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Noten in Not

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Noten in Not
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Die Handschriften Johann Sebastian Bachs sollen vor dem Zerfall gerettet werden. Er gilt als größter Komponist aller Zeiten. Doch sein Nachlaß – fast 8000 Notenblätter, die in der Berliner Staatsbibliothek lagern – leidet an Tintenfraß. Mit einem trickreichen Verfahren wollen Experten die wertvollen Originale restaurieren.

Rund 300 Werke mit 7784 Notenblättern von Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750), des wohl größten Musikergenies aller Zeiten, lagern im Keller der Berliner Staatsbibliothek – rund 80 Prozent aller noch erhaltenen Handschriften des Meisters, darunter Brandenburgische Konzerte, Matthäus- und Johannespassion, Weihnachtsoratorium und viele Kantaten. Doch mit dem musikalischen Erbe haben die Bibliothekare viel Bekümmernis: Zwei Drittel des Bestandes sind vom Zerfall bedroht. Schuld ist die Tinte, die der Komponist benutzte. Sie enthielt Eisensulfat, Gallsäure und Gummi Arabicum, die sich Bach aus der Apotheke besorgte und selbst mischte. Ob Bach wußte, daß es sich bei dieser Mixtur um eine tickende Zeitbombe handelt? Schon 1687, zwei Jahre nach Bachs Geburt, stand in dem Lehrbuch “Die Kunst zu tuschen”: “So zu viel Vitriol (Eisensulfat) darunter, wird die Tinte gar leichtlich das Papier, worauf man mahlet, durchfressen.” Selbst wenn Bach das gelesen hat, es hat ihn wohl kaum gekümmert – schließlich rechnete er angesichts seiner bescheidenen Stellung als Leipziger Thomaskantor nicht damit, daß in ferner Zukunft, nämlich 1997, die zwölfseitige Kantate “Ach Gott, vom Himmel sieh darein (BWV 2)” für 1,3 Millionen Mark ins Archiv der Staatsbibliothek wandern würde. Was beim Tintenfraß genau im Papier passiert, ist einfache Chemie: Die Tinte setzt im Laufe der Zeit Schwefelsäure und Eisen-Ionen frei, die Messen und Motetten mürbe machen. Die Schwefelsäure spaltet die langkettigen Zellulose-Moleküle in kurzkettige Zucker-Moleküle – das Papier verliert seine mechanische Festigkeit. Am harmlosesten ist der Rost, der bei der Oxidation der Eisen-Ionen entsteht. Doch nicht alles Eisen rostet: Ein Teil der tückischen Eisen-Ionen löst die Oxidation der Zellulose an der Luft aus, das sich braun verfärbt und am Ende sogar sich selbst vernichtet. Die Ionen wirken als Katalysator, verbrauchen sich also nicht, und der Prozeß kommt nicht zum Stillstand. Das hat zur Folge, daß die Eisen-Ionen im Laufe der Jahrhunderte immer weiter aus den Notenlinien oder Notenköpfen ins Papier wandern und ihr zerstörerisches Werk entfalten. Die Uhr für Bachs Nachlaß zeigt fünf vor zwölf, warnen die Restauratoren, nachdem noch Mitte der neunziger Jahre das Problem heruntergespielt wurde. Um die am schwersten beschädigten Schriften zu retten – etwa ein Viertel des Bestandes -, haben sich die Restauratoren zu einem radikalen Schritt entschlossen: Dabei wird das vom Tintenfraß malträtierte Papier in der Mitte auseinandergerissen, ein dünnes Papier zur Stabilisierung eingelegt und wieder zusammengeklebt.

  • Zuerst wird Tiergelatine, die über Nacht aufgequollen wird, zum Kochen gebracht. In einer Anleimmaschine wird Trägerpapier mit der Gelatine beleimt und auf beide Seiten des Notenpapiers geklebt.
  • Das Papier wird zwischen folienbeschichtete Holzpappen gelegt, um die Feuchtigkeit im Papier zu halten. Dieses Sandwich kommt in eine hydraulische Presse und wird bei 80 Bar 10 bis 15 Minuten gepreßt.
  • Die Restauratoren setzen sich auf Hockern gegenüber und klemmen das Papier am überstehenden Trägerpapier zwischen die Knie. Dann ziehen sie von den Ecken her die beiden Trägerpapiere auseinander, wobei das Notenblatt im aufgeweichten Kern auseinanderfällt und Vorder- und Rückseite an den Trägerpapieren haften.
  • Das gespaltene Original wird innen mit Methylzellulose beleimt, dann wird hauchdünnes, säurebeständiges Japanpapier hineingelegt. In einer Presse wird das jetzt aus fünf Schichten bestehende Papiersandwich fünf Minuten lang bei 50 Bar verklebt.
  • Nach einem Tag im Trockenraum kommen die Blätter in große Netztaschen, die in ein Edelstahlgitter sortiert werden. Dieser Container wird nacheinander jeweils rund 20 Minuten in drei Bäder getaucht.
  • Die dampfenden Blätter werden zwischen Filz gelegt und kurz in einer Presse mit 80 Bar entfeuchtet. Dann werden beide Trägerpapiere abgezogen. Überstehendes Kernpapier wird abgeschnitten. Fertig.
  • Beim Papierspalten werde das Original zerstört, wenden Skeptiker ein, zu denen auch Robert Fuchs gehört. Dr. Antonius Jammers, Generaldirektor der Staatsbibliothek widerspricht: “Das Papier ist ja schon zerstört. Am Kölner Dom wird auch ständig gearbeitet, trotzdem bleibt es ein mittelalterlicher Bau.” Nach der Restauration können Musikwissenschaftler mit den Notenblättern arbeiten wie gewohnt: Wasserzeichen zur Datierung der Komposition bleiben sichtbar, ebenso Bachs Arbeitsweise, zum Beispiel die Abfolge der Tintenschichten bei der Korrektur mißlungener Passagen – Details, die auf der existierenden Mikrofiche-Ausgabe nicht zu sehen sind.
    Bernd Müller
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