient.

Interessanterweise ist dieses Verhalten besonders häufig bei Mitspielern mit verletztem VMPFC zu beobachten: Ihre emotionale Motivation, resultierend aus einem Gefühl von Frustration und Unfairness, ist stärker, und sie akzeptieren die niedrigen Beträge mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nicht. Genau umgekehrt ist es bei Menschen, bei denen ein anderer Teil des Stirnhirns mit Hilfe starker Magnetimpulse vorübergehend ausgeschaltet wird: Sie sind sich zwar der Ungerechtigkeit vollkommen bewusst, nehmen aber auch sehr niedrige Angebote im Spiel an. In beiden Fällen scheint der normale Konflikt zwischen dem Egoismus und dem Gerechtigkeitsempfinden, den das Gehirn in solchen Situationen austrägt, zu entfallen, allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Insgesamt zeigen diese Ergebnisse vor allem eines: Eine moralische Entscheidung zu fällen, ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Sie basiert sowohl auf Intuition und Emotionen als auch auf der Fähigkeit zum rationalen Denken, schließlich werden manche Entscheidungen bewusst gegen das eigene Gefühl getroffen. Für den ersten Teil unverzichtbar ist der VMPFC – wo die anderen entscheidenden Hirnregionen liegen, muss sich in weiteren Studien noch herausstellen.

===Rüdiger Vaas: „Wie das Gehirn sein Urteil fällt“ in: bild der wissenschaft 1/2008, S. 88 ddp/wissenschaft.de – ===Rüdiger Vaas
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