Wichtige Indizien liefert für solche Trends neuerdings auch ein bundesweites Meldesystem. Etwa 265 Gesundheitseinrichtungen erfassen Fälle von Neuerkrankungen und übermitteln diese an das Robert-Koch-Institut in Berlin (RKI). Arztpraxen, Gesundheitsämter und Fachambulanzen dienen dabei als eine Art Wachtposten, um den Ausbruch einer Geschlechtskrankheit rechtzeitig zu lokalisieren.
Jedes Jahr werden im Meldesystem rund 80.000 Untersuchungen von Patienten gezählt. Im Schnitt werden jährlich bei 760 von ihnen Chlamydien gefunden, 390 leiden an einer Gonorrhö und bei knapp 400 wird die Diagnose Syphilis gestellt. In einem Bericht des Robert-Koch-Institutes heißt es: „Die bisherigen Resultate weisen darauf hin, dass sexuell übertragbare Erkrankungen in Deutschland häufig vorkommen.“
Seit 2004 zeigt das RKI-Frühwarnsystem zudem in Aachen ein Ausbruch der Syphilis an. „Vorher trat die Krankheit dort nur sporadisch auf. Dann hatten wir in kurzer Zeit 150 Fälle in der Region“, berichtet Ulrich Marcus, Mediziner am Robert-Koch-Institut in Berlin. „Der Ausbruch begann auf dem Beschaffungsstrich bei drogengebrauchenden Prostituierten.“ Das Institut hat dem Aachener Gesundheitsamt geraten, die Betroffenen über Aufklärungskampagnen, durch Sozialarbeiter und Presseinformationen auf die Gefahr hinzuweisen. Ein durchschlagender Erfolg blieb bisher aus. Es werden weiter Neuerkrankungen gemeldet.
Generell nehmen die Geschlechtskrankheiten in den Großstädten, aber auch an den Landesgrenzen am stärksten zu. „In den Grenzgebieten zu Polen, der Slowakei und zu anderen Ländern begünstigt die angespannte wirtschaftliche Lage die Prostitution“, erklärt Klaus Jansen, Psychologe am Robert-Koch-Institut. Das wiederum beschleunigt die Ausbreitung der Infektionen. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung in diesen Landesteilen häufig äußerst dürftig ist. „Wenn Sie zweihundert Kilometer nach Stettin fahren müssen, um in die nächste Klinik zu kommen, ist das ein Problem“, veranschaulicht der Experte. In einem EU-Projekt wird deshalb nun auch für vier Grenzregionen zwischen neuen und alten EU-Mitgliedsstaaten ein Meldesystem aufgebaut.
„Eine Chlamydien-Infektion ist mit Abstand die häufigste Geschlechtskrankheit“, erklärt Jansen. „Sie verläuft aber in zwei Dritteln der Fälle ohne Symptome und bleibt deshalb leider oft unerkannt.“ Daher dürften die Zahlen im Meldesystem auch nur die Spitze des Eisberges zeigen.
In einer Untersuchung an Berliner Schulen wurden die Bakterien fast bei jedem zehnten Mädchen gefunden. Es wird vermutet, dass sich jährlich 300.000 Menschen hierzulande neu anstecken. Die Erreger können im schlimmsten Fall die Eileiter entzünden. Beim Abheilen entstehen wulstige Narben, die den Kanal unter Umständen so verengen, dass befruchtete Eizellen nicht mehr in die Gebärmutter gelangen. „Bei unerfülltem Kinderwunsch taucht in unserer Sprechstunde früher oder später immer die Frage nach Chlamydien auf“, sagt Hartmann. Die Hälfte der ungewollt kinderlosen Frauen ist durch eine langjährige Infektion unfruchtbar geworden.
RKI-Fachmann Jansen setzt auf Aufklärung: „Viele wissen gar nicht, dass Chlamydien, übrigens genauso wie Gonorrhö und Syphilis, Schmierinfektionen sind. Das heißt, ein Kondom alleine bietet keinen hundertprozentigen Schutz. Es kann schon beim Vorspiel passieren.“ Sollten an den Genitalien Symptome wie Jucken, Brennen oder Rötungen auftreten, muss sofort der Frauenarzt oder der Urologe aufgesucht werden.
Chlamydien, Syphilis und Gonorrhö lassen sich problemlos mit einem Antibiotikum bekämpfen. Andere Geschlechtskrankheiten wie Genitalherpes oder Warzenviren können jedoch in der Regel nur an den Symptomen kuriert werden. Die Viren überdauern zeitlebens im Körper. Ganz zu schweigen von den Folgen einer HIV-Infektion. „Deshalb ist es so wichtig, dass man sich vorher überlegt, was man macht“, mahnt Hartmann eindringlich und wiederholt einen ebenso wichtigen wie alten Rat: “ Safer Sex bietet den größten Schutz vor Geschlechtskrankheiten.“