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Nicht immer gleich operieren!

Gesundheit|Medizin

Nicht immer gleich operieren!
Der Schmerztherapeut Dominik Irnich ist überzeugt: Wie ein Patient mit seinen Rückenproblemen umgeht, entscheidet darüber, ob er sie wieder los wird.

Früher galten Rückenschmerzen als Alterskrankheit, heute leiden auch immer mehr Kinder und Jugendliche darunter. Warum, Herr Dr. Irnich?

Bei Kindern und Jugendlichen werden sie oft Bewegungsmangel zugeschrieben – aber das ist reine Spekulation. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es wahrscheinlicher, dass Leistungsdruck, Überlastung und mangelnder „Rückhalt“ die Hauptursachen für die Zunahme von Rückenschmerzen in der Bevölkerung sind. In der Regel entwickeln sich chronische Rückenschmerzen nicht aus einem einzigen Grund. Meist sind es verschiedene Dinge, die zusammenkommen.

In welchen Formen tritt der Schmerz auf?

Es gibt insgesamt über 150 Diagnosen, die das Symptom Rückenschmerz beinhalten. Die Schmerzen können akut sein und bald wieder verschwinden oder den Patienten viele Jahre lang quälen. Bei der Entstehung solcher chronischen Schmerzen spielen psychosoziale Faktoren eine entscheidende Rolle.

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Welche Faktoren sind das zum Beispiel?

An erster Stelle sind es Probleme am Arbeitsplatz wie Unzufriedenheit, mangelnde Anerkennung sowie Über- oder Unterforderung. Schlecht verarbeitete Emotionen wie Wut und Ärger, Angst und Depression, der Wunsch nach Zuwendung und vieles mehr können zur Chronifizierung des Schmerzes beitragen. Sie können aus dem Alltagsereignis „akuter Rückenschmerz“ – das statistisch gesehen fast jeden Menschen ab 40 einmal jährlich betrifft – ein langwieriges Problem machen. Manche Patienten katastrophisieren ihren Zustand, andere halten rigide durch, ohne ihre Überlastung zu beachten. Beides ist ungünstig für den weiteren Verlauf. Auch familiäre Belastungen können das Risiko für chronische Rückenschmerzen erhöhen. Im Volksmund heißt es treffend „jemandem das Rückgrat brechen“ oder „jemand hat schwer zu tragen“. Im Einzelfall ist es schwer zu sagen, was genau der Grund für die Schmerzen ist. Die vorherrschende Meinung der Experten ist, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren gemeinsam zur Chronifizierung des Schmerzes führen.

Was läuft im Körper ab, wenn Rückenschmerzen chronisch werden?

Es entsteht ein sogenanntes Schmerzgedächtnis. Tritt ein akuter Schmerz auf, kann der Körper mit einer Sensibilisierung reagieren. Im betroffenen Gewebe und im zentralen Nervensystem finden dann Umbauprozesse statt, es werden Nervenverbindungen geknüpft und neue Rezeptoren gebildet. Die Erregbarkeitsschwelle sinkt, wodurch die Schmerzverarbeitung durchgängiger wird. Man empfindet also leichter Schmerzen. Mediziner sprechen hier von neuronaler Plastizität. Natürlich gibt es auch hemmende Prozesse, die dem entgegenwirken. Doch offenbar sind sie bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen nicht ausreichend wirksam. Warum das so ist, wissen wir nicht.

Wer beim Gedanken an seine Schwieger-mutter Rückenschmerzen bekommt, hört oft, er würde sich sein Leiden nur einbilden. Was ist dran an derartigen Vorwürfen?

Eingebildete Schmerzen gibt es nicht. Die Schwiegermutter fungiert als Verstärker, das heißt: In Situationen, in denen ich mich unwohl fühle, dringt ein Schmerz- signal viel leichter ins Bewusstsein, als wenn es mir gut geht. Daraufhin findet ein Lernprozess statt. Der im Gedächtnis gespeicherte Zusammenhang zwischen Schwiegermutter und Schmerz verselbstständigt sich. Und irgendwann löst der bloße Gedanke an die Schwiegermutter Schmerzen aus. Der Rückenschmerz dient dann dazu, ein unbewusstes Ziel zu erreichen – etwa dem wöchentlichen Kaffeekränzchen mit der Schwiegermutter aus dem Weg zu gehen.

Kann man das Schmerzgedächtnis löschen?

Nein. Aber mit Akupunktur kann eine Rückbildung erfolgen, wie erste Studien zeigen. Und man kann das Schmerzgedächtnis überschreiben.

Wie geht das?

Indem man seinem Zustand eine neue Bedeutung gibt. Ein gutes Beispiel ist Bewegung: Die meisten Patienten haben Angst, sich zu bewegen, weil ihnen das Schmerzen bereitet. Doch Bewegung ist eine der wichtigsten Therapien bei Rückenschmerzen. Wir bieten zum Beispiel „Spielend bewegen“-Kurse an, in denen die Patienten unterschiedliche Bewegungen spielerisch durchführen. Wenn die Bewegung Spaß macht, vergessen sie ihre Angst – und haben auch keine Schmerzen. Mit der Zeit lernen sie, dass Bewegung nicht immer Schmerzen zur Folge hat. Sie lernen, Bewegung mit etwas Positivem zu verknüpfen, etwa der Freude am Basketballspielen.

Man muss also versuchen, möglichst viele positive Erfahrungen zu sammeln, wenn man seine Beschwerden in den Griff bekommen will?

Ja. Das geht zum Beispiel auch mit meditativen Bewegungstherapien wie Yoga und Qigong, Akupunktur oder Meditation. Zusammen mit seinem Arzt muss der Patient herausfinden, was bei ihm wirkt.

Das klingt gar nicht so schwer. Warum werden viele Patienten ihre Rückenschmerzen trotzdem nicht los?

Dafür gibt es drei wesentliche Gründe. Zunächst einmal ist es noch nicht gelungen, eine isolierte Ursache für Rückenschmerzen auf der körperlichen Ebene klar zu benennen. Dies gilt für über 90 Prozent der Rückenschmerzen. Meist ist das funktionelle Zusammenspiel zwischen Muskeln, Knochen, Bandscheiben, Sehnen, Bändern und Kapseln auf irgendeine Weise gestört. Wir können diese Störung aber nicht objektivieren. Das erschwert die Therapie immens. Daneben gibt es die Patienten- und die Arztseite. Patienten haben oft eine zu hohe Anspruchshaltung an das, was die Medizin leisten kann. Sie glauben, wenn sie zum Arzt gehen, repariert der ihren Rücken wie ein Auto. Sie wollen nicht wahrhaben, dass der Rückenschmerz ein Signal ist, das auch mit ihrer Einstellung zu sich selbst zu tun hat. Oder mit der Einstellung zu ihrer Schwiegermutter.

Was machen die Ärzte falsch?

Sie untersuchen ihre Patienten oft nicht, sondern veranlassen gleich eine Kernspin-Aufnahme. Die Bildgebung ist heute so gut, dass ein Arzt immer irgendetwas findet. Das bringt er dann oft mit den Rückenschmerzen in Zusammenhang und erklärt die Wirbelsäule für „kaputt“. Doch wissenschaftliche Untersu- chungen zeigen ganz klar: Oft gibt es keinen Zusammenhang zwischen Befund und Befinden. Oder der Befund erklärt das Befinden nur unzureichend. Doch der Patient glaubt, bei ihm sei etwas kaputt. Er lässt sich in den Rücken spritzen oder gar operieren. Und das ist der erste Schritt zur Chronifizierung, vor allem, wenn die Besserung nur von kurzer Dauer ist. Durch Spritzen und Operationen fixiert der Arzt seinen Patienten darauf, dass es eine rein körperliche Erklärung für die Rückenschmerzen gibt. Dadurch fühlt sich der Patient hilflos und er wird passiv. Eine große ungeklärte Frage ist, warum die Krankenkassen das überhaupt bezahlen.

Der Befund „Bandscheibenvorfall“ bedeutet also nicht, dass man krank ist?

Viele Menschen haben Bandscheibenvorfälle, ohne dass sie Beschwerden haben. Das gleiche gilt für im Kernspin festgestelltes Wirbelgleiten oder Abnutzungserscheinungen von Knorpeln und Knochen.

Sollte man einen Bandscheibenvorfall denn einfach ignorieren?

Nein, aber Bandscheibenprobleme sind nur selten die Ursache für Rückenschmerzen. Wer Schmerzen hat, sollte sich körperlich untersuchen lassen. Man kann bei jedem Patienten binnen zwei Minuten sehr gut einschätzen, ob ein relevanter Bandscheibenvorfall vorliegt – dazu sollte jeder Arzt in der Lage sein. Muskelschwäche oder gar Lähmungen, ein ausgeprägtes Taubheitsgefühl und in sehr seltenen Fällen eine Störung der Blasen- und Stuhlentleerung sind Symptome eines akuten Bandscheibenvorfalls. Das ist ein Notfall, und der Patient muss zügig operiert werden. Schmerzen alleine sind kein Grund für eine Operation an der Wirbelsäule.

Wird denn viel unnötig operiert?

Ja, das belegen die Zahlen. Aktuell landen viele Patienten mit einem Wirbelgleiten als angebliche Schmerzursache auf dem OP-Tisch. Bei ihnen sind die Wirbelkörper im Bereich der Lendenwirbelsäule etwas gegeneinander verschoben. Das kann ein Normalbefund ohne Krankheitswert sein, wird aber gerne als instabile Wirbelsäule gedeutet, die operativ mit Schrauben und Metall stabilisiert werden müsse. Eine junge Frau kam zu mir, weil ein Kollege im Kernspintomografen ein Wirbelgleiten diagnostiziert hatte. Er hatte der Patientin dazu geraten, ihre Wirbelsäule stabilisieren zu lassen, falls sie irgendwann Kinder haben möchte. Ihr Becken würde eine Geburt sonst nicht aushalten. Wirbelgleiten kann man im Kernspin aber gar nicht feststellen, weil es ein dynamischer Prozess ist. Man muss körperlich untersuchen und Röntgenaufnahmen in Vor- und Rückbeugung machen. Es stellte sich heraus, dass die Patientin ganz normale Rückenschmerzen hatte, die vorwiegend muskulär bedingt waren. Wir haben ihre Triggerpunkte behandelt, dann war sie schmerzfrei.

Welche Patienten kommen zu Ihnen?

Zu uns kommen Patienten mit jeder Art von Schmerzen. Sie werden oft von ihrem Haus- oder Facharzt überwiesen. Zunächst bekommen sie einen Fragebogen, und wir holen Informationen zu den Vorbefunden ein. Dann findet eine Eingangsuntersuchung statt, das interdisziplinäre Assessment, vorgenommen von einem Anästhesisten, einem physikalischen Mediziner und einem Psychotherapeuten, die alle spezialisiert auf Schmerzmedizin sind. Nach einer Teambesprechung machen wir einen Therapievorschlag. Dieser kann sein: Sie brauchen keine Therapie, bei Ihren Rückenschmerzen handelt es sich um ein Alltagsphänomen, das von alleine verschwinden wird. Häufiger geben wir aber eine Therapieempfehlung.

Wie verläuft eine Therapie?

Finden wir einen einfachen Grund für den Schmerz, so gehen wir diesen ursächlich an. Für die häufigen komplexen Schmerzen gibt es bei uns ein interdisziplinäres Behandlungskonzept mit drei Stufen, das mit einem vierwöchigen Intensivprogramm beginnt. Hier informieren wir die Patienten gründlich über die Ursachen von Rückenschmerzen, die sachgemäße Anwendung von Medikamenten und über die Zusammenhänge des Schmerzerlebens mit Stress, im Beruf, in Beziehungen und in der Freizeit. Sie lernen auch, eigenständig etwas gegen den Schmerz zu tun, etwa Wickel und Auflagen anzulegen. Außerdem gibt es einen Therapieblock, unter anderem mit Physiotherapie und Akupunktur. Dazu kommen Bewegungsübungen. Die Patienten machen Qigong und Meditation, Kreativ- und Kunsttherapie, Rhythmik und Atemtherapie. Nach vier Wochen wissen sie, was ihnen gut tut, und sie haben viel über sich und den Schmerz gelernt – und auch, wie sie ihn beherrschen können.

Wie geht es dann weiter?

Während der zweiten Stufe vertiefen und verfestigen die Patienten die als positiv empfundenen Methoden innerhalb offener Therapiegruppen. Offene Gruppe bedeutet: Es besteht die Möglichkeit zur Teilnahme zum geringen Selbstkostenpreis. Die dritte und letzte Stufe ist die Langzeitbegleitung. Wir bieten Vorträge und Seminare an, die allesamt gebührenfrei sind. Und es gibt Selbst- hilfegruppen, in denen die Patienten ihre Erfahrungen austauschen können.

Wie dokumentieren Sie den Erfolg Ihrer Behandlungen?

Wir begleiten unser Konzept wissenschaftlich, indem wir Lebensqualität, Depressivität, Stressverarbeitung, Körperwahrnehmung, Aktivität und Berufsleben der Patienten verfolgen.

Bei all dem fragt man sich: Haben Schmerzen nicht einen Sinn?

Akuter Schmerz warnt uns zum Beispiel vor einer zu heißen Herdplatte. Chronischer Schmerz ist nicht so einfach zu erklären. Man könnte fast meinen, der Schmerz habe seine ursprüngliche Funktion verloren. Doch manchmal gibt es – oft unbewusste – Ziele, die dem Rückenschmerz einen gewissen Sinn geben. Das können seelische Verletzungen sein oder auch einfach die kleinen Probleme des Alltags. Es gibt Patienten, die nicht mehr ins Büro gehen können, weil ihr Rücken so stark schmerzt. Vielleicht ist das eine unbewusste Reaktion, um Ärger mit den Kollegen zu vermeiden oder um beruflicher Überlastung aus dem Weg zu gehen. •

Das Gespräch führte Claudia Christine Wolf

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

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Wissenschaftslexikon

Floh  〈m. 1u〉 1 〈Zool.〉 Angehöriger einer Ordnung der Insekten, flügelloses, bis 3 mm langes, seitl. abgeplattetes Insekt mit kräftigen Sprungbeinen u. stechend–saugenden Mundwerkzeugen, lebt als Außenparasit blutsaugend auf Vögeln u. Säugetieren: Aphaniptera, Siphonaptera 2 〈Pl.; fig.; umg.〉 Flöhe Geld … mehr

♦ mi|kro|elek|tro|nisch  auch:  mi|kro|elekt|ro|nisch  〈Adj.〉 zur Mikroelektronik gehörend, auf ihr beruhend … mehr

He|xen|schuss  〈m. 1u; unz.〉 plötzlicher, die Bewegung einschränkender od. aufhebender Schmerz in der Lendengegend infolge Muskelrheumatismus od. Bandscheibenvorfall; Sy Lumbago ( … mehr

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