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Apoptose-Story: Die zelluläre Kunst des Sterbens

Erde|Umwelt

Apoptose-Story: Die zelluläre Kunst des Sterbens
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Sie hätten noch Schwimmhäute zwischen den Fingern, Ihr Gehirn wäre mit Zellen vollgestopft, Ihre Immunzellen würden die eigenen Körperzellen angreifen und vernichten und vor allem – Sie wären gar nie auf die Welt gekommen, gäbe es den programmierten Zelltod nicht: die Apoptose. „Ohne Apoptose kein Leben“, sagt Peter Krammer vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Das gilt gleich in mehrfacher Hinsicht: Erstens ist die Apoptose ein Prozess des Lebens, auch könnten sich höhere Organismen ohne das Selbstmordprogramm gar nicht entwickeln und schließlich würden selbst ausgewachsene Tiere ohne Apoptose an Krebs oder Autoimmunkrankheiten verenden.

Das zelluläre Sterben als solches ist nicht weiter bemerkenswert: In jedem Organismus gehen jede Sekunde zig Millionen von Zellen zu Grunde. Was der junge australische Doktorand John Kerr im Jahr 1962 unter seinem Mikroskop beobachtete, unterschied sich jedoch grundlegend von dem, was die Biologen bislang über das Sterben von Zellen zu wissen glaubten: Statt zu platzen, den Zellinhalt in die Umgebung auszugießen, eine Entzündung hervorzurufen und damit andere Zellen in Mitleidenschaft zu ziehen, schien bei den Zellen, die Kerr fasziniert studierte, ein feinsinniges Drama in sorgfältig inszenierten Akten abzulaufen, der mit dem stillen Selbstmord der Zelle endete. Das war kein Sterben im klassischen Sinne, eine so genannte Nekrose, abgeleitet vom griechischen Wort nekrosis für Tötung. Es musste sich um eine zweite Todesform handeln. Weil die Zellen auf den ersten mikroskopischen Blick nicht anschwollen und wie Luftballons platzten, sondern wie lange gelagerte Äpfel zusammenschrumpften, nannte Kerr die offensichtlich neue Art zu Sterben „Schrumpf-Nekrose“ – und ließ es dabei bewenden. Doch das eigenartige biologische Phänomen ließ den Forscher nicht mehr los. Drei Jahre nach seiner Entdeckung nahm sich Kerr – mittlerweile Pathologe an der Universität von Queensland in Brisbane – erneut der Schrumpf-Nekrose an. Diesmal betrachtete er den zellulären Tod mit Hilfe des Elektronenmikroskops, was ihm dazu verhalf, weitere überraschende Details des Zelldramas zu beobachten. Er sah beispielsweise, wie sich die lebensmüden Zellen von ihren Nachbarn lösten und wie sie, dem Inhalt eines Hexenkessels gleich, zu „brodeln“ begannen: Auf der glatten Membran der Zelle erscheinen zahlreiche Bläschen, die gleich wieder verschwanden, um sofort durch neue ersetzt zu werden. Bald darauf zerfiel die Zelle in viele kleine Bruchstücke, die schließlich im Nichts zu verschwinden schienen. Sollte die Zelle ein eingebautes Selbstmordprogramm haben? Noch einmal sieben Jahre vergingen, bis Kerr seine Beobachtungen zusammen mit Andrew Wyllie und Alastair Currie, zwei schottische Kollegen von der Universität Aberdeen, niederschrieb und im Jahr 1972 veröffentlichten. Die Wissenschaftler schilderten in ihrem Artikel die einzelnen, wie programmiert ablaufenden Schritte der zellulären Kunst des Sterbens und nannten die gesamte Abfolge „Apoptose“, abgeleitet von den griechischen Worten apo (weg,los) und ptosis (Senkung). „Wir dachten an Blätter“, erläutert Kerr die Namensgebung, „die sich im Herbst von den Bäumen lösen und zu Boden sinken“. Die Veröffentlichung gilt heute als bahnbrechend. Dennoch blieb sie ein weiteres Jahrzehnt nahezu unbeachtet – bis sich die Indizien häuften, dass es sich bei der Apoptose um mehr handeln könnte als um eine Zufallsbeobachtung der Grundlagenforschung von rein akademischem Wert. „Ohne Apoptose kein Leben“, bringt Peter Krammer vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, einer der weltweit führenden Apoptose-Forscher, die Bedeutung auf den Punkt. Ohne diesen physiologischen, den Zellen einprogrammierten Tod kann sich ein Organismus weder entwickeln, noch kann er am Leben und gesund bleiben. Denn die Apoptose spielt nicht nur, wie zuerst vermutet, während der Embryogenese eine zentrale Rolle – sie ist ein biologischer Basisprozess, der bis zum Lebensende von Mensch und Tier weitergeht. Auch bei Pflanzen haben die Wissenschaftler mittlerweile Selbstmordprogramme gefunden, die dem freiwillligen Ableben tierischer Zellen sehr ähneln. Das wohl bekannteste Beispiel für die Bedeutung der Apoptose bei der Entwicklung vielzelliger Lebewesen ist die Metamorphose der Kaulquappe zum Frosch: Der Schwanz der Kaulquappe wird mittels des physiologischen Zelltodprogrammes bauplangerecht eingeschmolzen.

Ein anderes eindrucksvolles Beispiel ist der Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Das etwa ein Millimeter kleine Würmchen ist ein Lieblingstier der Apoptoseforscher, weil sich an ihm besonders gut studieren lässt, nach welchen genetischen Befehlen und welchem Zeitplan die Zellen sterben. Während seiner Entwicklung bildet Caenorhabditis genau 1090 Zellen – exakt 131 seiner Körperzellen, die stets bestimmten Entwicklungslinien angehören, treten den vorherbestimmten apoptotischen Rückzug an, bis der Wurm ausgewachsen ist. Auch während der menschlichen Embryogenese findet Apoptose statt. Sie sorgt beispielweise dafür, dass sich die zunächst mit „Schwimmhäuten“ ausgestattete paddelförmige Handanlage in fünf wohlgestaltete Finger auftrennt. Mehr Zellen als notwendig entstehen auch beim Heranreifen des Nervensystems: Mehr als 70 Prozent der Neuroblasten sterben während bestimmter Phasen ab, in erster Linie solche, die sich nicht ordentlich mit ihren Zielzellen verkabelt haben. Im Dienste komplexer Strukturen leistet sich die Natur offenbar einen sehr verschwenderischen Umgang mit Zellen. Dies zeigt sich nicht nur am Beispiel des Nervensystems, sondern auch am Werdegang der Lymphoblasten zu funktionstüchtigen Zellen der körpereigenen Abwehr. Hier steht die Apoptose im Dienste eines lebenswichtigen Lernprozesses: Wenn Lymphoblasten – die künftigen sehr aggressiven B- oder T-Zellen des Imunsystems – heranreifen, muss ausgeschlossen werden, dass sich aufgrund einer Fehlentwicklung gegen körpereigene Strukturen richten. Noch bevor die Immunantwort eines jungen Lebewesens voll heranreift, müssen alle solch potentiell „autoagressiven“ Lymphoblasten sterben. Ihr apoptotischer Ausschluss erfolgt beim Menschen im Thymus, einem hinter dem Brustbein gelegenen Organ, etwa ab der zehnten Entwicklungswoche bis zur Geburt. Über 95 Prozent der im Thymus geprüften Zellen werden durch Apoptose ausgesondert, nur wenige verlassen das Organ und treten in die Dienste der körpereigenen Abwehr. Eine weitere unentbehrliche Aufgabe der Apoptose ist die Erhaltung des zellulären Gleichgewichts, der sogenannten zellulären Homeostase, zwischen alten und neuen Zellen im erwachsenen Organismus. Über fünf Billionen Zellen bilden schätzungsweise den menschlichen Körper. Manche dieser Zellen leben so lange wie der Organismus, dem sie angehören: Nervenzellen beispielsweise, oder Skelettmuskelzellen, Zellen in der Niere oder die Schweißdrüsen. Andere Zellen haben eine nur kurze Lebensdauer, weil sie sich schneller verbrauchen und durch neue ersetzt werden müssen: Zellen der Harnblase etwa existieren durchschnittlich 66 Tage, Hautzellen leben rund 20 Tage, die Zotten der Darmwand erneuern alle drei bis fünf Tage ihre Zellen, manche weiße Blutkörperchen überstehen nur wenige Minuten. Alle diese Zellen begehen nach Ablauf „ihrer Zeit“ vorhersehbar Selbstmord und machen Platz für Nachrücker. Auch im ausgewachsenen Körper sichert also der stete Tod von Zellen das Überleben. Seit Sie mit der Lektüre dieses Artikels begonnen haben, sind Ihnen Millionen von Zellen weggestorben. Dabei handelte sich nicht nur um gealterte oder verbrauchte Zellen – auch Zellen, die Ihrem Körper aufgrund schwerwiegender genetischer Defekte gefährlich werden könnten, werden durch Signale, die den programmierten Zelltod auslösen, in den Selbstmord getrieben.

Noch größere Aufmerksamkeit wurde dem eindrucksvollen biologischen Vorgang schließlich zuteil, als die Wissenschaftler entdeckten, dass die Apoptose, wie jedes andere Lebensprogramm auch fehlerhaft ablaufen kann – ein Programmfehler mit tragischen Konsequenzen.

Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von bild der wissenschaft, wie Ärzte und Forscher die Apoptose gegen Infarkte, Krebs und Alzheimer nutzen wollen. Claudia Eberhard-Metzger Internet-Links zum Text: 1. Was in der Zelle während der Apotose geschieht. 2. Krebs und Apoptose im Magazin „Einblick“ des Deutschen Krebsforschungszentrum 3. Das Experten-Forum Apotose online

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