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Beerdigungsindustrie: Zypern schlägt Ägypten

Geschichte|Archäologie

Beerdigungsindustrie: Zypern schlägt Ägypten
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In der Nähe der Küste fanden die schottischen Archäologen die steinzeitliche Nekropole. Foto: PhotoCase.com
Lange galt der steinzeitliche Friedhof auf Zypern als uninteressant für Archäologen – bis schottische Forscher dort etwas Sensationelles entdeckten: Schon vor 5.500 Jahren und damit rund 1.000 Jahre früher als in Ägypten muss es auf der Insel eine regelrechte Beerdigungsindustrie mit einem ausgeprägten Totenkult gegeben haben. Dazu gehörten mindestens vier Bestattungsfelder, die auf dem Hügel über der Küste thronten, und eine ganze Reihe Rundhäuser, in denen wohl vor Ort die kostbaren Grabbeigaben gefertigt wurden.

Eigentlich hätte es die steinzeitlichen Skelette, die Statuen und die Ketten aus Muscheln auf dem Friedhofshügel im Südwesten Zyperns gar nicht geben dürfen – hieß es doch, alles Wertvolle sei schon längst Grabräubern zum Opfer gefallen und alle interessanten Erdschichten habe der Wind bereits davongetragen. Seitdem die Archäologin Diane Bolger von der Universität in Edinburgh allerdings zusammen mit ihrem Kollegen Edgar Peltenburg allen Unkenrufen zum Trotz das Gebiet genauer unter die Lupe nimmt, sind diese Stimmen verstummt, so spektakulär sind die Funde der Forscher.

So gibt es im Felsplateau oberhalb des verlassenen Dorfes Souskiou Schächte – manche davon bis zu drei Meter tief –, die schon in der Jungsteinzeit etwa um 3.500 vor Christus in den Kalkstein getrieben wurden, um darin Tote zu bestatten. Heute noch verraten die Spuren im Fels, dass die Menschen dazu Bohrer aus Hirschgeweih benutzten, berichtet das Magazin „bild der wissenschaft“ in seiner Februarausgabe. Und auch der Inhalt der Grabstätten ist heute noch erstaunlich ergiebig: Eine ganze Reihe von ihnen enthielt trotz der Plünderung Skelettreste, und in vielen Gräbern fanden die Forscher aufwändig gearbeitete Grabbeigaben wie Ketten aus Muscheln, an denen kleine Kreuze aus dem Mineral Pikrolith hingen.

Außerdem handelte sich bei dem Gräberfeld nicht wie bis dahin vermutet um einen einzelnen Friedhof, entdeckten die Archäologen bei ihrer Sondierung: Bis heute konnten sie vier Begräbnisstätten identifizieren, auf denen wohl Tausende von Menschen bestattet wurden. Allein im ersten Feld fanden die Forscher die Überreste von mehr als 300 Menschen, im zweiten waren es sogar über 1.000 – viel zu viele, als dass es sich um einen gewöhnlichen Dorffriedhof gehandelt haben könnte. Und damit begannen die Merkwürdigkeiten des Totenhügels erst. Eine weitere Eigentümlichkeit: Obwohl in der Jungsteinzeit die Kindersterblichkeit extrem hoch war, enthielt kein einziges der vielen Gräber ein Kinderskelett, stellten die Wissenschaftler verblüfft fest.

Schließlich entdeckten die Archäologen in der Nähe der Friedhöfe auch noch die Fundamente gemauerter Rundbauten. Ihre erste Idee – „Ein Dorf mehr“, wie Peltenburg es formuliert – mussten sie dabei schnell verwerfen, denn im Gegensatz zu praktisch allen anderen jungsteinzeitlichen Dörfern auf Zypern gab es unter den Rundhäusern keine Vertiefungen, in denen üblicherweise tote Familienangehörige bestattet wurden. Dafür fanden Peltenburg und Bolger jedoch ungewöhnlich viele aus Stein gefertigte Frauenstatuetten, oft in einer Kreuzform übereinandergelegt. Diese Figuren, wissen Forscher von bemalten Statuen aus jener Zeit, waren ein beliebter Schmuck der Zyprioten.

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Doch was machten diese Schmucksteine in Rundhäusern auf einem Hügel, hoch oben über der Küste und entgegen den steinzeitlichen Gewohnheiten weit weg von einem Fluss, gelegen in direkter Nachbarschaft eines überdimensional groß erscheinenden Friedhofs? Die Antwort auf diese Frage fanden Bolger und Peltenburg erst im Juni vergangenen Jahres, berichtet „bild der wissenschaft“: Die Figuren waren Grabbeigaben, und die Häuser waren kein Dorf und keine Siedlung, sondern höchstwahrscheinlich Werkstätten, in denen diese Beigaben hergestellt wurden.

Offenbar gab es also ab 3500 vor Christus auf Zypern eine regelrechte Bestattungsindustrie, interpretieren die Archäologen nun ihre Funde – eine Sensation, denn in dieser Epoche gab es zumindest nach bisherigem Wissen nirgendwo sonst einen derartigen Totenkult. Die berühmte Bestattungshochkultur der Ägypter etwa begann erst 1.000 Jahre später.

Auch die ungewöhnliche Größe der Bestattungsstätten glaubt Peltenburg nun erklären zu können: Es handelte sich seiner Ansicht nach um eine Art Heldenfriedhof, einen ganz besonderen Platz, auf dem Menschen begraben wurden, die ihren Angehörigen teuer waren. Wollten die Sippen also einen ihrer Verstorbenen besonders ehren, trugen sie ihn auf den heiligen Berg der Insel. Frauen wurden dort übrigens genauso häufig bestattet wie Männer, und alle Gräber waren mit kostbaren Beigaben ausgestattet. Die Beerdigung selbst folgte wahrscheinlich einem feierlichen Zeremoniell, mit einer langen Prozession von den Siedlungen aus entlang des Höhenrückens bis zum Totenhügel.

Warum ausgerechnet dieser Platz gewählt wurde und was die Menschen damals glaubten, kann man laut Diane Bolger „vielleicht erahnen, wenn man die Totenstille hier oben aushält“. Es herrsche häufig eine unwirkliche Ruhe, kein Vogel zwitschert, keine Zikade zirpt, selbst der Wind scheint den Atem anzuhalten, kurz: man fühlt sich der Gegenwart entrückt und dem Himmel ein Stück näher – und das ist schließlich ein guter Ausgangspunkt für die Reise ins Jenseits.

Waltraud Sperlich: „Zypern – die Toteninsel der Steinzeit“, bild der wissenschaft 2/2007, Seite 70 ddp/wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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