In einer von ihm als “konservatives Grundszenario” bezeichneten Modellrechnung hat der Wissenschaftler ausschließlich bereits verfügbare Techniken und heutige Kosten zugrunde gelegt. Würde danach der beschriebene Kraftwerks- und Leitungspark über einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren aufgebaut, so beliefen sich die jährlichen Investitionskosten auf 77,5 Milliarden Euro. Das entspräche in etwa sechs Promille des Bruttoinlandsproduktes des gesamten Szenariogebietes im Jahr 2002. Eine Stromversorgung aus den genannten Energiequellen sei zu Kosten von 4,65 Cent pro Kilowattstunde (KWh) bei Übergabe in bestehende Netze möglich. Dieser Preis liege noch unter dem derzeit an den Strombörsen gehandelten.
Zwei Voraussetzungen allerdings müssen erfüllt sein, damit Czischs Rechnung aufgeht: Erstens muss ein großflächiges Netz für den Transport der elektrischen Energie geschaffen werden. Nur so könnten saisonale und zeitliche Schwankungen kostengünstiger regionaler Energiepotenziale ausgeglichen und Speicherkapazitäten von Wasserkraft und Biomasse nutzbar gemacht werden, erläutert der 43-Jährige. Zweitens muss für diese großflächige Versorgung auf eine Technik namens Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) zurückgegriffen werden. Bei dieser wird elektrische Energie mit Gleichstrom bei hohen Spannungen von 100 bis 1000 Kilovolt übertragen. Verlust, Kosten und Landschaftsverbrauch betragen bei einem Transport über weite Strecken nur etwa ein Drittel im Verhältnis zum gängigen Drehstrom.
“Die HGÜ ist dort wirtschaftlich, wo es um große Entfernungen geht”, bestätigt der Ingenieur Karl-Werner Kanngießer, langjähriger Mitarbeiter des Energiekonzerns Asea Brown Boveri (ABB), der selbst an einigen internationalen HGÜ-Projekten mitgewirkt hat und als Experte für das Verfahren gilt. Die HGÜ werde seit Jahrzehnten weltweit mit Erfolg eingesetzt, zum Beispiel für den Stromtransport von kanadischen Wasserkraftwerken in die Ballungsgebiete an der amerikanischen Ostküste. Um Czischs Konzept umzusetzen, müssten entsprechende Leitungen mit hoher Kapazität zum Beispiel von Nordafrika nach Europa gebaut werden. Dort könnte der Strom in das bestehende Drehstromnetz eingespeist werden. Kanngießer: “Das ist machbar und wird anderswo vielfach so praktiziert.”
Nach Überzeugung von Olav Hohmeyer, Professor für Energie- und Umweltmanagement an der Universität Flensburg und international in Sachen Klimaschutz aktiv, ist die Arbeit des Kasseler Wissenschaftlers richtungsweisend und zeige tatsächlich “einen realisierbaren Weg auf, innerhalb der nächsten Jahrzehnte das zentrale Problem des Klimawandels, unsere Emissionen von CO2 aus der Energienutzung, auf der Basis regenerativer Energien und eines neuen europäischen HGÜ-Netzes komplett zu lösen”. So wird in der Fachwelt auch weniger die Zuverlässigkeit von Czischs Analysen bezweifelt als vielmehr die politische Durchsetzbarkeit der Idee.
Gegenwind könnte hier sogar von Verfechtern erneuerbarer Energien kommen, die sich auf die Idee des “small is beautiful” verlegt haben, also auf möglichst kleinräumige, autarke Strukturen. Ihnen könnten die für Czischs Ansatz nötigen, weitumspannenden Stromnetze ein Dorn im Auge sein. Vertretern dieses Ansatzes widerspricht Hohmeyer: Sie würden verkennen, “dass eine rein dezentrale Lösung des Klimaproblems auf der Basis regenerativer Energiequellen nicht möglich ist.”