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Fluch der Evolution

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Fluch der Evolution
Sind schmerzhafte Rückenprobleme der Preis, den wir für den aufrechten Gang zahlen? Das ist nur die halbe Wahrheit, sagen Evolutionsforscher.

Wenn ein Ingenieur beauftragt worden wäre, den menschlichen Körper zu konstruieren, dann hätte er diese Aufgabe niemals so gelöst wie die Natur“, sagt Bruce Latimer. Und das meint er ganz und gar nicht als Kompliment an die biologische Evolution.

Der Direktor des Center for Human Origins an der Case-Western-Universität in Cleveland/Ohio befasst sich mit der Entwicklung des menschlichen Bewegungsapparats. Homo sapiens habe sich dabei eine Menge Rückenprobleme eingehandelt. Vor allem mit der Wirbelsäule des Menschen ging der Anthropologe unlängst auf einer Tagung der American Association for the Advancement of Science hart ins Gericht: „Wir sind die einzigen Säugetiere, die aufrecht auf zwei Beinen gehen, und wir sind ebenfalls die einzigen, bei denen es zu spontanen Brüchen der Wirbelkörper kommt.“

Als Mitglied eines Teams um die Anatomin Meghan M. Cotter hat Latimer 2011 in einer großen Studie die Bruchanfälligkeit des achten Brustwirbels untersucht, an Skeletten von Menschen, Frühmenschen und Affen. Der achte Brustwirbel ist bei Menschen, die an Osteoporose (Knochenschwund) leiden, so etwas wie die Sollbruchstelle: in der Regel der erste Wirbel, der – innerlich porös geworden – in sich zusammensackt.

Das wichtigste Ergebnis der Studie zeigt die Sonderstellung der Homininen. Das ist die Gattungsgruppe („Tribus“), die sowohl Homo sapiens, den heute lebenden Menschen, als auch die ausgestorbenen Vorläufer der Gattung Homo umfasst. Im Vergleich zu Affen haben die Homininen generell größere, dünnwandigere und innen deutlich porösere Wirbelknochen. Das war eine vorteilhafte Anpassung, um die beim zweibeinigen Gehen, Lastentragen und Laufen unvermeidlichen Stöße abzufedern.

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Doch wie CT-Scans und Computermodelle der Wirbel zeigen, wird dieser vergleichsweise leichtere Bau zum Nachteil, sobald der Knochen altersbedingt Substanz abbaut. Latimer fand typische Osteoporose-Brüche und -Risse bei den menschlichen Wirbeln, aber keine derartigen Schäden bei den auf allen Vieren gehenden Affen.

„Das Design eines Homininen-Körpers ist für rund 40 Jahre Lebensdauer ausgelegt“, deutet Latimer seinen Befund. Bis dahin findet normalerweise kein nennenswerter Knochenabbau statt. Doch inzwischen werden Menschen in den Industrieländern etwa doppelt so alt, da macht sich bei vielen eine Osteoporose bemerkbar. Nach einer Hochrechnung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK in Berlin waren 2013 rund 2,75 Millionen Patienten in Deutschland deswegen in Behandlung.

Rutschende Wirbel, reißende Bandscheiben

Aber nicht nur Wirbelbrüche machen Ärger. „Es gibt zahlreiche weitere Rückenprobleme, die ausschließlich bei unserer Spezies auftreten“, betont der Anthropologe. Im Einzelnen sind das:

· Spondylolyse – die schmerzhafte Unterbrechung des Bereichs zwischen oberem und unterem Gelenkfortsatz des Wirbels (siehe Grafik auf S. 27, „Hier kracht es im Gebälk“). Patientenzahl in Deutschland 2013: fast 130 000.

· Spondylolisthesis – das „Wirbelgleiten“, wodurch die Nerven im Wirbelkanal zwischen zwei Wirbeln eingeklemmt werden können. Patientenzahl in Deutschland: geschätzt 775 000.

· Kyphose – die Krümmung der Wirbelsäule zum Rundrücken („ Buckel“),

· Skoliose – die seitliche Krümmung der Wirbelsäule, was extreme Beschwerden verursachen kann,

· Bandscheibenvorfall – aus einer gerissenen Bandscheibe zwischen zwei Wirbeln quillt gallertiges Material und drückt auf die Nerven im Rückenmarkskanal. Schätzungsweise 7,4 Prozent aller Deutschen waren deswegen 2013 in ärztlicher Behandlung, das sind 6 Millionen Menschen.

Bei Bandscheibenvorfällen ist der Zusammenhang mit dem aufrechten Gang offenkundig. Um beim Gehen den Körper zu stabilisieren, schwingen die Arme jeweils in Gegenrichtung der Beinbewegung. Daraus resultiert bei jedem Schritt, den ein Zweibeiner tut, eine innere Dreh- bewegung in Brust- und Lendenwirbelsäule. „Nach vielen Millionen solcher Drehungen beginnen die Bandscheiben zwischen den Wirbeln zu verschleißen und einzureißen“, erklärt Latimer. „Auf diese Weise entstehen unweigerlich Bandscheibenvorfälle.“

Warum haben die Homininen sich all diese Schwierigkeiten eingebrockt? Warum gehen wir überhaupt auf zwei Beinen? „Das ist eine der ersten Fragen, die zum Ursprung des Menschen gestellt wird, und sie ist eine von denen, die sich am schwersten beantworten lässt“, sagt die Anatomin Carol Ward.

Ward lehrt am Department of Pathology and Anatomical Sciences der Universität von Missouri. Ihre Spezialität ist die Evolution des Oberkörpers. Dazu hat sie sich intensiv mit den Millionen Jahre alten Fossilien früher Homininen beschäftigt – den Angehörigen jener Linien, die in die Entstehung der Gattung Homo mündeten. Neue Funde hätten gezeigt, dass der Übergang von der äffischen zur menschlichen Fortbewegung ganz unspektakulär verlaufen sei, erklärt die Wissenschaftlerin.

„Unsere affenähnlichen Ahnen lebten anscheinend kletternd und unter Ästen hängend in Bäumen“, sagt Ward. „Ihren Körper hielten sie dabei aufrecht.“ Das belegen die sehr stabilen fossilen Lendenwirbel der damaligen Vorfahren von Menschen und Menschenaffen. Gegen Ende des Erdzeitalters Miozän, vor rund 10 Millionen Jahren, kühlte sich weltweit das Klima ab und wurde trockener. Die tropischen Regenwälder Afrikas schrumpften und verwandelten sich vor etwa 8 Millionen Jahren an den Rändern in offene Savanne mit einzelnen Baumgruppen. „Nun mussten die bisherigen Baumbewohner bei der Nahrungssuche zwangsläufig öfters auf den Boden. Und dabei bewegten sie sich nicht anders als in den Bäumen: aufrecht.“ Die Homininen folgten schlicht ihrem anatomisch vorgegebenen Bewegungsmuster.

Danach gabelte sich die Entwicklung. Einige suchten in dem sich zurückziehenden Regenwald weiterhin ihre Nahrung. Diese Vorläufer der heutigen Schimpansen und Gorillas aßen neben Blattwerk und Kräutern auch Früchte, die meist an den dünnen Enden der Zweige wuchsen. Dazu entwickelten diese Waldbewohner ihre spezielle Anatomie mit langen, hakenartigen Händen und einem kurzen, steifen Rumpf mit gerader Wirbelsäule. Das war vorteilhaft, um auf einem Ast sitzend nach Früchten zu angeln – aber es hinderte sie daran, den Rücken zu krümmen. Mehr als ein paar Schritte steifrückig aufrecht zu gehen, ist mit dieser Anatomie nicht drin. Daher bewegen sich sowohl Schimpansen als auch Gorillas am Boden auf allen Vieren.

„Die bessere Frage als ,Warum gehen wir Menschen zweibeinig?‘ wäre demnach: ,Warum haben wir uns nicht auf alle Viere niedergelassen?‘“, rückt Carol Ward die Dinge zurecht. Der entscheidende evolutionäre Trick war die Entwicklung einer zweifach zu einem Doppel-S gekrümmten Wirbelsäule: Hals- und Lendenwirbelsäule wölben sich zur Körperinnenseite (Fachwort: Lordose), Brustwirbelsäule und Kreuzbein dagegen zur Körper- außenseite (Kyphose).

Ein inneres Korsett stützt die Wirbelsäule

Das federt Stöße beim Gehen, Tragen und Rennen ab und erlaubt uns, Rumpf und Kopf aufrecht über dem Körperschwerpunkt und über den Füßen zu balancieren. Ein Korsett aus Muskelfasern und Bändern gibt dem Aufbau Halt. Bei Neugeborenen ist die Wirbelsäule noch gerade – erst wenn das Kleinkind zu laufen beginnt, krümmt sich seine Wirbelsäule während der folgenden Wachstumsphase allmählich zum Doppel-S.

Weitere evolutionäre Anpassungen in Richtung auf dauerhaft zweibeinige Fortbewegung begleiteten die Wirbelsäulenkrümmung:

· Der Verlust der beweglichen Füße mit großer Greifzehe zugunsten steifer, nach oben gewölbter Füße,

· ein leichter Winkel in den Knien („X-Beinigkeit“) Richtung Körperschwerpunkt,

· Hüftknochen mit nach oben gewölbten, zur Seite weisenden Beckenschaufeln, um die Eingeweide von unten zu stützen und außen den Ansatz zu kräftiger Gesäß- und Beinmuskulatur zu bieten.

„Der Erste, an dessen fossilen Knochen wir ablesen können, dass er sich zeitweise zweibeinig am Boden fortbewegt haben könnte, ist Ardipithecus, der vor 4,4 Millionen Jahren lebte“, erklärt Ward. „Die vormenschlichen Australopithecinen – mit Australopithecus anamensis vor 4,2 Millionen Jahren als erster Art – waren bereits völlig an das Leben am Boden auf zwei Beinen angepasst.“

Und die Gattung Homo, die vor 2,5 Millionen Jahren als Savannen-Dauerläufer auf die Bühne trat, ist seitdem zu Rückenschmerzen verurteilt, bis zum heutigen Tag? Das will Carol Ward so nicht stehen lassen. Die Probleme durch die Krümmungen unserer Wirbelsäule seien in der Tat das Ergebnis unserer zweibeinigen Anatomie. „Aber“, mahnt sie, „zu einem erheblichen Teil ist unser moderner Lebensstil schuld, dass sie überhaupt zu Problemen werden. Wir sind lebenslang so wenig körperlich aktiv, dass unsere Skelettmuskulatur nicht mehr die nötigen Impulse erhält, um unserem Bauplan gemäß zu funktionieren.“

Das könne man durch eine Verhaltensänderung korrigieren, sagt Ward: regelmäßige körperliche Aktivität, Übergewicht vermeiden. Und als wichtigste Forderung: „Unbedingt die Kinder rausjagen und dafür sorgen, dass sie Sport treiben. Denn was wir als Heranwachsende tun, prägt uns fürs ganze Leben.“

Damit liegt sie auf derselben Linie wie Daniel Lieberman an der Harvard-Universität. Er will vom Gejammer über schmerzende Rücken als Menschenerbe nichts hören: „Das ergibt doch keinen Sinn!“ Wenn Rückenschmerzen ein grundsätzliches Manko des Homininen-Bauplans wären, begründet der Evolutionsbiologe, „wäre doch längst die natürliche Selektion in Aktion getreten, um Häufigkeit und Schwere zu mindern“. Auch das Problem der Schwangerschaft bei aufrecht gehenden Homininen sei schließlich durch evolutionäre Anpassung gelöst worden (siehe Kasten links „ Das stärkere Geschlecht“).

Und dann zückt der Harvard-Forscher sein stärkstes Argument für die These, dass das moderne Leben als Couch-Potato die Wurzel der diversen Rückenprobleme ist: „Fragt man Leute, die sich wissenschaftlich mit Jäger-Sammler-Ethnien beschäftigen, dann sagen die einem: ,Ich habe dort nie jemanden getroffen, der über Rückenschmerzen klagte.‘“ •

von Thorwald Ewe

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♦ Die Buchstabenfolge zi|tr… kann in Fremdwörtern auch zit|r… getrennt werden.
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