Die Antworten liefert ein Forschungszweig, der lange Zeit nicht wirklich ernst genommen worden wurde: die Epigenetik. Dieser Wissenschaftszweig untersucht nicht die Sequenz oder die Organisation der Gene, sondern wie, wann und warum sie ein- oder ausgeschaltet werden. Auch wenn die Epigenetik keine ganz neue Wissenschaft ist, kennen die Forscher deren Hauptdarsteller erst seit wenigen Jahren. Direkt am Geschehen, also an der Erbsubstanz DNA, sorgen kleine chemische Schaltergruppen für die Formatierung im Buch des Lebens: Sie können ganze genetische Kapitel so verändern, dass sie nicht mehr lesbar sind, sie können in anderen Kapiteln die Schriftgröße vergrößern und sie somit betonen, und sie können sogar neue Informationen erzeugen, indem sie auf entferntere Kapitel verweisen.
Welche Kapitel wie verändert werden, bestimmen die Histone, eine Gruppe von Eiweißmolekülen, die die DNA im Zellkern verpacken. Sie machen die Erbsubstanz erst für Enzyme und andere Proteine zugänglich. Eine ebenso wichtige Aufgabe kommt kurzen Verwandten der DNA zu, den so genannten kleinen RNAs. Sie haben eine Signalfunktion und können den Anbau von Schaltergruppen an die DNA veranlassen. „In einigen Organismen wurde gezeigt, dass solche kleinen RNAs ein neues ‚Immunsystem‘ darstellen und beispielsweise aus Viren stammende Gene, die als Parasiten in die Zelle eingedrungen sind, stilllegen können“, erklärt Professor Wolfgang Nellen von der Abteilung Genetik der Universität Kassel gegenüber ddp.
Während unseres Lebens ermöglichen epigenetische Veränderungen den Zellen, auf Umweltveränderungen und Einflüsse zu reagieren, ohne dass die DNA selber geändert werden muss. Allerdings ist diese Anpassung nicht immer von Vorteil für den Körper: Viele Krebsarten entstehen beispielsweise dadurch, dass die Gene für wichtige Reparaturenzyme oder Schutzmechanismen epigenetisch ausgeschaltet werden.
Laut Nellen werden epigenetische Veränderungen der DNA auch zunehmend für die Probleme verantwortlich gemacht, die bei der Stammzelltherapie und beim Klonen von höheren Tieren auftreten. So entwickelt sich beispielsweise ein großer Teil der geklonten Embryonen gar nicht, und nahezu alle überlebenden Tiere haben deutlich mehr schwere Krankheiten als ihre auf gewöhnlichem Weg gezeugten Artgenossen. Einer der Hauptgründe dafür ist wahrscheinlich eine „erwachsene“ epigenetische Programmierung des Erbguts, die eine normale Entwicklung der geklonten Tiere erschwert oder verhindert.
Professor Nellen beschreibt die Epigenetik als eine boomende Wissenschaft: „Das wird unter anderen durch die Einrichtung eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Schwerpunkprogramms im vergangenen Jahr deutlich, in dem Wissenschaftler zusammenarbeiten, die an unterschiedlichsten Organismen epigenetische Phänomene untersuchen.“ Neben der Humangenetik seien dabei besonders die grüne Gentechnik und verschiedene Modellorganismen wie die Taufliege Drosophila von Interesse. Auch das Treffen der Deutschen Gesellschaft für Genetik vom 26. bis 29. September in Kassel ist der Epigenetik gewidmet. Mitinitiator Nellen hofft, auf dieser Tagung möglichst viele Aspekte zusammenführen zu können.
Um die Gesamtheit aller epigenetischer Veränderungen in einem Organismus zu beschreiben, sprechen die Wissenschaftler bereits vom „epigenetischen Code“ ein Begriff, der an den berühmten genetischen Code erinnern soll. Die Entschlüsselung dieses Codes ist derzeit eine der größten Herausforderungen der Wissenschaft gleichzeitig steckt aber wohl in kaum einer anderen Forschungsrichtung so viel Potenzial.