Wo andere Sensoren, unabhängig davon, ob sie etwas erkennen oder nicht, ständig Strom benötigen, hält das neue Gerät eine strikte Nulldiät. Allerdings nur solange, bis ein „Ereignis“ eintritt; dann tritt der Sensor mit einer Sendeleistung, die millionenfach geringer ist als die eines Handys, in Aktion: „Den neuen Sensor kann man mit Münchhausen vergleichen, der sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf gezogen hat“, erklärt Projektleiter Wolf-Eckhart Bulst von der Technik-Abteilung bei Siemens. Bulsts Kreation ist nicht nur wartungsfrei, sondern auch mobil und vielseitig einsetzbar. Wenngleich sie dafür prädestiniert scheint, den Zustand von offenen oder geschlossenen Türen, Fenstern oder Schließfächern zu erfassen, beschränkt sich ihr Anwendungsspektrum nicht allein auf Sicherheitstechnik. Ihr Einsatz ist überall dort denkbar, wo es umständlich wäre, Anschlusskabel zu verlegen oder Batterien zu wechseln, etwa an bewegten Gegenständen, Personen, Tieren oder rotierenden Bauteilen wie Autoreifen.
Elektronische Kuhglocke Das Prinzip seines „Magic Sensor“ vergleicht der Physiker Bulst mit einer Kuhglocke: Die Glocke verwandelt Kauenergie der Kuh in Schall, den der Bauer hören und deuten kann. Wenn er seinen Kühen unterschiedliche Tonlagen zuordnet, kann er sie sogar einzeln identifizieren und den Aufenthaltsort und die Entfernung von jedem Tier abschätzen. Wenn sich mit den Temperaturen oder bei Regen die Tonlage der Glocken geringfügig ändert, kann das geübte Ohr Informationen über Temperatur und Feuchtigkeit vor Ort gewinnen. „Nichts anderes machen wir rein elektronisch. Unsere Glocke ist ein hochpräziser Sensor – wir könnten viele Milliarden Kühe unterscheiden“, so Bulst. Das Kernstück des bei Siemens entwickelten Sensors sind piezo- oder pyroelektrische Kristalle. Sie reagieren auf ruckartige Bewegungen, einen Schlag, Stoß oder Druck. Man findet sie auch in Alltagsgegenständen, etwa in Feuerzeugen: Die elektrische Spannung, die beim Druck auf einen Piezo-Kristall entsteht, erzeugt einen Funken, der die Gasflamme des Feuerzeugs zündet. Wird der piezoelektrische Kristall durch einen pyroelektrischen ersetzt, reichen bereits kleine Temperaturänderungen aus, um elektrischen Strom zu erzeugen. Bei jeder Temperatur-Änderung entsteht im Sensor eine Spannung, die zu einer Funkenstrecke – einem schmalen unterbrochenen Drahtstück – geleitet wird. Bei jedem dieser elektrischen Durchschläge entsteht ein hochfrequentes Signal, dessen Energie eingefangen und dem eigentlichen Messfühler zugeführt wird.
Der Messfühler prägt der Energiewelle sowohl seinen Identifikationscode als auch die Messinformation auf. Das so modulierte Signal wird über eine Antenne abgestrahlt und von einem Empfänger aufgefangen und ausgewertet. Der ganze Vorgang dauert nur ein paar Millionstel Sekunden. Jeder Sensor meldet sich also spontan mit seinem Code und übermittelt damit das Ereignis sowie eventuell gewünschte Messdaten. Bisher haben die Forscher mit einfachen Antennen Reichweiten von 20 Metern erzielt. Mit verbesserten Sensoren und Antennen sollen jedoch mehr als 100 Meter Reichweite möglich werden. Konkurrenz überrascht Bulst und sein Team, das aus etwa zwanzig Physikern, Elektro- und Hochfrequenztechnikern besteht, hatte 1997 die Idee der autarken Funksensoren. Mittlerweile haben sie mehrere Patentanmeldungen eingereicht.
Die Zeit drängt, die Konkurrenz schläft nicht. Weltweit forschen Wissenschaftler an Lösungen in Bereichen, in denen auch Bulst arbeitet. So auch in dem in Duisburg ansässigen Institut für mikroelektronische Schaltungen und Systeme (IMS) des Fraunhofer Instituts. Dort entwickeln Ingenieure Sensoren, die ihre Energie auf externem Weg beziehen. Gleichwohl handelt es sich bei diesen um sogenannte „passive Transponder“, bei denen die Energie von außen eingestrahlt wird: Der batterielose Chip erwacht durch Sendeenergie zum Leben. „Die Idee, dass man sich die Energie von irgendwo herholt, ist nichts Außergewöhnliches. Wir etwa nutzen bei Motoren die Rotationsbewegung der Kurbelwelle“, erklärt IMS-Mitarbeiter Gerd von Bögel.
Bereits vor zehn Jahren setzten die Fraunhofer-Ingenieure den passiven Transponder zur Temperaturmessung an Rindern ein. Zu diesem Zweck bestückten sie jede Kuh mit einem batterielosen Sensor-Chip, der hinter den Ohren der Tiere angebracht wurde. War ein Lesegerät in der Nähe, sog das Sensormodul die Energie aus dem elektromagnetischen Feld, das von dem Lesegerät abgestrahlt wurde: Das Gerät maß dann die Temperatur und sandte die Daten wieder zum Lesegerät zurück. „Dennoch“, gesteht Bögel, „ist die Idee, die Bewegungsenergie zu nutzen, sehr beachtlich.“
Prof. Anantha Chandrakasan vom MIT in Boston (USA) und sein Team arbeiten am amerikanischen Konkurrenz-Produkt eines autarken Sensors: „Das, was das deutsche Projekt macht, ist zwar nicht gänzlich neu, dafür aber sehr interessant.“ Jörg Hähniche von der Ifak Magdeburg, Experte für funkgestützte Kommunikation, kennt indes kein vergleichbares Gerät, das Bulsts Funksensor Konkurrenz machen könnte: „Bei Funkübertragung ist generell das Problem: Wie kriege ich die Energie zum Gerät hin? Gelingt es, die Energie drahtlos von woanders zu beziehen, ist dies wirklich innovativ. Dies ist bislang nicht gelungen.“ Bei alledem steht für Wolf-Eckhardt Bulst nicht der kommerzielle Aspekt im Vordergrund: „Das Innovative ist nicht unbedingt die Realisierung, sondern zunächst einmal der Gedanke, dass man Energie, die überall vorhanden ist, auch effizient nutzen kann. Die Welt um uns herum produziert ständig Ereignisse, die Energie erzeugen. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass im gesamten Umfeld der Menschen Milliarden dieser Sensoren wie dienstbare Geister im Verborgenen ruhen und bei Bedarf von selbst ihre Arbeit leisten.“