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Debatte um Stammzellen: Deutschland Dammbruchland

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

Debatte um Stammzellen: Deutschland Dammbruchland
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Der Embryonenschutz wird gewahrt, erklärte am 30. Januar eine Mehrheit des Bundestages. Doch Polit-Strategen denken bereits weiter: Wieviele Parlamentsdebatten sind noch notwendig, bis auch in Deutschland an Embryonen geforscht werden darf?

Nach einer fünfstündigen kontroversen Debatte hat der Bundestag beschlossen, unter strengen Auflagen den Import von embryonalen Stammzellen zuzulassen. Es dürfen jedoch nur Zellen eingeführt werden, die bereits heute im Ausland existieren. Damit soll verhindert werden, dass Deutschland sich an der Herstellung von neuen embryonalen Zelllinien im Ausland beteiligt oder die Motivation zu ihrer Herstellung gibt. Der restriktive deutsche Embryonenschutz sei damit eingehalten, argumentieren die Abgeordneten: Kein weiterer Embryo wird für Forschungen in Deutschland sterben.

Die Kirchen und mit ihnen zahlreiche Abgeordnete sprachen indes von einem „Dammbruch“: Die Tür zu einer „verbrauchenden“ Forschung an Embryonen sei nun aufgestoßen, und es ist so gut wie unmöglich, sie wieder zu schließen. Was des einen Befürchtung, scheint jedoch des anderen Hoffnung: Der Bundeskanzler sprach offen aus, dass es gute Gründe für eine verbrauchende Embryonenforschung gibt. Er selbst würde jedoch unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nur für einen eingeschränkten Import stimmen. Er weiß, was er tut: Der Kanzler und sein Gehirn für Biopolitik, der parlamentarische Staatssekretär beim Forschungsministerium, Wolf-Michael Catenhusen, sind die Ingenieure des Dammbruchs.

Ein Dammbruch beschäftigt vor allem Verlierer, denn von ihnen könnte bald jede Spur fehlen: „y=x hoch 2“, die Formel der Parabel, erklärt der Historiker Immanuel Geiss, veranschaulicht symbolhaft die Expansion in Produktion, Wissen und Vernetzung – über jedes Hindernis hinweg und „bis vor kurzem als Fortschritt der Menschheit bejubelt“. Wachsendes Faktenwissen, Forschung rund um die Uhr und ein anschwellender Hunger der Wirtschaft nach Wissenschaftlern – in einer Phase einer sich selbst beschleunigenden Expansion lässt sich oft nur spekulieren, wann eine Sättigung einsetzt. Bisweilen könnte man meinen, dass Bäume in den Himmel wachsen. Ray Kurzweil, Fortschrittsguru und ehemaliger Berater des amerikanischen Präsidenten, hat schon vor Jahren – recht optimistisch aber analytisch präzise – den Mechanismus des sich parabelartig beschleunigenden Fortschritts auf die Stammzellforschung und die Lebensspanne des Menschen übertragen: Die durchschnittliche Lebenserwartung, so Kurzweil, nimmt jedes Jahr etwas zu. Der Betrag des Wachstums wird dabei immer größer. Bald schon wird die Lebenserwartung jedes Jahr um mehr als ein Jahr zunehmen. Ein entscheidender Motor dieser Entwicklung sei dabei die Stammzellforschung. Sie wird das Material stellen, mit dem sich der Mensch bei Bedarf verjüngt.

Ein Stammzelle ist per Definition eine jugendliche Zelle, die sich zu verschiedenen Zelllinien des Körpers weiterentwickeln kann. Mehr als zweihundert Zellarten gibt es im Körper, und es gilt, für jede Art einen nicht versiegenden Nachschub zu schaffen. Schwächelt das Herz, die Leber oder das Augenlicht, kann unproblematisch für Ersatz gesorgt werden. Die Hoffnung ist nicht unberechtigt: Die amerikanische Firma „Advanced Cell Technology“ (ACT) gab im Januar 2002 bekannt, dass sie Kühe geklont hat und aus den dabei entstandenen Embryonen erfolgreich Nieren züchten konnte. Zurück in die Tiere transplantiert funktionierten die neuen Organe über mehrere Monate hinweg, ohne dass sich Abstoßungsreaktionen bemerkbar machten. Die meisten Zelltypen besitzt jedoch das Gehirn. Es ist Sitz des Bewusstseins, von dem wir am allerwenigsten wollen, dass es altert. Allein die Vorstellung der Komplexität des Gehirns scheint indes Kurzweil Lügen zu strafen: Die komplexeste Struktur, die uns bekannt ist, besitzt gleichzeitig auch die am schwersten zu durchschauenden Alterungsprozesse. Bei unseren immer noch ungesicherten Kenntnissen über das Gehirn und das Bewusstsein – wie sollen Mediziner da in absehbarer Zeit das Altern bremsen? Doch gerade die Verjüngung des Gehirns ist eines der Lieblingsprojekte der Stammzellforscher. Auch der Bonner Forscher Oliver Brüstle, der mit seinem Antrag für Forschungen an embryonalen Stammzellen bei der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft die gegenwärtige Debatte losgetreten hat, arbeitet am Gehirn. Er folgt dabei in gewisser Weise dem Ruf der Zellen selbst: In den Labors haben sich in den vergangenen Jahren Tore zur Stammzellforschung am Nervensystem wie von selbst geöffnet und wiesen Wissenschaftlern den Weg. Das erste Tor sprang auf, als man eine grundlegende Eigenschaft von Stammzellen entdeckte: Trennt man im Reagenzglas die einzelnen Stammzellen voneinander, entwickeln sie sich von allein zu Nervenzellen. Die Entwicklung zur Nervenzelle scheint der natürliche Weg einer Stammzelle zu sein, von dem sie nur durch eine aktive Blockade abzubringen ist. Transplantiert man die Nervenzellen ins Gehirn, passen sie sich ihrer unmittelbaren Umgebung an. Bringt man sie etwa in die sogenannte Substantia Nigra des Nervensystems ein, entwickeln sie sich zu Zellen, die Parkinson-Kranke in dieser Hirnregion verlieren.

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Auch ein zweites Tor zur Stammzelltherapie des Gehirns steht einladend weit offen. Das Gehirn schützt sich vor Krankheitserregern vor allem mit der Blut-Hirnschranke. In Inneren des Gehirns ist die Körperabwehr dagegen weitgehend inaktiv und implantierte Zellen werden dort nicht abgestoßen. Patienten, denen mit einem Transplantat von Hirnzellen geholfen wird, müssen daher ihr Immunsystem nicht mit Medikamenten gezielt schwächen. Sogar Zellen aus Schweinen werden im Gehirn toleriert – eine Einladung, die bereits angenommen wurde. Allerdings entwickelt sich nicht jede Stammzelle in eine Nervenzelle. Im menschlichen Körper finden sich Stammzellen, die sich zu Blutkörperchen, Hautzellen, Lebergewebe, Knochen und mindestens zehn weiteren Gewebetypen weiterentwickeln. Eine klinisch vielversprechende Entwicklung zu Nervenzellen gelingt aber am besten mit Zellen sehr junger Embryonen. Menschlichen Embryonen, die getötet werden müssen. Das Parlament in Deutschland sieht in einem Embryo aber vor allem den werdenden Menschen. Diese Sicht solle den Rechten der Verfassung einen möglichst weiten Anwendungshorizont öffnen. Während in Deutschland aber der Schutz sofort nach der Verschmelzung von Eizelle und Spermium einsetzt, sind in England Embryonen erst ab dem vierzehnten Tag nach der Zeugung geschützt, in Israel sogar erst ab dem vierzigsten Tag. Für eine Stammzellforschung mit Embryonen reicht aber bereits der in England eingeräumte Freiraum aus.

Aber es gibt nicht nur Unterschiede zwischen Deutschland und anderen Ländern. Auch im Land selbst wird mit der Abtreibung eine dem Embryonenschutz diametral entgegengesetzte Praxis toleriert. Embryonen, aus denen Nervenzellen gewonnen werden, müssen sehr jung sein und sind aufgebaut wie ein kugelrunder hohler Zellhaufen (s. Bild). Forscher nennen die jungen Embryonen „Blastozysten“. Embryonen, die abgetrieben werden, sind älter und besitzen in der Regel schon ein Gehirn, das es ihnen ermöglicht, auf die Umwelt zu reagieren, mit den Händen zu greifen und mit den Beinen zu strampeln. Sie sind klar als menschliche Wesen erkennbar. Wer nach einer Abtreibung zufällig den Embryo zu Gesicht bekommt und die ärztliche Abtreibungspraxis nicht gewohnt ist, ist meist geschockt.

Kirchen sehen aber schon in einer Blastozyste den liebenswerten Menschen, der unter allen Umständen geschützt werden muss. Als Christ kann man jedoch auch anderer Ansicht sein und hinter dem kirchlichen Standpunkt eine Renaissance der Naturmythologie sehen: Die als „Mensch“ deklarierte Blastozyste hat keine eigene Geschichte und keinen Geist, sie hat niemals etwas gefragt, sich nicht gefreut und nie geliebt, da das Gehirn fehlt. Diesem Argument hält die Kirche entgegen, das die menschlichen Blastozyste gerade wegen seiner Unfertigkeit und Verletzlichkeit der Fürsorge bedarf. Blastozysten sind „kleine Menschen“ sagt etwa der Kölner Kardinal Meissner.

Doch auch dieses Argument besitzt seine Tücken: Wer in einem kugelförmigen Embryo bereits einen Menschen sieht, so könnte man fragen, weiß der etwa nicht, was einen „großen Menschen“ ausmacht und ihn von einer Blastozyste unterscheidet?

Wer sich mit ethischen Argumenten dem Problem der Würde der Blastozyste nähern will, wird feststellen, dass die bemühten Prinzipien einen hohen Freiheitsgrad besitzen. Schließlich gibt es gerade deswegen Ethik und nicht einfach Exegeten einer festen Lehre.

Trotzdem gelang es vor etwa zehn Jahren, in Deutschland ein striktes Embryonenschutzgesetz einzuführen. Es regelte den Umgang mit Embryonen bei der künstlichen Befruchtung. Anders als etwa in den USA dürfen in Deutschland keine überzähligen Embryonen entstehen, die anschließend entsorgt werden müssen. Patienten, Ärzte und Krankenkassen konnten sich mit dieser Regelung arrangieren. Über das mögliche wirtschafltiche Potenzial embryonaler Stammzellforschung sprach damals noch niemand. Das änderte sich schlagartig 1998, als John Gearhart von den Johns Hopkins Medical Institutions und James Thomson von der Universität Wisconsin Wege fanden, Stammzellen des Embryos im Reagenzglas zu vermehren. Die Forscher gründeten sofort Firmen, die die neuen Zellen weltweit vertrieben. Geldgeber erkannten schnell das Potenzial der Zellen, weshalb schon bald in fast allen westlichen Ländern mit embryonalen Stammzellen experimentiert wurde. In Deutschland reagierte der Bundestag im März 2000 mit der Einrichtung einer Enquete-Kommission. Sie sollte „vor dem Hintergrund eines erheblichen gesellschaftlichen und parlamentarischen Diskussionsbedarfes zu Fragen der Entwicklung und Anwendung der Biotechnologie und der modernen Medizin grundlegende und vorbereitende Arbeit für notwendige Entscheidungen des Deutschen Bundestages leisten.“ Schnell wurde deutlich, dass die Gegner der verbrauchenden ES-Forschung eine Mehrheit in der Kommission hatten. Ein Abschlussbericht der Kommission würde mithin Argumente enthalten, die eine Reformation des restriktiven Embryonenschutzes stützen.

Auf dem Schachfeld stoppt man einen angreifenden Bauern mit einem zweiten Bauern, muss sich der Bundeskanzler gedacht haben. Er und Wolf-Michael Catenhusen schufen als Gegengewicht den „Nationalen Ethikrat“, dem zwar die demokratische Legitimation des Parlaments fehlte, aber dafür mit namhaften Autoritäten besetzt wurde. Der neue Rat erfüllte seinen Zweck: Er demonstrierte, dass in Deutschland Regierungsgremien auch eine Lanze für die Embryonenforschung brechen können. Die Front der Ablehner bröckelte. Noch vor der Debatte im Bundestag hatte der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas das Ergebnis der Diskussion vorhergesehen. Allerdings gefiel ihm die Metapher vom „Dammbruch“ nicht. Er sah Deutschland vielmehr auf einer schiefen Ebene, in der nun alles ins Rutschen kam. Um im Bild zu bleiben: Wo sich in den 90er Jahren noch Flachland befand, war nun ein Berg gewachsen. Die Wachstumrate des Berges beschleunigt sich (y = x hoch 2) und Deutschland ist einfach zu groß, um sich in kleinen Nischen am Berghang einzurichten.

Andreas Wawrzinek
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