Viele Amerikaner vermieden nach den Flugzeugattentaten des 11. Septembers 2001 Flugreisen und stiegen stattdessen aufs Auto um. Die Folge: mehr Tote im Straßenverkehr. Bis in den Sommer 2002 konnte Gigerenzer eine gegenüber dem langjährigen Durchschnitt um 1.000 Verkehrstote erhöhte Zahl aus den Statistiken herausfiltern. Sein Fazit lautet, dass die Attentate zwar nicht verhindert werden konnten, sehr wohl aber diesen indirekten zweiten Schlag der Terroristen, der auf einer falschen Risikoeinschätzung beruht.
„Nach einem solchen Ereignis regiert die Angst“, erklärt Gigerenzer, „da die wesentlichen Informationen der Bevölkerung nicht bekannt sind.“ Dass nämlich Fliegen weiterhin weniger riskant als Autofahren ist. Er spricht vom Risiko, ein Risiko zu reduzieren. Menschen lassen ihr Leben auf der Straße beim Versuch, das Risiko des Fliegens zu vermeiden.
Die Risikowahrnehmung hängt auch unmittelbar damit zusammen, wie die Menschen Wahrscheinlichkeitsaussagen interpretieren. Gigerenzer führt hier mit Vorliebe die Wetterberichte an. In den vergangenen Jahren haben sich Aussagen wie „Morgen regnet es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent“ etabliert. Doch die Menschen verstehen ganz unterschiedliche Dinge darunter: Die einen vermuten, am nächsten Tag regne es während 30 Prozent der Zeit. Andere denken, es werde auf 30 Prozent des Sendegebiets regnen.
Die dritte und richtige Möglichkeit lautet: In drei von zehn Fällen wird es an einem beliebig ausgewählten Ort im Sendegebiet zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe des morgigen Tages regnen. Das Missverständnis dabei ist, dass relative Wahrscheinlichkeitswerte ohne ihre Bezugsgröße angegeben werden. Den fehlenden Bezug sucht sich der Zuschauer oder der Hörer dann selbst, und das kann schiefgehen.
Nun ist das Risiko, nass zu werden, ohne große Folgen. Doch das Missverständnis hat Methode, so dass Gigerenzer dafür plädiert, die unspezifischen prozentualen Aussagen ganz über Bord zu werfen und immer absolute Häufigkeiten zu benennen. Verschreibt zum Beispiel ein Arzt einem Patienten ein Psychopharmakum, kann er als Nebenwirkung angeben, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent sexuelle Probleme auftreten können. Der Patient ist irritiert und bekommt Angst.
Gigerenzer weiß, wieso: Der Arzt bezieht die 30 Prozent auf die Gesamtheit der Patienten. Drei von zehn Patienten zeigen diese Nebenwirkungen. Sein Patient hingegen bezieht die Angaben auf sich selbst: In 30 Prozent seiner sexuellen Aktivitäten geht etwas schief. Die Angabe mit absoluten Häufigkeiten (drei von zehn) führt den Patienten zu einer realistischeren Risikowahrnehmung der Therapie: Es gibt eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit, dass keine Nebenwirkungen auftreten, nämlich bei sieben von zehn Patienten.
Da allein schon die Darstellung von Risikowahrscheinlichkeiten viele Missverständnisse aufkommen lassen kann, sieht Gigerenzer auch Ärzte und Journalisten in der Schuld, Risiken oder Wahrscheinlichkeiten verstehbar zu kommunizieren. Zum Beispiel ist er ein vehementer Kritiker des derzeit flächendeckend eingeführten Brustkrebsscreenings von Frauen. Die Früherkennung selbst ist sinnvoll, doch durch einen Mangel an Patientenaufklärung werde viel Leid erzeugt. „Eine Frau, um die 50 Jahre, die keine Brustkrebsfälle in der Familie hat, bekommt einen positiven Mammographie-Befund und ist natürlich zunächst verstört“, beschreibt Gigerenzer einen Fall.
„Ist das Leben nun vorbei?“, könnte sie sich fragen, angesichts der 17.000 Todesfälle durch Brustkrebs pro Jahr in Deutschland. Jede Broschüre führt diese Zahlen auf. Patienten erfahren darin von der Sicherheit der Methode, dass beispielsweise ein vorhandener Brustkrebs zu 90 Prozent erkannt wird. Zu kurz kommt häufig dagegen die Information, dass in neun von zehn Fällen die positiven Resultate dieser Erstdiagnose falsch sind, da sich viele vermeintliche Tumoren bei der genaueren Untersuchung als harmlos erweisen. Von der Möglichkeit dieser so genannten falsch-positiven Befunde erfahren Patienten kaum, sagt Gigerenzer. Die korrekte Darstellung der Risken müsse die Menschen in die Lage versetzen, informierte Entscheidungen zu treffen, fordert der Psychologe.