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Hilfeschreie und Lockangebote aus dem Grünen

Erde|Umwelt

Hilfeschreie und Lockangebote aus dem Grünen
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Geraten Tabakpflanzen in Not, rufen sie mit Hilfe von Duftstoffen Alliierte zu Hilfe. Bild: William Rafti, wikipedia.org
Pflanzen können kommunizieren: Geraten sie in Not, rufen sie mit Hilfe von Duftstoffen Alliierte zu Hilfe. Gleichzeitig ergreifen sie spezielle, auf den Schädling zugeschnittene Abwehrmaßnahmen. Forscher aus Jena sind dabei, diese chemische Sprache zu entschlüsseln. In Zukunft könnte das möglicherweise dazu beitragen, Nutzpflanzen resistenter gegen Schädlinge zu machen.

Im Labor des Jenaer Max-Planck-Instituts für Chemische Ökologie werden Pflanzen gequält – mit Pinzetten, Rasierklingen, Scheren und seit kurzem auch mit einem kleinen Roboter, der die Kaubewegungen einer Raupe nachahmt. Dahinter stecken jedoch keine sadistischen Neigungen, sondern der Versuch, ein lange Zeit unbeachtetes Phänomen zu verstehen: die geheimen Hilferufe der Pflanzen.

Denn die grünen Lebewesen sind alles andere als stumm, berichtet das Magazin „bild der wissenschaft“ in seiner September-Ausgabe. Vielmehr steht ihnen ein ganzes Arsenal an chemischen Vokabeln zur Verfügung, mit dem sie Feinde abwehren und Hilfe herbeirufen können. Wie komplex dieses System ist, bekamen die Jenaer Forscher bei ihren Laborquälereien recht schnell zu spüren: Die Tabakpflanzen, die sie mit Rasierklinge und Co traktierten, reagierten nämlich überhaupt nicht auf die Verletzungen – offenbar weil sie erkannten, dass es sich beim Urheber nicht um einen Fressfeind handelte, sondern um das Pendant eines Hagelkorns oder eines Windstoßes, gegen das eine aufwendige Abwehrreaktion keinen Sinn hätte.

Anders sah es jedoch aus, als die Wissenschaftler einen Roboter namens „MecWorm“ an ihren Pflanzen knabbern ließen. „MecWorm imitiert den Fraßvorgang eines Insekts über Stunden hinweg“, erläutert Wilhelm Boland, Chef des Instituts für Bioorganische Chemie. Und tatsächlich: Die Tabakpflanzen hielten die künstliche Raupe für eine echte Gefahr und warfen ihr Notprogramm an – allerdings noch in der Sparversion. Erst als die Forscher MecWorm zusätzlich mit Raupenspeichel versahen, ließen die Pflänzchen ihre Abwehrmaschinerie auf vollen Touren laufen.

Was dann folgt, ist ziemlich beeindruckend: Nach fünf bis zehn Minuten bewirkt die Kombination aus Speichel und Fraßrhythmus, dass im gesamten Blatt ein Hormon namens Jasmon ausgeschüttet wird. Das dient als internes Alarmsignal und löst seinerseits eine Reihe von chemischen Notfallreaktionen aus. Der erste dieser Hilfeschrei besteht aus sogenannten Grünen Blattduftstoffen, die aus der Wunde strömen und sich über den Wind kilometerweit verbreiten.

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Nach etwa einer Stunde werden dann die ersten Gene in der Pflanze umprogrammiert, und nach circa fünf Stunden kann die Produktion von Giftstoffen zur Abwehr anlaufen – vorausgesetzt, sie ist sinnvoll: Die Pflanze bildet nämlich nur dann giftige Substanzen, wenn diese den knabbernden Raupen auch etwas anhaben können. Erkennt eine Tabakpflanze jedoch beispielsweise den Speichel eines Tabakschwärmers, lässt sie die aufwendige Produktion gleich bleiben, denn dessen Raupen sind immun gegen das Nervengift Nikotin, mit dem die Pflanze sich sonst wehren würde.

Stattdessen bildet sie verdauungsstörende Eiweiße und einen ganzen Cocktail von Duftstoffen. Mit dem hat es eine ganz besondere Bewandtnis: Sie dienen dazu, Alliierte herbeizurufen. „An Ort und Stelle festgewachsen, mussten Pflanzen im Laufe der Evolution lernen, sich effektiv zu verteidigen“, erklärt der Jenaer Pflanzenforscher Ian Baldwin in „bild der wissenschaft“. „Doch warum selbst kämpfen, wenn es viel billiger und einfacher ist, das andere für einen erledigen zu lassen?“

‚Andere‘ sind beispielsweise parasitische Wespen, die ihre Eier im Körper von Raupen ablegen. Sie lernen schon relativ früh, welche Duftstoffe ihnen die Anwesenheit geeigneter Wirtsraupen auf bestimmten Pflanzen signalisieren, und eilen herbei, um sich die Gelegenheit zur Eiablage nicht entgehen zu lassen. Und genau das ist es, was die Pflanze im Sinn hat, denn die Wespenlarven fressen die Raupe von innen auf und machen sie so unschädlich.

Allerdings gibt es dabei ein Problem: Nicht nur die Wespen riechen die chemischen Hilferufe und können sie richtig interpretieren, auch die Feinde der Pflanzen sind dazu in der Lage. Dadurch bringen die auffälligen Duftspuren auch die pflanzlichen Nachbarn in Gefahr – die darauf allerdings ihrerseits mit verstärkten Abwehrmaßnahmen reagieren und beim ersten Anzeichen einer Gefahr bestimmte Gene hochregulieren.

Gelingt ihnen das nicht, haben sie schlechte Karten, haben die Jenaer Forscher in einer Wüste im US-Bundesstaat Utah gezeigt: Tabakpflanzen, die aufgrund einer genetischen Veränderung ihre Nachbarn nicht mehr verstehen, also deren Signale nicht mehr wahrnehmen konnten, waren nach wenigen Tagen ungleich mehr von Schädlingen befallen als ihre unveränderten Artgenossen. Das gleiche galt für solche Pflanzen, denen die Forscher die Möglichkeit zum Kommunizieren genommen hatten.

Besonders letzteres ist nicht nur für die Forschung interessant: Durch die extremen Züchtungen sind auch viele heutige Nutzpflanzen wie Tomaten und Baumwolle chemisch stumm und dadurch praktisch hilflos gegenüber Insekten geworden. Wenn der Mensch also lernt, die Pflanzensprache zu verstehen, kann er diesen Pflanzen möglicherweise wieder beibringen, zu kommunizieren – und so im Endeffekt den Einsatz von Pestiziden verringern, hofft Pflanzenforscher Baldwin.

Nadine Eckert: „Der stille Schrei“ in: bild der wissenschaft 9/2007, S. 14 ddp/wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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